Kirche und Gesellschaft

Wie kam es zur komplexen Situation der Grosskirchen in Westeuropa? Ein Blick zurück ist instruktiv.

Johannes Corrodi – Die reformatorische Kritik konnte nicht verhindern, dass die einseitige Betonung des absolut freien göttlichen Willens im Gegenzug die Autonomie des menschlichen Willens auf den Plan rief. „«Teile und herrsche“» heisst die Devise: Gott regiert im Himmel, der Mensch auf Erden.

Die Folgen dieser Entwicklung beschrieb Max Weber (1864-1920) mit dem Begriff „Entzauberung der Welt“. Das bedeutet: Eine sich selbstregulierende Gesellschaft wird zum „stählernen Gehäuse“ einer ins Gigantische wachsenden Bürokratie, die paradoxerweise einzig und allein unsere Freiheit zum Ziel hat. Selbst die Kirche, die das vermittelnde Bindeglied zwischen Himmel und Erde war, droht in zwei Teile,– einen geistig-unsichtbaren und einen sichtbar-weltlichen,– zu zerfallen.

In den christlichen Glaubenstraditionen ging der Schöpfungs- und Missionsauftrag als aktive Teilnahme in der Heiligung der Welt aber nicht vollständig verloren. Diesen gilt es, heute neu zu entdecken und zu interpretieren. Denn die Reformation machte auch diese andere Einsicht stark: Die Welt ist nicht nur ein ödes Durchgangslager in der Entwicklung der Seele zu einem höheren Stadium. Ihre Erforschung und Gestaltung hat selbst religiösen Wert. Sie ist und bleibt das Medium der Selbstoffenbarung Gottes in Gesetz und Evangelium. Daran kann die „gnostische“ – totalitäre oder liberale – Auflösung der eschatologischen Spannung zwischen „‹noch nicht“› und ‹„schon jetzt“› des Reiches Gottes nichts ändern.

Was bedeutet das für die Rolle der Kirchen in der zukünftigen, post-christlichen Gesellschaft? Wo sich der Staat als primärer Bündnispartner verabschiedet, gilt es, die nationale Brille abzulegen und die Kirche als ältesten „global player“ wiederzuentdecken. Obwohl in der näheren Zukunft die noch etablierten Grosskirchen in Europa weiterhin eine Politik der Sicherung von Bevölkerungsanteilen anstreben (müssen?), ebnet diese Perspektivenverschiebung den Weg für eine grosse Fülle an Gemeinschaftsformen, in denen christlicher Glaube gelebt und reflektiert wird.

Vielleicht wird man dann (wieder) entdecken, dass Gott nicht ein Spezialgebiet der dogmatisch-systematischen Theologie ist, und sich auch nicht in die Grenzen einer privaten Frömmigkeit einsperren lässt, sondern auf die ureigensten Ordnungskräfte verweist, die jedem gesellschaftlichen Bereich innewohnen.

A. Aeppli: lebenswerte.ch Werte für das Zusammenleben
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