«Die Kirche muss Mission neu denken lernen»

Wenn es den Reformierten gelingt, auf den grossen Hunger nach Werten, Sinn und Halt richtig einzugehen, wird ihr Einfluss wieder zunehmen. Dies betont der Berner Pfarrer Alfred Aeppli. Als Präsident des Landeskirchenforums reagiert er damit auf eine aktuelle Studie, die der reformierten Kirche einen weiteren massiven Aderlass voraussagt. – Das Interview führte Andrea Vonlanthen, Chefredaktor von idea Spektrum Schweiz.

idea: Vor wem wollen Sie in 20 Jahren noch predigen?

Alfred Aeppli:Soll ein fast Achtzigjähriger noch predigen? Vermutlich werden bis in 20 Jahren längstens jüngere Kräfte diese Aufgabe übernommen haben. Wenn es ihnen gelingt, das Evangelium lebensdienlich in den Alltag zu übertragen, so werden sich auch dann noch viele interessierte Menschen ansprechen lassen und am Gottesdienst teilnehmen.

Im Jahr 2050 soll gemäss Studie nur noch jeder Fünfte reformiert sein, gegenüber 33 Prozent heute.

Der Trend läuft tatsächlich auf eine weitere Schrumpfung hinaus. Doch wichtiger als die Mitgliederzahl einer Kirche ist ihre Ausstrahlung. Nimmt die Anzahl der Reformierten ab, so sind diese stärker gefordert, den Glauben im Alltag so ansprechend zu leben, dass auch kirchlich kaum beheimatete Menschen darauf aufmerksam werden.

Glauben Sie immer noch an eine „Wiederkehr der Religion“, wie Trendforscher meinen?

Trendforscher beobachten zwar eine Spiritualisierung der Gesellschaft. Doch nicht eigentlich die Gottsuche, sondern Seelenwellness liegt im Trend. Spirituelle Erfahrungen und Sehnsüchte werden verkaufswirksam inszeniert. Sportlerinnen und Politiker berichten über religiöse Erfahrungen, spirituelle Reisen und Kraftorte. Das religiöse Gefühl tritt an die Stelle der religiösen Inhalte. Doch daneben schmelzen christliche Glaubensinhalte im breiten Volk dahin wie die Gletscher in der Sommersonne.

Sind die Tage der breiten Volkskirche also gezählt?

Das selbstverständliche Zur-Kirche-Gehören nimmt rasant ab. In den Kirchgemeinden finden sich zunehmend Menschen, die sich bewusst für den Glauben und ein Engagement in der Kirche entscheiden. Sie engagieren sich in Netzwerken und beweglichen Strukturen. Wenn es der Volkskirche gelingt, auch die Dynamik solcher Bewegungen zu nutzen, so wird sie nicht untergehen.

Wie kann die reformierte Kirche eine reformiert-missionarische Kirche werden?

Indem sie die reformatorische Theologie innovativ aufgreift, das Bibelwort in den Alltag überträgt, das Evangelium von Jesus Christus zeitgemäss verkündigt und den Glauben, die Liebe und die Hoffnung ganz praktisch im Alltag von Mensch zu Mensch weiter trägt. Wir müssen lernen, Mission neu zu denken. Neben Glaubenskursen und evangelistischen Veranstaltungen hat das schlichte Wirken von einfachen Gemeindegliedern die grösste missionarische Kraft.

Wie entwickeln sich die Besucherzahlen in Ihrer Kirchgemeinde in Jegenstorf?

In den letzen zehn Jahren ist die Anzahl der Gottesdienstbesucher am Sonntag langsam gewachsen. Gegenwärtig ist sie stagnierend und schwankt inklusive Kinderprogramm zwischen 100 und 300 Menschen. Ebenso wichtig sind jedoch unter der Woche viele Angebote für verschiedene Ziel- und Interessengruppen jeden Alters, die rege besucht werden.

Wie erklären Sie sich diese an sich positive Entwicklung?

