Spiritualität statt Religion?
LKF: In den letzten Jahrzehnten haben wir den Umbruch zur Spätmoderne erlebt. Ist es dadurch schwieriger geworden, Gott zu denken und von ihm zu reden?
Ingolf U. Dalferth: Schwieriger nicht, weil das immer schon schwierig war, aber gewisse Selbstverständlichkeiten sind nicht mehr allgemein verfügbar. Wir leben in einer Zeit, in der man aus bestimmten Gründen – die weniger mit der Gottesfrage und mehr mit dem Verständnis der Kirche und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu tun haben – die Verbindung von Theologie und Kirche als Einseitigkeit, als Abhängigkeit oder gar als Behinderung theologischer Arbeit sieht.
Dazu kommt, dass man Spiritualität als etwas versteht, das der kirchlich geregelten Religionspraxis gegenüber freier operiert. Spiritualität ist individueller und sucht sich selbst ihre Themen und Beziehungen, ist in dem Masse nicht institutionell bedingt und beschränkt.
Spiritualität, mit der sich der Mensch selbst entfaltet.
Wir haben diese Entwicklung auch innerhalb des Christentums: Man sucht sich selbst die Traditionen, Bezugsfelder, die Denk- und Lebens- und Praxisfiguren, in denen man seine religiösen Bedürfnisse (wie es dann heisst) ausleben kann. Religion ist als westliche Kategorie vielen verdächtig geworden.
Wie ist es dazu gekommen?
Seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert haben sich ‚Religion‘ und ‚Religiosität’ gegenüber der Orthodoxie, dem herkömmlichen Denken und Leben des Glaubens, als die sozusagen individuelleren Formen des christlichen Lebens herausgebildet. Wegweisend war Friedrich Schleiermacher mit seinem Werk „Über die Religion“ 1799. Damals stellte die Theologie von der Konzentration auf Gott auf das Religionsthema als Leitproblem um.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben wir aber eine wachsende Debatte darüber, dass Religion eine typisch westliche Kategorie ist, die man in vielen Kulturen gar nicht sinnvoll anwenden kann und die in mancher Hinsicht den Blick auf das verstellt, was in einer Kultur geschieht. Konfuzianer praktizieren keine Religion, sondern eine philosophische Lebensform. Der Konfuzianismus ist keine Religion im westlichen Sinn. In einigen Versionen des Buddhismus ist es ähnlich. Aus gutem Grund will auch die Religionswissenschaft vermehrt gar nicht mehr von Religion sprechen, sondern versteht sich als Kulturwissenschaft.
Sollte Religion als bloss ‚westliche‘ Kategorie ausgedient haben?
Die Kategorie Religion hat keine analytische Schärfe mehr. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten wir eine Gott-orientierte Theologie, im 19. Jahrhundert und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts gab es eine Umstellung vom Zentralthema Gott aufs Zentralthema Religion. Das war nie die einzige theologische Richtung; denken Sie an Karl Barth oder die hermeneutische Theologie. Doch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist die Zentralkategorie Religion gewissermassen zerfleddert und zerfallen, auch wenn man sie gerade von Seiten der Theologie immer wieder zu reanimieren sucht. Bestimmend sind nun andere Begriffe – Spiritualität ist einer von ihnen.
Der Begriff von Spiritualität, der sich vom alten abendländischen unterscheidet, wurde in den USA geprägt. Was bringt er zum Ausdruck?
In einer sich globalisierenden Welt sind die wechselseitigen Einflüsse massiv und markant. Es gibt viele Spiritualitätskonzepte, aber immer wieder zeigen sich zwei Züge: eine Absetzung von institutionalisierter Religion und Kirche und eine Betonung des Individuellen, Expressiven und Experimentellen. Nicht dass Spiritualität nicht gemeinschaftlich gelebt werden könnte – aber es muss das Richtige für mich sein, meinen Erfahrungen entsprechen, mir Raum zum Ausdruck meiner selbst geben. Meine Erfahrung wird da sozusagen zum Resonanzboden für alles Ernsthafte und Ernstzunehmende.
Das erfahrungsbetonte Erleben von Religion und Religiosität im Gefolge Schleiermachers oder Rudolf Ottos verschiebt sich also noch weiter: Wie ich in meiner Zürcher Antrittsvorlesung 1995 skizzierte, bastelt man sich im Zuge der neuen Spiritualität das zusammen, was man sich unter Gott vorstellt. Was einem – aus welchen Gründen auch immer – nicht zusagt, ignoriert man, und was einem – aus welchen Gründen auch immer – gefällt, praktiziert man. Natürlich ändert sich sehr schnell, was das ist. Und dann lässt man es bleiben, oder schaut sich nach Neuem um. Cafeteria-Religion wurde das genannt…
…religiöses Basteln, Bricolage.
So finden wir uns jetzt – das ist die grosse Geschichte der Säkularisierung, die Charles Taylor kürzlich auch wieder erzählt hat – seit Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Kultur der Expressivität und Authentizität, in der jeder, sein Innerstes nach aussen kehrend, sein Selbst zur Geltung bringen will. Religion und Spiritualität sind eine Weise, dies zu tun, ein quasireligiös missionierender Atheismus oder eine desinteressierte Gleichgültigkeit allem Religiösen gegenüber sind eine andere. Aber es ist das Selbst, das bestimmt, was zum Ausdruck zu bringen ist und wie.
Wenn man es überhaupt noch zum Ausdruck bringt. Man hört ja auch, ‚Glaube‘ sei etwas so überaus Intimes, Innerliches, dass es nicht in die Öffentlichkeit gehöre…
…und eben das hat damit zu tun, dass uns die Form, in der sich Glaube selbstverständlich ausdrücken liess, abhanden gekommen ist oder zerfällt. Für diese Expressivität haben wir keine gemeinsame Sprache mehr. Deshalb schafft sich jeder seinen eigenen Ausdruckszusammenhang und bastelt etwas, um das Seine – wenn überhaupt – zum Ausdruck zu bringen.
Und jene, die einen verbindlichen Zusammenhang herzustellen und geltend zu machen suchen, gelten bald als dogmatisch.
Auch das hat mit dem Verlust der gemeinsamen Sprache zu tun. Um auf die Eingangsfrage zum Reden über Gott zurückzukommen: Nicht das Reden von Gott ist das Problem, sondern dass jeder es mit einem anderen Gehalt füllt. Es ist kein gemeinsames, verbindendes Reden da. Jene, die es versuchen und einfordern, werden des Dogmatismus verdächtigt. Oft ohne guten Grund, denn das, wovon man, wie es schablonenhaft heisst, wegkommen und sich befreien müsste, gibt es seit langem nicht mehr. Wir haben noch immer eine Tendenz, die Situation in Gegensätzen zu beschreiben, die aus dem späten 19. Jahrhundert stammen. Doch die Kontraste zwischen orthodox und pietistisch, liberal und positiv funktionieren im 21. Jahrhundert eigentlich nicht mehr. Wenn wir mit diesen Unterscheidungen die heutige Situation beschreiben, blicken wir zurück und sehen nicht, was sich geändert hat, weil wir mit dem Rücken zur Zukunft denken.
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