«Zwingli war der Pionier»
Zwingli war Vordenker und Kämpfer in höchst unsicheren Zeiten – und er war theologisch motiviert. Dies stellt Peter Opitz, Professor für Reformationsgeschichte in Zürich, heraus. Er äussert sich zur Person in ihrem historischen Kontext und zur Prägung der Reformierten. Die Unterdrückung der Täufer durch den Zürcher Stadtstaat sieht Opitz in ihrer Ablehnung der Obrigkeit begründet.
LKF: Peter Opitz, so viel Zwingli war nie. Das freut Sie bestimmt. Bietet der Film, was ein Film leisten kann?
Peter Opitz: Eindeutig ja! ich bin beeindruckt, mit welcher Quellennähe es dem Film gelingt, Zwinglis Wirken in seiner Zeit darzustellen. Zugleich ist der Film enorm spannend – und «Gefühlskino» zugleich!
Die historische Genauigkeit fängt bei Details wie Kleidern und Kulissen oder dem Verhalten der Leute an, bezieht sich aber auch auf die Geschichte: Ein Film muss eine Geschichte erzählen und komplexe Vorgänge in einer knappen Szene oder einem Dialog auf den Punkt bringen. Das ist dem Film in vielen Fällen ausserordentlich gut gelungen.
Er vermeidet es dabei, Zwingli als grossen Helden darzustellen, der über allem schwebt und sich nie irrt. Er vermeidet es aber auch, Zwingli besserwisserisch an Kriterien zu messen, die es im 16. Jahrhundert noch gar nicht gab. Dass Zwinglis Theologie und eigentliche Botschaft etwas zu kurz kommt, ist verständlich – ich habe es nicht anders erwartet.
Welche nachhaltige Wirkung erhoffen Sie sich vom Film?
Ich hoffe, dass der Film mithilft, eingeschliffene Geschichtsmythen über Zwingli zu korrigieren und ein faires Bild eines aussergewöhnlichen Menschen und Christen, der allerdings ein Mensch des 16. Jahrhundert war, zu vermitteln.
Zwingli war Theologe. Er wollte «das edle Angesicht Christi, das entstellt und verschmiert worden ist, wieder reinigen und säubern». Wie lehrte er über Christus?
Christus war für Zwingli der Mensch gewordene Gott, der Gottes Menschenfreundlichkeit zeigt, die Welt mit Gott versöhnt und die Menschen zum Vertrauen und in die Nachfolge ruft. Keine Speziallehre, sondern das elementare Christliche.
Allerdings: Die Einladung Christi ist nach Zwingli exklusiv. Was Zwingli wollte, bringt die erste Barmer These von 1934, die ja indirekt von Zwingli stammt, auf den Punkt: Christus ist das eine Wort Gottes, dem allein Christen vertrauen und dem allein sie zu gehorchen haben. Das erste Gebot bezieht sich auf ihn, denn er ist ja Gott. Deshalb war für Zwingli der Kampf gegen die Heiligenverehrung zentral.
Welche zeit- und kirchengeschichtlichen Einflüsse sind in Zwinglis Lehre von Christus zu erkennen?
Zwingli hat seine Christologie der Bibel entnommen und begründet alles mit biblischen Texten. Er phantasiert nicht einfach drauflos. Aber natürlich ist er humanistisch gebildet und beeinflusst, und er war ein Kind der Eidgenossenschaft des 16. Jahrhunderts. So kann er etwa Christus als «Hauptmann» bezeichnen, dem nach nachfolgen soll.
Wie bestimmte seine Lehre von Christus sein Verständnis
von Bürgergemeinde und Staat?
Zwinglis Verständnis des christlichen Gemeinwesens war weniger durch seine Lehre von Christus geprägt als durch Zeit und Kultur des 16. Jahrhunderts. Er dachte genossenschaftlich mit einem Schuss eidgenössischem Patriotismus.
Dass der Stand Zürich wie alle anderen eidgenössischen Stände, christlich war und auch sein wollte, war ihm selbstverständlich. Eine Alternative gab es nicht. Schliesslich leistete man regelmässig Eide auf den christlichen, dreieinigen Gott, etwa als Versprechen, dass man sich an die geltenden Gesetze halten und den Bundesgenossen treu beistehen werde. Ohne regelmässigen Eid gab es keine Rechtssicherheit. Der gemeinsame christliche Glaube war also die Basis des Zusammenlebens schlechthin.