Das tragende Fundament unserer Arbeit sind die rund 300 Freiwilligen in den verschiedenen Bereichen des Gemeindlebens. Diese zu fördern, zu begleiten und auch wertzuschätzend zu anerkennen ist die wichtigste Aufgabe der voll- und teilzeitlich Angestellten. Zielfragen klären, Konflikte bewältigen und auch in Krisen dran bleiben, das gehört ebenso dazu.

Wie gross ist wohl der Anteil der reformierten Kirchgemeinden mit Besucherwachstum?

In der Schweiz fehlen bisher ausgedehnte Untersuchungen über wachsende Gemeinden. Ralph Kunz von der Theologischen Fakultät in Zürich hat begonnen, innovative Beispiele zu beobachten. Ich verspreche mir in nächster Zeit wegweisende Einsichten von seinen Erhebungen. In England wurde schon vor 15 Jahren festgestellt, dass in einem Umfeld von Mitgliederschwund und Finanzknappheit etwa jede fünfte Gemeinde wächst. In Deutschland wurde 2008 die Studie "Wachsen gegen den Trend" veröffentlicht, in der exemplarisch 32 aufblühende Gemeinden beschrieben werden.

Was machen diese wachsenden Kirchgemeinden anders?

Wachsende Gemeinden nennen als Ziel ihrer Arbeit meistens nicht zuerst das Wachstum, sondern die gesunde Gemeindeentwicklung. Wenn die nötigen Faktoren vorhanden sind, ergibt sich Wachstum von selbst. Dazu gehören eine dynamische Ausrichtung der Gemeinde mit einem entsprechenden Leitbild und eine unterstützende Zusammenarbeit in verschiedenen Teams. Der Gottesdienst umfasst viel Gesang und Musik, eine starke Beteiligung der Gemeinde, Raum für Emotionen und Feierlichkeit sowie eine gut vorbereitete und ansprechende Verkündigung. Verschiedene Zielgruppen werden angesprochen. Was die Gemeinde während der Woche lebt, konzentriert sich am Sonntag im Gottesdienst.

Soll man nun die Marke „reformiert“ stärken oder doch eher das evangelische Bekenntnis dieser Kirche?

Wie wollen Sie die Marke "reformiert" stärken, ohne Profil zu zeigen? Zum reformierten Profil gehört auch das Bekenntnis. Ich meine damit nicht eine dogmatische Glaubenslehre, sondern das situationsgerechte Bezeugen des Evangeliums in Wort und Tat. Die Marke "reformiert" lässt sich wohl am besten stärken, wenn die reformierten Gemeindeglieder Farbe bekennen, wo immer sie tätig sind. Dazu brauchen sie die Unterstützung der Kirchgemeinde, der kantonalen Kirchenleitungen und des Kirchenbundes.

Reformierte sollten ja Spezialisten für Reformen sein. Welche Reformen braucht diese Kirche?

Der gesellschaftliche Wandel geht nicht an der Kirche vorbei. Das Denken in Begriffen des Marktes ist allgegenwärtig. Wir haben die Tatsache zu akzeptieren, dass wir als Kirche von aussen betrachtet "auf dem Markt" sind, auch wenn wir von der inneren Identität her "nicht vom Markt" sind. Die Herausforderung besteht darin, im postmodernen Umfeld marktfähig zu sein, ohne marktförmig zu werden. Ich sehe einen Weg der Profilierung, indem die Inhalte des christlichen Glaubens in verdichteter Form, verständlicher Sprache und ansprechenden Bildern neu aufgearbeitet werden. Vielfältige Gottesdienste mit Beteiligung von freiwilligen Teams und dynamische Keimzellen des Gemeindelebens sind wichtige Brennpunkte von solchen Erneuerungen. Die Vermittlung des Evangeliums hat so zu erfolgen, dass die Botschaft Herzen berührt und erfahrbar wird.

Welches muss die Kernbotschaft sein?

Das Kernprodukt der christlichen Kirche ist der Glaube an den dreieinigen Gott, Die Kernbotschaft ist somit die Vermittlung eines Glaubens, der Hände und Füsse hat.

