Schweizer Reformierte im Jahr 2010

Das Jahr 2010 stand für die Reformierten der Schweiz im Zeichen von Übergang und Ernüchterung. Der Rat des Kirchenbunds, den die 25 Kantonalkirchen und die Methodisten bilden, wurde neu bestellt. Nach 12 Jahren gibt Thomas Wipf den Vorsitz des SEK-Rats ab; an seine Stelle tritt an Neujahr der Berner Gottfried Locher. Die Fragen zur „"Zukunft der Reformierten"“ gewannen mit der Studie von Jörg Stolz Brisanz. –- Ein unvollständiger Rückblick.

Nach Jahrzehnten der Individualisierung, Abkehr von Institutionen und landeskirchlichen Schrumpfung ist eine Wende nicht in Sicht. In der vom SEK in Auftrag gegebenen Studie stellen der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz und seine Mitautorin Edmée Ballif die Zustände illusionslos dar. Gesellschaftliche Megatrends wie religiöse Pluralisierung, Wertewandel und säkulare Konkurrenz wirken auf die Kirchen ein, stellen sie zunehmend im Kern in Frage. Die tiefe Geburtenrate der Reformierten seit über einer Generation fordert zum Handeln heraus.

Identität stärken
Im Buch werden die Reaktionen von einzelnen Kirchen besprochen, namentlich Massnahmen zur Stärkung von reformierter Identität, Mitgliedschaft, Pfarrberuf, Gottesdienst und Diakonie. Die Verfasser erörtern auch, wie der Kirchenbund sich entwickeln könnte. Sie empfehlen den Landeskirchen, „"vermehrt erfolgreiche Strategien aus anderen Gemeinden und Landeskirchen zu übernehmen"“ sowie "„kohärente Gesamtstrategien"“ zu entwickeln.

Dazu Beiträge leisten will das neugegründete Zentrum für Kirchenentwicklung der Universität Zürich. Seine erste Fachtagung suchte nach kirchlichen Perspektiven in urbanen Räumen -– angesichts des Mangels an Familien und familienfreundlichen Aktivitäten tatsächlich eines der brennenden Probleme.

Existentiell konfrontiert damit ist die Kirche in Basel-Stadt, die ohne Agglomeration auskommen muss. "Die Zeichen sind deutlich, dass mit dem Schwinden der letzten volkskirchlichen Selbstverständlichkeit die Unterstützung der Kirche durch die nicht-gemeinschaftsorientierten Kirchenglieder weiter schwindet", schreibt der Kirchenrat in einem Papier, das er im Herbst der Synode vorlegte. Er plädiert für ein neues Selbstverständnis als "volkskirchlich geprägte Mitgliederkirche".

Wahlkampf im Kirchenbund
Ähnlich viel mediale Aufmerksamkeit wie die Lausanner Studie fand der Wahlkampf um die Nachfolge von Thomas Wipf, der den SEK-Rat im Vollamt seit 1998 geleitet hatte. Mit den Stimmen der Romands gewann der reformatorische Theologe Gottfried Locher aus Bern im dritten Wahlgang gegen den liberalen Luzerner Kirchenratspräsidenten David A. Weiss, den kleinere Deutschschweizer Kirchen favorisiert hatten.

Thomas Wipf engagierte sich für den interreligiösen Dialog und –- als Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa -– für den kontinentalen Protestantismus. Er initiierte 2006 den Schweizerischen Rat der Religionen. 2010 erschien von der Evangelisch-Jüdischen Gesprächskommission die Erklärung "In gegenseitiger Achtung auf dem Weg".

Von Thomas Wipf zu Gottfried Locher
Unter Wipf hat der SEK mit den Mitgliedkirchen Positionen zu Taufe, Abendmahl und Ordination erarbeitet. Allerdings sind die Zahl der Taufen und der Gottesdienstbesuch weiter gesunken. Am Ende seiner Amtszeit bilanzierte der Ratspräsident, der Kirchenbund sei "mit seinen Beiträgen präsenter in der Öffentlichkeit". Menschen suchten nach Orientierung in ethischen Fragen.

"„Das reformierte Erbe"“, sagte Wipf der Reformierten Presse, "„passt in die heutige Zeit, nimmt den Menschen die Angst vor der Zukunft, auch wenn sie mit Risiken behaftet ist, und ermutigt sie zu selbständigem Denken".“ Die Kirche brauche es weiterhin „"als Ort der Gemeinschaft, des Erinnerns und Vergegenwärtigens des Glaubens und seiner Weitergabe"“.