Zwingli arbeitete mit dem Rat von Zürich zusammen und liess die Verfolgung seiner Freunde zu, die Täufer geworden waren. Gab es dafür neben den realpolitischen auch theologische Gründe?
Dass die ersten Täufer in Zürich «verfolgt» wurden, habe ich früher auch geglaubt. Seit ich mich in die Quellen und die Rechtsverhältnisse des 16. Jahrhunderts vertieft habe, denke ich anders (das gilt nicht für spätere Zeiten, die man gesondert betrachten muss): Für die Jahre 1525-32 kann man in Zürich nicht von einer «Täuferverfolgung» sprechen.
Weder gab es in diesen Jahren des teilweise chaotischen Umbruchs eine reformierte Kirche, noch eine einheitliche Täuferbewegung. Und das Hauptproblem war weniger die Glaubenstaufe als die Verweigerung des christlichen Bürgereids durch die Täufer, im 16. Jahrhundert Grundlage des rechtlichen und geordneten Zusammenlebens überhaupt.
Einige Täuferführer predigten: Wahre Christen (damit waren nur sie selber gemeint) brauchen einer unchristlichen Obrigkeit und ihren Gesetzen (das war der gesamte Staat Zürich und der Rat, der gerade daran war, Zürich wieder «christlicher» zu machen und von Rom zu lösen) nicht gehorsam zu sein. Deshalb war es auch kein Problem, bei der Freilassung aus dem Gefängnis einen Eid zu schwören, dass man nicht weiter täuferisch missioniert, und dies am nächsten Tag gleich wieder zu tun.
In den Augen des Rates war das zwangsläufig Aufruf zur Revolution, und das Delikt war nicht religiös, sondern politisch: Meineid und renitenter Ungehorsam gegen obrigkeitliche Mandate, also staatliche Gesetze im Verständnis des 16. Jahrhunderts. Auch die heutige EVP und erst recht die EDU hätten keine Freude an solchen Täufern!
Und jetzt zur eigentlichen Frage: Zwingli warf den Täufern vor, dass sie für sich in Anspruch nehmen, wahre Gläubige von Ungläubigen als zwei Gruppen von Menschen unterscheiden zu können. (Nur) sie selber waren die wahren Christen, alle anderen waren Heuchler oder Betrüger (Zwingli war ein religiöser Verführer und das «Tier aus dem Abgrund»).
Die Folgen einer solchen klaren, von Menschen vollzogenen Unterscheidung sind logisch: Gemeindespaltungen, Streit und Pharisäertum. Die zahlreichen Spaltungen schon unter den frühen Täufern geben ihm Recht. Und die Geschichte der Freikirchen bis heute.
Ich meine: Zwingli hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Unterscheidung zwischen Spreu und Weizen allein Gottes Sache ist. Christen sollen ernsthaft Christus nachfolgen (hier haben die Täufer recht!), ins Herz von anderen Menschen und in Gottes Pläne hinein sehen sie nicht. Als gerechtfertigte Sünder, denen Gott Glauben schenkt, haben sie keinem anderen Menschen etwas voraus. Hier gilt das Bild vom Balken im eigenen Auge!
Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger leitete die Kirche etwa fünfmal so lang. Welche Merkmale der reformierten Kirchen stammen von Zwingli, welche von Bullinger?
Zwingli war der Pionier, er war stets in Kämpfe verstrickt und hatte wenig Zeit für Theologie. Das war bei Bullinger anders. Zwingli hatte die Befreiung und die Mündigkeit aller Glaubenden im Blick, Bullingers Aufgabe war es, Institutionen zu schaffen, die dauerhaft waren.
So hat Bullinger etwa das kirchliche Amt und die ordentliche Ausbildung und Einsetzung der Pfarrer gefördert – was dem frühen Zwingli nicht so wichtig war, dem späteren aber schon, nachdem er gemerkt hatte, dass ohne Amt keine geordnete Kirche sein kann, sondern ein Chaos von selbsternannten Predigern die Folge wäre.
Stammt die Pfarrer-Zentrierung der reformierten Kirchen von den beiden Reformatoren?
