Reformierte zwischen Innen- und Aussensicht
Wie reagieren die Reformierten auf soziologische Studien, die Kirche und Glaubenspraxis quantifizieren? Nüchternheit und Gottvertrauen sind vonnöten, das Ringen um eine qualitative, theologische Sicht und die Bereitschaft zu neuen Wegen.
Im Zuge der Säkularisierung haben sich Aussensichten auf die Kirche gebildet und, durch Medien vervielfältigt, in der öffentlichen Meinung etabliert. Die Kirche wird in der Postmoderne zunehmend - oder vollends? - anders gelesen, als sie sich selbst versteht (Alex Kurz). Als oberflächliches Beispiel dienen mag der Kontrast zwischen Zeitungsartikeln, die fast leere Kirchen zeigen, und der Innensicht von Pfarrern, die auf rege benutzte Kirchgemeindehäuser verweisen. Welche Sicht beschreibt die Wirklichkeit der Landeskirche eher? Schärfer ist der Kontrast zwischen dem herkömmlichen Selbstbewusstsein der Volkskirche, die öffentlich und für alle da sein will, der selektiven Wertschätzung diakonischer und kultureller Angebote in der Bevölkerung und freidenkerischen Forderungen, Religion ins Private zu verbannen.
Profil durchs Evangelium
Am Ende des konstantinischen Zeitalters haben Kirchenverantwortliche und engagierte Christen mit der Spannung zwischen Innen- und Aussensichten die Chance, die Kirche mit dem Evangelium neu zu profilieren. Die Chance wahrzunehmen, setzt Glauben, Opferbereitschaft und reformiertes Selbstbewusstsein - und zudem einen überlegten und kreativen Umgang mit religionssoziologischen Studien voraus. Als Nachfolger von Roland Campiche (Jede(r) ein Sonderfall?, 1993; Die zwei Gesichter der Religion, 2004) hat Prof. Jörg Stolz vom Lausanner 'Observatoire des religions en Suisse' in den letzten Jahren mit wechselnden Teams Studien erstellt, welche die Schweizer Landschaft mit sozialwissenschaftlichen Instrumenten durchleuchten und facettenreich darstellen.
Am meisten wahrgenommen wird 'Die Zukunft der Reformierten' (2010). Das Buch von Stolz und seiner Mitarbeiterin Edmée Ballif, im Auftrag des SEK verfasst, nennt sieben Megatrends in der Modernisierung. Die Autoren zeigen auf, wie Kantonalkirchen auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren, und geben Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Sie haben Dokumente von 14 Kirchen gesichtet und mit 53 führenden Reformierten und Fachleuten vertiefende Interviews geführt.
"Glauben bewusster und freudiger leben"
Gegenüber der Prognose, dass die Schweizer reformierten Kirchen "kleiner, ärmer und älter" würden, rief SEK-Ratspräsident Gottfried Locher am 14. Juni in der Zürcher Kirchensynode zu Gottvertrauen auf. "Gott geht offenbar neue Wege mit unserer Kirche". Dem "kirchenfürstlichen Zweckoptimismus" erteilte Locher eine Absage und rief dazu auf, die "Wirklichkeit schonungslos, aber auch präzise wahrzunehmen". Die Reformierten sollten in den Anfechtungen die Chance suchen und "bewusster und freudiger den eigenen Glauben leben". Nachdem der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft viele Konkurrenten in der Sinnstiftung erwachsen seien, könne sie wieder zu einem klareren Profil finden. "Es kann uns doch nicht egal sein, wenn sich die Welt um uns herum so verändert, dass man dieses Evangelium offenbar kaum mehr hört". Der SEK-Ratspräsident fragte, ob es annehmbar sei, dass man "unsere Diakonie zwar schätzt, aber von der frohen Botschaft nichts mehr hören will".
