Gemeinde-Erneuerung unter der Lupe
"Wissen wir, warum die eine Gemeinde blüht und die andere welkt? Wissen wir, welche Sozialgestalt des Glaubens Menschen in der Gegenwartsgesellschaft entspricht?" Die Fragen stellte Prof. Ralph Kunz an der dritten Tagung des Forschungsinstituts Gemeinde Schweiz (FIGS) am 8. Mai in Hunzenschwil bei Aarau. Es wurde deutlich: Christliche Gemeinden können sich auf viele Weisen erneuern. Beziehungen, Sendungsbewusstsein durch Verkündigung und glaubwürdige Leiter sind zentrale Faktoren.
Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich, redete einer Gemeindeforschung das Wort, die nicht voraussetzt, was Gemeinde ist, sondern "ohne Scheuklappen über konfessionelle und denominationelle Grenzen hinweg nach möglichen Formen gelebten Glaubens fragt".
Ständig in Bewegung, ohne Ziel
Ohne seine Sympathie für missionale Ansätze zu verheimlichen, stellte sie Kunz doch auch in Frage. "Der Glaube ist eine Kraft, die nach neuen Formen sucht und sie auch findet. Gemeinden entstehen, wenn Menschen ihre Sehnsucht nach Gott mit anderen teilen". Die eigenen kulturellen Vorstellungen von Gemeinde dürften nicht massgebend sein, doch handle auch vermessen, wer alles neu erfinden wolle".
Im Blick auf Freikirchen und die eben angestossene Zukunftsdebatte der Reformierten meinte Kunz knapp: "Wir sitzen im selben Boot". Gemeindeforscher hätten die "soziologische Durchschnittslähmung" zu überwinden und wegzukommen "von grössenwahnsinnigen Weltevangelisationsphantasien auf der einen, einem Selbstverkleinerungskomplex auf der anderen Seite". Die Postmoderne sei widersprüchlich und unberechenbar; "und niemand sagt, wos lang geht". Dies führt zur Frage: "Wo ist die Gemeinde in einer Gesellschaft, in der die meisten ständig in Bewegung sind und doch nicht recht vom Fleck kommen"?
Würzigen Tee, bitte!
In der individualistisch ausgerichteten Gesellschaft gilt verbindliches Leben in Gemeinschaft als Zumutung. Diese Zumutung präsentieren indes die meisten Gemeinden so, so Kunz mit einem Vergleich, wie Spitäler Pfefferminztee servieren: lauwarm und ungezuckert. Dabei wollten heute manche heissen, würzigen Tee. Daher die Frage: "Muss man Gemeinden stilecht machen? Soll man stärker auf Erlebnismilieus eingehen? Müssen wir uns cooler geben? Coca-Cola-Gemeinden gründen"?
Nicht nur ein Erfolgsmodell
Aus der Dynamik dreier reformierter Gemeinden leitet Ralph Kunz ab, dass nicht nur eine ausstrahlende Mitarbeitergemeinde mit kreativer, starker Führung wie die Basler Gellertkirche (konzentrische Struktur) wachsen kann. Auch eine Gemeinde ohne starke Mitte, aber mit vielen Anschlussstellen wie Pfäffikon ZH könne sich gut entwickeln (polyzentrische Struktur). Ebenso eine 'exzentrische' Gemeinde, die "von innen nach aussen dynamisch is"t und "Menschen mit in die Sendung nimmt", eine Gemeinde, die "niemanden ausschliesst oder bewusst diejenigen sucht, die ausgeschlossen werden". Dies kennzeichnet laut Kunz die Mitenandgemeinde in der Kleinbasler Matthäuskirche, wo sich sonntags Menschen aus 30 Nationen versammeln.
Angesichts dieser Vielfalt hat sich die Gemeindeforschung, so Kunz, mit Wertungen zurückzuhalten. Und: Reinformen sollten nicht überhöht werden. "Gemeinde pflanzen - Ja, mutig mit neuen Formen experimentieren - Ja; aber bitte keine neuen alleinseligmachende Kirchen". Gemeindetheologie und Gemeindeforschung müssten verbunden werden. Der Uni-Professor forderte dazu auf, Wachstum nicht bloss in Zahlen, sondern auch qualitativ zu fassen: "Wonach suchen wir, wenn wir nach gelingenden gemeinschaftlichen Leben suchen"?