"Unleserlich"“ sei das Profil der Kirche geworden, bedauerte hingegen der Nachfolger Gottfried Locher in einem vorweihnächtlichen Interview. Er bemängelte die Qualität vieler Gottesdienste. Die Kirche müsse "„klarer kirchlich reden"“ als in den letzten Jahrzehnten. Die Schärfung des Profils müsse im Gottesdienst erfolgen, betonte Locher; er sei "„der Kraftort des Christentums"“. In der Verkündigung, im Abendmahl und im gemeinsamen Gebet liege auch die Grundlage für das Engagement der Christen in Politik und Gesellschaft.

Kirchenbund oder Evangelische Kirche Schweiz?
Auf Locher und den auf weiteren vier Posten erneuerten SEK-Rat warten vielschichtige Herausforderungen, strukturell wie thematisch. Der Kirchenbund will seine Verfassung aus dem Jahr 1950 ganz revidieren. Er geht dies vorsichtig an, weil das Miteinander der sehr verschiedenen kantonalen Kirchen im SEK nicht leicht zu moderieren ist.

In alter Zusammensetzung hat der Rat den Bericht „"Für einen Kirchenbund in guter Verfassung"“ zu diesem Geschäft, in dem es um seine Identität geht, erstellt. "„Im Kontext von zunehmender Säkularisierung und Pluralisierung müssen die Kirchen ihre Strukturen neu überdenken"“, schreibt der Rat und wirbt für den SEK um zusätzliche Kompetenzen, „"durch welche die Mitgliedkirchen als Kirche profilierter repräsentiert sind"“ (S. 35, 37).

Gewünscht wird statt des Kirchenbunds eine „"evangelische Kirche in der Schweiz“". Zur Behauptung, der SEK werde von aussen als Kirche wahrgenommen, liefert der Bericht allerdings keine adäquate theologische Begründung für sein Kirche-Sein. Die Abgeordneten der Mitgliedkirchen haben im November die Behandlung des Berichts, der auf einen Grundsatzbeschluss für eine Totalrevision und die Einsetzung einer Projektgruppe zielt, auf 2011 verschoben.

Miteinander den Glauben aussagen
Können die Reformierten wieder klarer –- und miteinander -– sagen, was sie glauben? Das Werkbuch Bekenntnis einer Arbeitsgruppe um den Zürcher Theologen Matthias Krieg, durch einen Vorstoss mehrerer Landeskirchen 2009 auf die Traktandenliste des Kirchenbundes gesetzt, wurde in die Kirchgemeinden des Landes versandt. Mit einem Fragebogen will der SEK Anhaltspunkte für den (mehrheitsfähigen? demokratischen?) Umgang mit dem ebenso zentralen wie vernachlässigten Thema '‚Bekennen'‘ gewinnen.

Im 19. Jahrhundert hoben die Schweizer Landeskirchen den Bekenntniszwang auf und gingen zur Bekenntnisfreiheit über; diese hat laut dem Zürcher Kirchenratspräsidenten Ruedi Reich faktisch zur Bekenntnislosigkeit geführt. Die Arbeitsgruppe träumt davon, dass die Schweizer Reformierten beim Jubiläum 2019 (500 Jahre nach dem Amtsantritt Zwinglis am Grossmünster) im Gottesdienst gemeinsam ein Bekenntnis sprechen können.

An einer Tagung der Thurgauer Kirche Ende Oktober plädierte Gottfried Locher für eine Palette des Bekennens. Es stünde den Reformierten wohl an, eine Sammlung von Bekenntnissen zu haben und sich zudem wieder aufs Apostolikum als gemeinsamen Ausgangspunkt zu verpflichten.

Für die Palette, so Locher, könne man es drittens wagen, ein neues Bekenntnis zu formulieren und es in den Kirchen des Landes einige Jahrzehnte zu testen. Eine Sammlung von Bekenntnissen genüge aber nicht, um den Traditionsabbruch in der Reformierten Kirche anzugehen. Es brauche auch einen konkreten Bekenntnisakt der Christen. Die Kirche sei dazu gerufen, das Evangelium von Jesus Christus gemeinschaftlich zu leben und zu bezeugen.

Das grosse Fest der Evangelischen
Am 13. Juni fand im Stade de Suisse in Bern der Christustag mit 25'‘000 Teilnehmenden statt. Der Kirchenbund trug die Grossveranstaltung mit; eine reformierte Pfarrerin und mehrere Pfarrer sprachen zu den Versammelten. Programmleiter Hanspeter Nüesch bilanzierte ein wachsendes „"Bewusstsein, dass das Missionsfeld vor unserer Haustüre ist"“.

