«Aussenseiterkirche mit Ausstrahlung»

Nicht andere Formen oder originelle Ideen werden die Kirche in der Postmoderne retten. Vielmehr ist das Evangelium neuartig zu denken und zu leben. Dies sagte der Pfr. Alex Kurz am 7. November 2009 an der LKF-Tagung in Zürich. Der Markt habe sich zur grossen Erzählung der Postmoderne entwickelt.

Nach dem Zerbrechen der „grossen Erzählungen“, der Leitvorstellungen der Moderne, hat sich laut Alex Kurz „der Markt zur grossen Erzählung der Postmoderne entwickelt“. Die Logik des Marktes – dass alles als Ware deklariert werden kann  – durchdringe jeden Lebensbereich, sagte der Referent, Pfarrer in Rohrbach BE, der über Kirche in der Postmoderne doktoriert hat. Zudem werden Medien wichtiger: „Wenn es nichts mehr gibt, was Menschen fraglos eint, sind die Kommunikationsprozesse mühsam.“

Kirchen reagierten auf die neue Unübersichtlichkeit entweder mit Abschottung oder mit dem Versuch, als Autorität den religiösen Markt zu beeinflussen, sagte Kurz (im Bild rechts, mit Wilfried Bührer). So böten sich Reformierte für die Moderation interreligiöser Gespräche oder ethischer Debatten an. Doch würden sie von aussen anders gelesen, als sie sich selbst verstünden. Anderseits vergeistlichten Kirchen den Markt, was ähnlich verhängnisvoll sei. Dann werde Kirche entsprechend Kundenbedürfnissen gestaltet und es entstünden „Gleichgesinntenvereine ohne Ausstrahlung nach aussen“.

Doch wie das Evangelium im 1. Jahrhundert Sklaven und Freie, Juden und Griechen eins machte (Galater 3,28), hat auch heute jene Kirche, die verschiedene Menschengruppen verbindet, mehr Ausstrahlung. In einer „Aussenseiterrolle“ könnten Kirchen die Gesellschaft besser wahrnehmen. Sie müssten lernen, dass sie nicht mehr evangelisieren (d.h. an Bekanntes appellieren) können, sondern wieder zu missionieren (d.h. Unbekanntes zu entschlüsseln) hätten. Denn die Botschaft sei nicht mehr selbstredend.

Experimentieren

Laut Alex Kurz sollten Mittel des Marktes eingesetzt werden, um die gute Botschaft von Jesus Christus zu leben und zu verkündigen. Dabei dürfe experimentiert werden, der richtige Zeitpunkt, der Kairos, sei entscheidend. Wenn der Christ als Vertreter eines religiösen Systems unter vielen angesprochen werde, solle er dies nicht abweisen, aber zugleich auch betonen, dass die Offenbarung ihm zur Wahrheit wurde. In der Postmoderne dürfe das Gebet nicht auf blosse Psychohygiene reduziert werden (was der Zeitgenosse versteht), sondern sei auch als Gespräch mit dem Herrn zu bezeugen.

In  einem Grusswort skizzierte der Thurgauer Kirchenratspräsident Wilfried Bührer Zukunftsperspektiven. Vielleicht bleibe die Kirche „eine Instanz für die Gesamtgesellschaft“, doch eine nächste Generation werde von anderen Voraussetzungen ausgehen. Darum „braucht es einen Mentalitätswandel, der nicht so leicht herbeizuführen ist: vom Gewohnten zum bewussten Ja, den Glauben leben zu wollen, auch in einer Minderheitensituation.“

Migranten mischen Kirche auf

Die Tagung bot drei Kurzreferate. Martin Voegelin, der sich mit dem interkulturellen Brückenschlag beschäftigt, schilderte, wie Christen aus dem Süden die europäische Szene aufmischen. Bereits gebe es über 200 von Afrikanern geleitete Gemeinden in der Schweiz. Eine Kirche, die Menschen verschiedener Ethnien aufnehme und verbinde, stifte Identität und leiste einen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Wir lernen miteinander und aneinander – und wir suchen Gottes Perspektive im neuen Jahrtausend, das wahrscheinlich der Südkirche gehört.“

„Die Kirche, wie wir sie kennen, muss neue Wege einschlagen, wenn sie künftig bestehen will.“ Pfr. Thomas Beerle, der im Auftrag der St. Galler Landeskirche in der Region Werdenberg im Rheintal Neues versucht, betonte an der Tagung das Hingehen zu den Menschen. „Mit ihnen Glauben entdecken und neue Formen von Kirche entwickeln“: dies kann beispielsweise im Vermitteln und evangelischen Deuten bildender Kunst an einer Ausstellung geschehen.

