Sind wir unterwegs zur post-säkularen Gesellschaft?

LKF: Was geschieht nach Ihrer Beobachtung in unserer Gesellschaft durch die Säkularisierung? Soziologen konstatieren immer weniger Religiosität.
Ingolf U. Dalferth:
Wir leben in einem kulturellen Umfeld, das sich rasant verändert. Was wir als Säkularisierung erleben und ansprechen, findet in allen möglichen Formen fortwährend statt, in unserer Umgebung und bei uns selbst. Dabei wird allerdings der Wechsel von einer säkularen zu einer post-säkularen Gesellschaft und Kultur meist falsch verstanden.

Wie meinen Sie das?
Post-säkular wird häufig eine gesellschaftliche Situation genannt, in der man wieder öffentlich religiös sein kann. Aber unsere Gegenwart ist das nicht in dem Sinn, dass man das Problem der Säkularisierung hinter sich gelassen hätte. Der klassischen Säkularisierungsthese der Religionssoziologen – dass einst alle religiös waren und dass diese früheren Orientierungen und Bindungen sich in der säkularen Kultur fortschreitend auflösen – wird ja heute entgegengesetzt, dass Religion neu auflebt, in die Öffentlichkeit kommt und die Menschen bewegt. Manchmal heisst es sogar, dass in der post-säkularen Gesellschaft das Religiös-Sein geradezu wieder erwünscht ist, weil es Werte und Einstellungen erzeugt, die das Gemeinwesen braucht.

Solange wir uns säkular nennen, grenzen wir uns aber vom Religiösen ab, und deshalb ist wirklich post-säkular eine Situation erst dann, wenn sich ihre Protagonisten nicht mehr über die Polarität religiös-säkular definieren. Vielleicht sind wir in einem gewissen Sinn unterwegs in eine solche Post-Säkularität. Nicht in der Schweiz, aber in Teilen Mittel- und Osteuropas. Und politisch vielleicht auch in der Verfassung der Europäischen Union.

Woran liesse sich denn echte Post-Säkularität ablesen?
Solange wir sagen, dass wir eine säkulare Gesellschaft sind, steht ‚säkular‘ im Gegensatz zu ‚religiös‘. Rede ich von ‚säkular‘, führe ich diesen Kontrast immer mit. Post-säkular sind wir dann, wenn der ganze Gegensatz sich auflöst, wenn diese Leitdifferenz des Säkularisierungsmodells verschwindet, mit der moderne Gemeinwesen, weil sie säkular sein wollen, sich gegen Religion und Kirche glauben abgrenzen zu müssen.

Aktuell wird mit Verweis auf Säkularität verneint, dass Werte und Normen in einem transzendenten Grund verankert werden müssen.
Wenn aber der Gegensatz sich auflöst, kann Religion etwas werden, das die einen machen und andere nicht machen, etwas, das – ähnlich wie Sport – zum Alltag vieler gehört, ohne im Pro und Contra den Charakter einer Gesellschaft geradezu zu definieren. Religion verliert dann ihre Sonderstellung in der Kultur, ist ein Bereich neben anderen. Das ist eine potentiell noch viel extremere Entwicklung als der aktuelle Zustand, in dem wir die religiöse Vergangenheit der säkularen Gegenwart gegenüberstellen.

Wird Religion so gleich-gültig?
So ist es. Hier geschieht die zentrale Veränderung. Heute ist unser Hauptproblem die Gleichgültigkeit gegenüber dem ganzen Feld Religion. Nicht der neue Atheismus, sondern diese Gleichgültigkeit ist die eigentliche Herausforderung der Theologie. Wer gleichgültig ist, sagt nichts mehr gegen Kirche oder Religion – man ist manchmal interessiert, meist desinteressiert, findet es kurios oder ärgerlich und betrachtet es als irgendwie noch vorhandenes Phänomen ohne besondere Bedeutung.

Medien bewirtschaften Irritationen – Religion an sich ist in ihnen selten ein Thema.
Wenn ein Geschehen nur mit seinem politischen Aufhänger gebracht wird, zeigt das, wo wir stehen: Man hat sich die Enthaltsamkeit, über Religion inhaltlich etwas zu sagen, inzwischen nicht nur in der Politik, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs so zu eigen gemacht, dass man den Kern nicht mehr anspricht. Man kann aus politischen oder moralischen Gründen für oder gegen eine religiöse Haltung oder Ansicht sein. Aber wir führen kaum noch eine öffentliche Diskussion mit inhaltlichen Kriterien über das, was eine religiöse Position oder Praxis einer anderen gegenüber voraus hat. Uns fehlen die Kriterien, zwischen besseren und schlechteren religiösen Überzeugungen zu unterscheiden, weil wir meinen, uns da nicht einmischen zu dürfen oder zu sollen. Aber religiöse Überzeugungen sind nicht immun gegenüber Kritik oder sollten es jedenfalls nicht sein. Und nicht nur deshalb, weil sie moralisch, rechtlich oder politisch problematische Folgen haben.

Hier sind Philosophie und Theologie gefordert. Aufgrund der Entwicklung der letzten 200 Jahre bin ich überzeugt: Die Theologie verliert, wenn sie nur oder vor allem auf das Religionsthema setzt. Das löst bei einer wachsenden Zahl von Menschen kein Echo mehr aus. Das Thema, an dem die Theologie sich wirklich ausrichten muss, das Thema, mit dem sie auch viel weiterkommt, ist Gott. Agiert sie unter dem Stichwort Religion, ist sie gebunden an die abflachende Kurve derer, die sich für Religion interessieren. Das Thema Gott aber kann man auch in ganz anderen Bereichen zur Geltung bringen, zum Beispiel im Gespräch mit der Physik, der Astronomie und anderen Naturwissenschaften. Religion hingegen ist ein Thema der Kulturwissenschaften. In dem Mass, wie Theologie auf das Religionsthema setzt, nimmt sie sich auf einen kulturwissenschaftlichen Bereich zurück und überlässt viele andere Bereiche unserer Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft sich selbst.

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