Der Christustag habe einen christlich-einladenden Lebensstil gefördert und Christen über den Röstigraben hinweg verbunden. Zu wirkungsvoller Werbung für den Anlass -– das einzige landesweite Fest evangelischer Christen -– hatten die Landeskirchen keine Lust gezeigt. Das Schweizer Fernsehen zog seine Reporter im Lauf des Vormittags ab, angeblich weil die Freilassung von Max Göldi sich abzeichnete…...

Krise in der Theologenausbildung
Delegationen des Berner und des Waadtländer Synodalrats trafen sich im Mai und besprachen unter anderem, wie dem zunehmenden Mangel an französischsprachigen Pfarrern gewehrt werden kann. An der Uni Lausanne steht evangelische Theologie im scharfen Gegenwind der Religionswissenschaften; in diesem Zusammenhang fand auch der Rücktritt von Shafique Keshavjee von seiner Professur in Genf ein starkes Echo.

Der Waadtländer Ökumeniker und Religionstheologe protestierte damit gegen die Nachgiebigkeit von Theologen, die akademisches Terrain halten, indem sie das Bekennende der Theologie preisgeben. In seinem neuen Buch „"Une théologie pour temps de crise"“ plädiert Keshavjee für eine akademische, bekennende, gesprächsfähige Theologie und Pluralität an den Fakultäten.

In der Deutschschweiz legt das Konkordat der Landeskirchen, dessen Ausbildungskommission vom Basler Kirchenratspräsidenten Lukas Kundert geleitet wird, Absolventen der STH Basel erneut grosse, spitze Steine in den Weg. Dass die Impulse bibelorientierter Theologie derart abgeblockt werden, obwohl gegen hundert Absolventen der privat finanzierten Schule in hiesigen Landeskirchen eine gute Arbeit tun, ist unverständlich und im Blick auf den fehlenden Theologen-Nachwuchs an den staatlichen theologischen Fakultäten –- im kommenden Jahrzehnten gehen grosse Jahrgänge in Pension -– unverantwortlich.

HEKS bleibt HEKS
Wer in der Zeitschrift des HEKS, des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz, oder in seinen aussereuropäischen Projekten Evangelium und Kirche sucht, wird kaum fündig: Das grosse Hilfswerk gibt sich in der Öffentlichkeit säkular. Doch blitzte die HEKS-Spitze mit dem Vorschlag, den Namen zu ändern (vorgeschlagen wurden ‚'Vitalibra‘' und '‚Respecta'‘), in einer breiten Vernehmlassung ab. Der Name HEKS wird daher beibehalten.

Abzuwarten bleibt, wie sich die zwischenkirchliche Hilfe in Osteuropa, die nach dem Weltkrieg am Anfang des HEKS stand, unter neuer Leitung entwickelt. An die Stelle von Andreas Hess, der im Herbst von der Universität Debrecen (Ostungarn) mit dem Ehrendoktortitel geehrt wurde, tritt Matthias Herren.

Nach dem Minarettverbot
Die reformierten Kirchenleitungen und der Kirchenbund hatten sich 2009 vergeblich gegen das Minarettverbot ausgesprochen. Die grossen Landeskirchen Bern und Zürich haben nach der Annahme der Initiative an ihrem auf Verständigung gerichteten Kurs festgehalten: Die grösste Landeskirche verankerte den Dialog der Religionen in der Kirchenordnung.

Der Zürcher Kirchenrat legte im Sommer ein 38-seitiges Positionspapier "„Kirche und Islam"“ vor. Danach soll der interreligiöse Dialog intensiviert werden, um den „"zunehmenden, gegenseitigen Ressentiments"“, der „"Entfremdung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen"“ zu wehren. Die hier lebenden Muslime könnten zwar nicht für die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern verantwortlich gemacht werden, doch sei mit ihnen "„offen über die Verfolgung von Christen in islamischen Ländern"“ zu sprechen.

"„Fast trotzige Überidentifikation"
Gemäss dem Kirchenrat „"werden Muslime in der überhitzten Islamdebatte nicht selten stigmatisiert und unter Generalverdacht gestellt. Dies verunsichert und verletzt insbesondere auch junge Muslime, deren religiöse Identität noch nicht gefestigt ist.

Durch den Druck, sich stets erklären und verteidigen zu müssen, sind sie gezwungen, sich näher mit dem Islam auseinanderzusetzen".“ Nicht selten führe dies zu einer "„fast trotzigen Überidentifikation mit der islamischen Tradition“". Statt von Islamisierung redet die Zürcher Kirchenleitung von einer "„verstärkten Hinwendung zu traditionalistischen Formen der religiösen Praxis bei gleichzeitiger Nutzung modernster Kommunikationsmittel"“.

