Europa und die Chance, Gott zu vertrauen
LKF: Die Globalisierung nimmt uns mit – auch kirchlich. Gläubige Menschen kommen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zu uns. Sie stellen uns die Frage, ob wir Gott ganz anders denken und zu ihm aufschauen könnten.
Ingolf U. Dalferth: Seit 2008 bin ich zwischen Zürich und der Claremont Graduate University in Kalifornien hin- und hergependelt. Die Jahre haben mir deutlich gemacht, dass unsere Selbstwahrnehmung in Europa stark verkürzt ist. Was wir für selbstverständlich halten, ist keineswegs überall selbstverständlich. Ein Beispiel ist die hier gehegte Meinung, dass die Religionswissenschaft im Zuge der Säkularisierung an den Universitäten an die Stelle der Theologie tritt oder treten müsste. Das trifft in dieser Pauschalität überhaupt nicht zu.
Der Religionssoziologe José Casanova sieht Europa als den Sonderfall, da die Religiosität in anderen Erdteilen im Zuge der Modernisierung nicht abnimmt.
So ist es. Casanova vertritt weiter die These, dass es nicht nur eine Moderne, sondern plurale Modernen gibt. Das ist wahrscheinlich auch richtig: Modernisierungsprozesse in muslimischen Ländern laufen anders ab als in westlichen Ländern. Weil der Gegensatz Staat-Kirche dort nie existiert hat, müssen sie keinen Klerikalismus überwinden. Deshalb sind unsere europäischen Lösungsmodelle anderswo nur sehr bedingt brauchbar.
Anders als Casanova glaube ich aber nicht, dass – wie einst die Katholiken in die Mitte der US-Gesellschaft gelangten – nun Muslime vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft rücken, wenn man sie nur machen lässt. Das scheint mir zu stark vereinfacht, weil es den Unterschied zwischen christlichen Denominationen und Konfessionen im breiten Feld des Christentums und nichtchristlichen Traditionen, die sich von diesem ganzen Feld ausdrücklich abgrenzen, nicht zureichend beachtet.
Die Religionen unterscheiden sich im Verständnis Gottes: Allah hat sich nicht wie der Gott der Bibel zu erkennen gegeben. Welche Folgen hat das fürs Verständnis von menschlicher Gemeinschaft und Staat?
Die Gottesverständnisse sind sehr unterschiedlich – und sie haben alle sehr direkte Auswirkungen bis in politische Bereiche hinein, auch wenn das nicht immer gleich ins Auge springt.
Sie haben in einem interdisziplinären Projekt über Vertrauen geforscht.
Im Christentum ist Gott so eng mit dem Vertrauensthema verknüpft, weil man ihn von dort her versteht, wo er sich als vertrauenswürdig erwiesen hat: dem Extrempunkt des Kreuzes: In dieser Situation, in der selbst Jesu Verständnis von Gott ins Wanken kommt und zusammenbricht – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ –, in dieser Situation zeigt sich, wer Gott wirklich ist. Das ist zentral: Nicht unsere erfahrungsgestützten Grundüberzeugungen sind entscheidend, nicht unsere rechten Gottesvorstellungen oder Gottesbilder. Sie werden von Gott immer wieder so in Frage gestellt, dass unsere Erwartungen durchkreuzt werden und Gott selbst noch da ist, wo niemand mehr mit Gott gerechnet hätte, im Leiden, im Sterben, in der Todessituation. An dieser Erfahrung orientiert sich das christliche Vertrauen auf Gott.
Wenn man fragt: Wem kann ich im Leben und Tod vertrauen?, dann muss man christlich antworten: Dem, der sich so erweist, dass er verlässlich noch da ist, wo niemand mehr auf ihn setzt. Da sind auch die Negativität, das Nichts und das Nicht-mehr-an-Gott-Glauben mit im Blick. Es ist nicht so, dass man unerschütterlich an Gott glauben muss, um mit Gott rechnen zu können. Gott sucht sich seine Wege zu uns, und er findet sie auch noch dort, wo wir gar keine Wege mehr gehen können oder wollen.
Vertrauen wird immer wieder enttäuscht.
Wie kommen wir über Enttäuschungen hinweg zum Vertrauen? Das ist die eigentliche Vertrauensfrage. Das Besondere des christlichen Gottvertrauens ist, dass es davon lebt, dass Gott auch in der Erfahrung seiner Abwesenheit noch am Werk ist, dass auch und gerade aus der Enttäuschung über Gott wieder Gottvertrauen erwachsen kann.
Das ist die Grundbotschaft des Christentums: Im Kreuz, an dem Jesu Gottvertrauen scheitert, zeigt sich, dass Gott vertrauenswürdig ist. Nicht die Enttäuschung, sondern Gott hat das letzte Wort. Er hat Jesus auferweckt, wie die Christen bekennen. Begriffen und verstanden haben das zunächst die anderen, nicht die Anhänger Jesu. Der Hauptmann sagt: Das ist Gottes Sohn! Die Frauen sagen es – im Unterschied zu den Jüngern, die noch an Ostern misstrauisch bleiben und zweifeln. Nicht den unerschütterlich Glaubenden, sondern denen, die gar nicht mit so etwas gerechnet hätten, die misstrauen, zweifeln und nicht glauben können, zeigt sich die Vertrauenswürdigkeit Gottes. Das ist das, was den christlichen Gottesglauben auszeichnet: Er entspringt aus dem, was der Erfahrung widerspricht, und nicht aus dem, was diese bestätigt.
Ich finde, das Christentum – das sage ich auch kritisch gegen die letzten 40, 50 Jahre evangelischer Theologie – ist eine Glaubensweise, die nicht auf unseren Erfahrungen aufbaut, sondern permanent die eigenen Erfahrungen, die der Christen und die anderer, in Frage stellt…
…da Gott jenseits unserer Erfahrung immer noch erfahren werden kann.
Ja. Sonst hätte das Christentum nie die kritische Kraft entfalten können, Dinge in Frage zu stellen, die alle aufgrund ihrer wohlbegründeten Erfahrungen für überzeugend gehalten haben. Wenn es nur darum geht, das zu sein und zu glauben, was wir erfahrungsmässig einholen können, ist das einfach zu wenig.
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