"Erneuerte Beziehungskultur"
Was macht eine Gemeinde einladend? Thomas Härry, Pfarrer der Aarauer Minoritätsgemeinde, befasste sich mit dem Miteinander der Christen und der Rolle von Leitern im Veränderungsprozess. Nachhaltige Veränderung gibt es nicht ohne eine "solide biblische Verkündigung, durch die Menschen absichtsvoll zu Gottes Zielsetzungen hin geführt werden". Verkündigung sei "das wichtigste Führungsinstrument eines Pastors", zitierte Härry den US-Theologen Vic Gordon. Insgesamt, unterstrich der Referent, kommt Kultur vor Programm. Will eine Gemeinde sich wandeln, muss sie bei den Beziehungen beginnen, nicht mit besseren Veranstaltungen.
Junge, postmodern geprägte Menschen sind viel eher bereit, so die Erfahrung in Aarau, in einer Gemeinde mitzutun, wenn sie "ermutigende Beziehungen" erleben. Auf ein von Vergebung, Annahme und Wertschätzung geprägtes Klima drangen schon die Verfasser der neutestamentlichen Briefe. Wo dieses fehle, werde in Zukunft kaum lebendige Kirche zu bauen sein, bemerkte Härry. Allerdings "werden Glaubende nicht durch eigenes Verhaltenstraining zu geistlich erneuerten Menschen, sondern durch das von aussen kommende Handeln Gottes im Kern ihrer Persönlichkeit". Leiter hätten den Zusammenhang zwischen missionarischer Ausstrahlung und der internen Beziehungskultur aufzuzeigen - und bei sich selbst zu beginnen.
Erneuerung konkret
Studenten des Instituts für Gemeindebau und Weltmission IGW in Zürich haben in Zusammenarbeit mit FIGS Veränderungsprozesse in sieben Gemeinden empirisch untersucht. Am Forschungstag präsentierten sie erste Ergebnisse. Nachmittags schilderten Leiter aus fünf dieser Gemeinden in Workshops Erfahrungen: Thomas Härry, Pfarrer der Aarauer Minoritätsgemeinde, Paul Bruderer von der Chrischona-Gemeinde Frauenfeld, Reto Pelli von der Rapperswiler Kirche im Prisma, Hansjörg Herren (Kirchgemeinde Gossau ZH) und Stefan Fuchser von der "Eglise ouverte" in Genf.
Multikulti - kein Spaziergang
In der Rhonestadt, in einem Quartier mit 50% Ausländern, hat es die Chrischona-Stadtmission gewagt, Überseer mit ihren Eigenarten und Nöten einzuschliessen, mit dem Traum, dass Integration gelinge. Fuchser erwähnte die Hürden für die multikulturelle Öffnung. Bis man versteht, was man hört, muss man üben und sich immer wieder überwinden. "Integration wird nur möglich, wenn alle einen Schritt aufeinander zu machen". Die Schweizer lernten (gegen innere und andere Widerstände) fremde Kulturen wertschätzen; gemeinsames Essen trug dazu bei. Ausländer seien sofort als vollwertige Gemeindeglieder anzunehmen und in die Gemeinde-Familie einzuschliessen, sagte Fuchser.
Der Gottesdienst findet dort statt, wo die Menschen leben, nicht fern ihrem Quartier. Damit der Prozess nicht an Widerständen scheitert, muss die Leitung klar wissen, was sie will, und es mitteilen. Lieder aus verschiedenen Ländern werden gesungen; sie sind einzuführen und zu erläutern. "Über allen kulturellen Fragen muss ein geistliches Ziel stehen", betonte der gebürtige Berner mit Verweis auf Epheser 2.
Neufokussierung auf Nachbarschaft
"Immer ist von dem, was wir träumen, schon etwas da", sagte Hansjörg Herren aus Gossau ZH. Die Kirchgemeinde, die 400 freiwillige Mitarbeitende zählt, will vermehrt für die Menschen in den 12 Dorfteilen und Weilern da sein und ihren Bedürfnissen im Alltag entsprechen. Dabei will man von bekannten Gaben und Talenten der Gemeindeglieder ausgehen. "Wir wollen hinsehen, wo etwas Gutes wächst, und dies fördern". Laut Hansjörg Herren, während neun Jahren für Jugendarbeit angestellt, wurde den Leitern bewusst, dass die ersehnte Veränderung sich nicht 'top down' managen und so machen lässt. Doch die Verantwortlichen hätten den Boden dafür zu bereiten, "dass es gut kommen kann".
Dem Ja zur Quartierarbeit, das im Juni formell beschlossen werden soll, ist ein mehrjähriger Prozess in der Kerngemeinde vorangegangen. In Bibelworten erkannten die Beteiligten mehrfach Gottes konkrete Weisung (Hesekiel 37!). "Wir merkten: Wir müssen Leben teilen. Wir wollen mit den Schwachen unterwegs sein". Acht Grundsätze und sechs Werte wurden als Kompass formuliert.
Der Vortrag von Ralph Kunz: Ecclesia Quo Vadis? - Gemeindeforschung im Kreisel der Postmoderne