"Wahrheit des Evangeliums"“ im Dialog
In einem kurzen Absatz hält der Kirchenrat fest, „"dass wir als Christen auch Muslimen gegenüber die Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus bezeugen“". Beim Bekennen des Glaubens müsse berücksichtigt werden, „"dass all unser Denken und Glauben seine Grenzen hat"“ (mit dem Stückwerk-Zitat aus 1. Korinther 13).

Insgesamt geht es der Kirchenleitung vorrangig um ein Gespräch, das „"Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Religionen"“ sucht und benennt und die „"innere Bezogenheit"“ von Judentum, Christentum und Islam bedenkt.

Was die Beziehungen einzelner reformierter Vertreter zur ‚'Vereinigung Islamischer Organisationen in Zürich'‘ VIOZ fruchten, wenn in einer von ihr mitverantworteten Veranstaltung Tariq Ramadan und Ferid Heider auftreten, ist schwer abzuschätzen. Heider, aus Berlin angereist, idealisierte im Dezember an einem islamischen Jugendtag in Dietikon die Gründerzeit. Die «beste Generation der Menschheit» habe Mohammed ausgebildet...…

Sozialdiakone gesucht
In der Diakonieszene hat sich 2010 einiges bewegt: Der Diakonieverband Schweiz, in dem diakonische Werke und Kirchen vertreten waren, löste sich nach 80 Jahren auf. Das Diakonenhaus Greifensee bietet keine Ausbildungen mehr an. An qualifizierten Jugendarbeitern besteht bereits ein gravierender Mangel, an dem die Landeskirchen nicht unschuldig sind. Sie setzten am Ende des letzten Jahrhunderts auf die säkularen Fachhochschulen, welche SozialarbeiterInnen theologielos ausbilden.

Über den Umfang der neuerdings geforderten (oder erwarteten) kirchlich-theologischen Zusatzausbildung sind die Landeskirchen uneins; mehrere von ihnen sind daran, Sozialdiakonie selbst zu definieren.

In der Deutschschweiz bietet derzeit allein das Theologisch-Diakonische Seminar TDS Aarau einen Lehrgang mit sozialfachlichen und kirchlich-theologischen Qualifikationen an. Das TDS, das 2010 sein 50-jähriges Bestehen feierte, bemüht sich um Anerkennung für seine Ausbildung auf dem Niveau der höheren Fachschulen.

Mittlerweile suchen die Landeskirchen, mit Billigung anderer Organisationen im Sozialwesen eine Ausbildung mit animatorischem Profil auf diesem Niveau zu konzipieren, mit einem Berufstitel, der vom Bund anerkannt wird. Eine von den Landeskirchen sowie CURAVIVA eingesetzte Arbeitsgruppe erarbeitet mit Einbezug vieler anderer Organisationen aus dem Sozialbereich einen Rahmenlehrplan.

Spare, wer muss…...
Der Zürcher Kirchenratspräsident Ruedi Reich ist wegen einer schweren Krankheit auf Ende Jahr zurückgetreten. Im Dezember wurde der dreibändige Kommentar zur Zürcher Bibel vorgestellt, für die sich Reich besonders eingesetzt hat.

Die Kirche Zwinglis erhält weniger Beiträge vom Staat, entsprechend dem Bevölkerungsanteil der Reformierten, der noch 35% beträgt und weiter sinkt. Doch dem Sparkurs des Kirchenrats, der diesen Realitäten Rechnung zu tragen versucht, mochte die Synode nicht folgen. Sie verschob im November die im Sommer verordneten Lohnkürzungen, die neben den PfarrerInnen auch Angestellte in den ärmeren Gemeinden betroffen hätten, auf 2012.

Mit seinem Protest hatte der Pfarrverein Anfang Jahr die Einstufung der Spezialpfarrer mit den Gemeindepfarrern (Wohnpflicht ab 50%-Pensum) in dieselbe Lohnklasse erwirkt; der Kirchenrat hatte die Gemeindeseelsorger angesichts ihres ganzheitlichen Einsatzes besser entlöhnen wollen (ihnen bleibt eine zusätzliche Woche Ferien).

Eine gute Fahrstunde von der Limmatstadt entfernt bemüht sich die reformierte Kirche im Kanton Neuenburg, ihren Betrieb bei dramatischen schwindenden Finanzen aufrechtzuerhalten. Weil der Tabakkonzern Philip Morris auf den bisherigen stattlichen Beitrag verzichtete, stand die seit langem gebeutelte Kirche im Advent mit abgesägten Hosen da.

Im Jurakanton ist die Kirche vom Staat getrennt; sie finanziert sich durch freiwillige Beiträge. Landesweit unterstützen die Kantonalkirchen einander begrenzt; von einem Finanzausgleich, wie ihn die Eidgenossenschaft kennt, ist nicht die Rede.