Noch ein Sechstel der Bevölkerung kirchlich gebunden
Nach der vor einem Jahr veröffentlichten Untersuchung Dienstleistungen, Nutzen und Finanzierung von Religionsgemeinschaften in der Schweiz sind 2011 weitere Studien im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 58 vorgestellt worden. "Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer distanzieren sich von der Religion": So fasste eine Forschergruppe um Stolz im März ihre Untersuchung Religiosität in der modernen Welt: Bedingungen, Konstruktionen und sozialer Wandel zusammen. Religiös Distanzierte machten 64 % der Wohnbevölkerung aus, doch diese grosse Gruppe glaube "nicht nichts. Sie verfügt über religiöse und spirituelle Vorstellungen, die aber in ihrem Leben nicht besonders wichtig sind und nur in Ausnahmefällen aktiviert werden". Die Forschenden sehen noch einen Sechstel der Bevölkerung kirchlich gebunden; nach der Studie leben 10% säkular und 9% alternativ.
Eine St. Galler Antwort
Nach Ansicht des St. Galler Kirchenratspräsidenten Dölf Weder ist der Befund anders zu fassen: Die Hauptgruppe sei "eben nicht notwendigerweise religiös distanziert, sondern sie sind von das Religiöse verkörpernden Institutionen und Glaubenssystemen distanziert" oder wollten sich nicht daran binden. Weder antwortet mit dem Leitbild St. Galler Kirche 2015: "Wir sind miteinander unterwegs in mannigfachen Weggemeinschaften. Verbindliches Engagement ist uns wichtig, in reformierter Freiheit gelebte punktuelle Beteiligung und persönliche Glaubensüberzeugungen sind ebenso willkommen".
Alle örtlichen Gemeinden der Schweiz
Ende November wird die Sinus-Studie über die Milieus im Kanton Zürich vorgestellt, welche eine deutsche Organisation erarbeitet hat. Als bisheriger Höhepunkt quantitativer Lausanner Forschung kann die im September publizierte Studie Die religiösen Gemeinschaften der Schweiz: Eigenschaften, Aktivitäten, Entwicklung gelten. War bisher individuelle Religiosität im Fokus, wurden hier die lokalen Gemeinschaften landesweit erhoben und verglichen und zudem 1040 Verantwortliche befragt.
Von den 5734 im Land erfassten religiösen Gemeinschaften (aller Religionen) sind 20% reformiert und 25% freikirchlich. Die Freikirchen konzentrieren sich in den Städten - und doch ist auf dem Land die Gemeinschaftsdichte höher. Die Forscher interessierte namentlich, welche Faktoren zum Schrumpfen und Wachsen der Gemeinschaften beitragen und ob Unterschiede mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung zusammenhängen.
"Erfolg der Freikirchen"
Die Kennziffern von öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen, nicht anerkannten christlichen und nicht-christlichen Gemeinschaften unterscheiden sich markant. Vor allem im Gottesdienstbesuch: Freikirchler stellen am Wochenende "mehr als das Doppelte der Kirchgänge"r der Reformierten. Die Studie, die drei Gruppen von Freikirchen unterscheidet, widerlegt das Vorurteil, dass sie sich nicht sozial engagieren. Sie sieht Hauptgründe für Wachstum "in einer hohen biologischen Reproduktion und dem Halten der Kinder, einer hohen Rekrutierungsneigung und der Unterstützung durch Immigration neuer Mitglieder" (S. 7).
Max Schläpfer, Leiter der Schweizer Pfingstmission, sieht gemäss NZZ das Wachstum seiner Gemeinden vor dem Hintergrund ihrer konsequent missionarischen Ausrichtung und lebensnaher Verkündigung des Evangeliums. Zur Kenntnis nehmen sollten reformierte Leser die Eingangsfrage im Schlussbericht der Studie: "Ist es richtig, dass etablierte Gemeinschaften (im Vergleich zu nicht etablierten Gemeinschaften) sich normativ lax geben, auf religiösen Enthusiasmus tendenziell verzichten, die Wichtigkeit ihrer Heilsgüter tendenziell herunterspielen, mit schwindendem Interesse der Gläubigen zu kämpfen haben, zahlenmässig schrumpfen, aber dennoch die 'Konkurrenz' der nicht etablierten Gemeinschaften mit allen Mitteln bekämpfen"?