Verkündigung und Diakonie miteinander: So konnte sich die Zürcher Streetchurch entwickeln. Pfr. Markus Giger, ihr Leiter, betonte, ein jugendgerechter Gottesdienst stehe für Junge nicht im Vordergrund, sondern ganzheitliche Begleitung. „Wenn sie es nicht im Alltag erleben können, hat Gottesdienst und Kirche keine Relevanz.“

Engagement um die eine Kirche

Die Tagung war spürbar getragen vom Gebet. der Gebetspartnerwerke. Elisabeth Reusser von der reformierten Fokolargemeinschaft Zürich umrahmte die Konferenz liturgisch eindrücklich: Zwei brennende Scheiter leuchten, indem sie sich verzehren. Das Schluss-Podium nahm konkrete Fragen auf. Im Alltag der Kirchgemeinde, sagte Alex Kurz, soll man „parat sein, auf Situationen ohne grosses Konzept zu reagieren“. Es gehe auch nicht darum, allen etwas bieten zu wollen. Thomas Beerle empfahl den Teilnehmenden, bewusst in neue Bereiche hineinzugehen. Viele Segmente der Bevölkerung lebten heute fern der Kirche. Martin Voegelin wünschte eine Lernwilligkeit der Gemeinden. LKF-Präsident Alfred Aeppli unterstrich die Bedeutung des Grundangebots einer Volkskirche angesichts neuer Schwerpunkte. Für Alex Kurz kommt es darauf an, dass Initiativen von kirchlichen Mitarbeitenden abzuspüren ist: Es gibt (nur) eine Kirche – nicht meine und diese und jene.

Vortrag von Alex Kurz: Kirche in der Postmoderne

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Alex Kurz: Was wir in der Postmoderne zum Leben brauchen

Intensität statt Echtheit, Job statt Beruf: Dem Zeitgeist auf der Spur ist der Emmentaler Pfarrer und Autor Alex Kurz. Er hat über die Herausforderungen der Postmoderne doktoriert: wie die Kirche das Evangelium austeilen kann, ohne dass daraus ein Lifestyle-Produkt wird. Wir fragten ihn, wie die Postmoderne zu fassen ist.

LKF: Wie ‚schmeckt‘ Postmoderne?
Alex Kurz: Für modern geprägte Geschmacksnerven wie einer jener süffigen Sommerdrinks: leicht, frisch, ein wenig bitter und in der Wirkung potenziell gefährlich.

Was unterscheidet postmoderne Lebensstile von modernen?
Postmoderne Lebensstile demontieren die unterschwelligen Motive hinter allem, was den modernen heilig war, und ziehen allenfalls die Konsequenzen daraus. Also: Beziehungskiste statt grosser Liebe, Job statt Beruf, Selbstverwirklichung statt Dienst, Machtspiele statt Machtkämpfe, Intensität statt Echtheit... weil es (aus postmoderner Sicht) schon immer mehr um Letzteres als um Ersteres ging.

Was wird in der Postmoderne anders für die Kirchen?
Kirchen müssen lernen, dass sie nicht mehr evangelisieren (d.h. an Bekanntes appellieren) können, sondern wieder missionieren (d.h. Unbekanntes entschlüsseln) müssen. Die Botschaft ist nicht mehr selbstredend. Wir müssen z.B. aufzeigen, warum wir die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders zum Leben brauchen und weshalb es sich befreiend auf Glaubende auswirkt. Danach aber gilt es auch zu bekennen, dass es nicht einfach die funktionalen Auswirkungen sind, die uns zum Glauben an Jesus führen, sondern umgekehrt.

Was sollten die Kirchen anders machen? Wo sehen Sie Chancen und Gefahren?
Als Christen können wir ein herrliches Stück Gegenkultur zum Markt leben und werden gerade dadurch die spirituelle Logik gegen die herrschende Marktlogik plausibel und attraktiv machen, also z.B. den einen Verlorenen dezidiert den 99 Gefundenen vorziehen, den Blick wecken für das Grössere Gottes, Christus als denjenigen bekennen, der uns aus der Wertigkeit des Marktes erlöst...

Die Formen sind sekundär. Die Gefahren bestehen darin, dass sich Kirchen entweder vom Markt abschotten oder aber seiner Logik erliegen, Gemeinde wie ein Unternehmen aufziehen und aus dem Evangelium ein Lifestyle-Produkt machen.