Unter allen Konfessionen ist die auf Zwingli zurückgehende reformierte Tradition diejenige, die am wenigsten Pfarrer-zentriert ist. Anders als fast alle anderen Konfessionen geht die reformierte Kirche vom Gemeindeprinzip aus und ist von unten nach oben aufgebaut, nicht umgekehrt, wie alle Papst- und Bischofkirchen.
Allerdings haben Zwingli und Bullinger vom Pfarrer verlangt, dass er gebildet und von der Gemeinde offiziell zum Verkündigungsauftrag eingesetzt ist, denn die öffentliche Bibelauslegung ist eine verantwortungsvolle Sache und selbstberufene Prediger gab es genug, sowohl katholische wie protestantische und andere!
Die «Pfarrerzentriertheit» stammt eher aus späteren Zeiten: Zwingli und Bullinger haben zum Beispiel den Talar abgelehnt. Der Pfarrer soll in gewöhnlichen Sonntagskleidern predigen, weil er kein Priester ist, sondern ein zum Predigen beauftragtes Gemeindeglied. Die spätere Staatkirche machte aus Pfarrern Staatsdiener und verschrieb ihnen den Beamtenrock.
Das religiöse Bedürfnis des Volkes aller Zeiten (so meine Vermutung), hat gerne «Priester», die einem die Anstrengung des eigenen Glaubens abnehmen und durch kultische Handlungen mit Gott vermitteln (Kasualien!). Das Resultat: Der reformierte Talar, ein Eckstein jeder Volksreligion (es gibt Analogien in anderen Religionen!).
Welche Aufgaben stellt der Reformator des 16. Jahrhunderts der Theologie und der Verkündigung in den Gemeinden heute?
Wir können nicht direkt aus dem 16. Jahrhundert Rezepte für uns erwarten. Es gibt z. B. kein Staatschristentum mehr und eine gemeinsame Religion ist für uns nicht mehr Basis und Voraussetzung des politischen Zusammenlebens.
Was uns die Reformatoren immer zu sagen haben: Die Aufgabe aller Christen aller Zeiten ist es, auf Christus zu hören, wie er in der Bibel bezeugt ist, und sich nicht zu schämen, sich öffentlich zu ihm zu bekennen, ganz egal, was das für Konsequenzen hat. Solange man in einer Gemeinde ernsthaft darüber diskutiert, was das in der Gegenwart bedeutet und bereit ist, voneinander zu lernen, ist eine Gemeinde lebendig.
Bei Zwingli angelegt ist aber auch das zweite Prinzip, das leider im Verlauf der Reformationsgeschichte in den Hintergrund geraten ist: Ein Zeichen des wahren Glaubens ist nicht nur das rechte Bekenntnis, sondern auch die Liebe!
Denn Gott ist der Gott aller Menschen, und er will, dass alle Menschen gerettet werden. Das hat dann besonders Bullinger betont, aber schon bei Zwingli geht Gottes Heilswirken über die Kirche hinaus.
Würde Zwingli heute wieder Reformator? Wo würde er ansetzen?
Er würde den menschenfreundlichen Gott verkündigen und besonders denen, die sich Christen nennen, ihre Heuchelei und ihren Aberglauben vor Augen halten.
Was sind für Sie die grössten Rätsel, wenn Sie Zwingli und seine Zeit erforschen?
Eine Herausforderung ist immer, die kulturellen und mentalen Unterschiede von damals zu heute zu verstehen. So etwa das sadistisch-brutale Strafrecht! Wieso ist es keinem Reformator (und auch sonst niemandem) eingefallen, es mit der Bibel an der Hand zu kritisieren? Biblisch ist es nämlich nicht.
Dazu gehört natürlich die katholische Inquisition, die selbstverständliche Anwendung von Gewalt im Namen Gottes! Ein bisschen Verständnis habe ich für unsere «normalen» Zeitgenossen, wenn ihnen das Christentum nicht sehr attraktiv erscheint.
Peter Opitz, Dr. theol., ist Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte von der Reformationszeit bis zur Gegenwart an der Universität Zürich. Er leitet das Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte. Dieses wurde bei der Konzeption des Films beratend mit.
Peter Opitz hat eine Kurzbiografie von Zwingli verfasst und zentrale Texte des Reformators in heutigem Deutsch herausgegeben.
Die Fragen wurden per Mail beantwortet. Bilder vom Film: © Ascot-Elite