Woran soll sich eine zeitgemässe reformierte Theologie orientieren?

Ein Kennzeichen reformierter Theologie ist die Konzentration auf das Wesentliche. Die Bibel, Taufe und Abendmahl sind die Grundpfeiler reformierter Tradition. Theologen müssen in allgemein verständlicher Sprache sagen können, was die reformatorischen Prinzipien "allein die Bibel – allein Christus – allein durch Gnade – allein durch den Glauben" heute bedeuten. In der Ausbildung sind neben der wissenschaftlich-theologischen Kompetenz die Fähigkeiten im Bereich der Gemeindeentwicklung zu schulen. Künftige Pfarrpersonen werden nicht mehr die überall präsenten Allrounder sein, sondern eher Spezialisten für Leitung, Lehre und Förderung der Mitarbeitenden.

Mission und vor allem Evangelisation sind in dieser Kirche weithin Fremdwörter geworden.
Mir fällt auf, dass der Missionsbegriff heute neu verstanden wird als Weitergabe des Glaubens vor Ort durch engagierte Gemeindeglieder. Evangelisch evangelisieren und im Alltag missionieren gehört zunehmend zu den Kernaufgaben der Gemeinden. Untersuchungen in Geschäftsbetrieben haben gezeigt, dass ein Anteil von fünf glaubwürdigen und beherzten Christen auf hundert Beschäftigte das Klima positiv beeinflusst. So könnte Mission auch neu gesehen werden.

Welches sind die Folgen für unsere Gesellschaft, wenn die Reformierten laufend an Einfluss verlieren?

Das Klima des menschlichen Zusammenlebens wird kälter, wenn die Kirchen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Es gibt einen grossen Hunger nach Sinn und Werten, nach Halt und Orientierung. Wenn es den Reformierten gelingt, auf diese Bedürfnisse warmherzig und relevant einzugehen, so wird ihr Einfluss wieder zunehmen.

Welche Möglichkeiten sehen die frommen Pfarrer innerhalb Ihres Landeskirchenforums, zu einer Erneuerung der Kirche beizutragen?

Nicht die "frommen Pfarrer" werden die Erneuerung der Kirche bringen. Ein Zusammenwirken von Pfarrpersonen, Katechetinnen und Sozialdiakonen, Kirchenräten und Synodalen, lokalen Kirchenbehörden und engagierten Freiwilligen ist nötig. Das Landeskirchenforum ist ein Netzwerk von Menschen, welche die Vision einer blühenden Zukunft der reformierten Kirchgemeinden im Herzen tragen. In unseren Tagungen greifen wir Themen auf, welche zukunftsweisende Perspektiven eröffnen und die gegenseitige Ermutigung fördern.

„Das Evangelium neuartig zu denken und zu leben“: So lautet ein Credo Ihres Forums. Wo wollen Sie ansetzen?

Unser Ansatz ist das Denken von innen nach aussen, vom Glauben zur Tat, vom Einzelnen zur Gemeinde, von der Ortsgemeinde zur Kantonalkirche, von den Kirchen zur Gesellschaft. Bereit für Gott, berührt vom Wort, bewegt zur Antwort und begleitet vom Segen wollen wir den Weg gehen.

Wie gross ist Ihre Hoffnung für die reformierte Kirche der Schweiz?

Ein klares reformiertes Profil ist dringend nötig. Ich fürchte allerdings, dass gegenläufige Kräfte im Kirchenbund sich vorderhand noch nivellieren werden. Darum brauchen wir viele Kirchgemeinden, die vor Ort eine Arbeit mit Ausstrahlung aufbauen, die anziehend wirkt. Gelingende Modelle kirchlicher Arbeit in verschiedener Umgebung können aufzeigen, was reformierte Kirche sein kann. Von solchen Beispielen wird auch die Kirche als Ganzes profitieren.

Wie kann Kirche im Sinne von Jesus eine ganz neue Bedeutung bekommen?

Indem sie sich wie Jesus in die Welt hinein gibt und dabei die Verbindung gegen oben aufrecht erhält, wie er es getan hat.