Zeit für Experimente!
Freiräume, Freude am Probieren und Fehlerfreundlichkeit sind wesentlich für eine «kirchliche Biodiversität». Experimente brauchen die Anerkennung der Kirchenleitung. Und mehr Zeit, als man erst denkt. Als neue Formen von Kirche erweisen sie sich durch die Ausrichtung auf den dreieinen Gott. Die Tagung, an der sich neun Experimente vorstellten, gab Einblicke in eine wachsende Szene, die mehr Aufmerksamkeit verdient.
Drei Frauen in Oftringen nutzten vor 13 Jahren eine Garage um. Nun bieten 30 Freiwillige von Spiis & Gwand Bedürftigen Kleider und Lebensmittel, auch Zeit und Gespräche an: Im Kaffee finden wöchentlich um die 150 Gäste ein Gegenüber. Im Projekt Limitless der Gellertkirche Basel trainieren Junge Sprünge über Dächer und Treppen – und unterbrechen dies für eine Kurzpredigt.
«Wir haben doch viel mehr zu bieten als der Barkeeper», sagten sich Christen in Lörrach und starteten die Café-Kirche. Die Gemeinde feiert Erntedank openair im Rahmen des Herbst-Drachenfests der Familien des evangelischen Kindergartens; im Frühling führt sie da ein Tauferinnerungsfest durch, wo Kindern auch die Taufe angeboten wird.
Damit das Evangelium wahr wird
Im Mattenhof-Quartier von Bern bringen Kultur-Events Leute zusammen, denen Nachhaltigkeit wichtig ist. Pfr. Christian Walti von der Friedenskirche ist mit dem Mal anders-Team unterwegs. Die Unfassbar von Bernhard Jungen und Tobias Rentsch, auf einem E-Bike montiert, offeriert an Festen und auf Märkten Bier und Sinn-Gespräche. Von der Messy Church in vielen englischen Gemeinden inspiriert ist die Wuselchile in Hettlingen bei Winterthur. Kinder und Eltern kommen zusammen zum Basteln und Essen und Erleben von Geschichten. Coffee & Deeds in Zürich-Hirzenbach ist mehr als ein gediegenes Quartiercafé; auch Aufgabenhilfe und Coaching für Schüler bietet es an.
Insgesamt neun Initiativen und Angebote stellen sich an der Tagung in der Basler Johanneskirche vor. Sie haben im Esssaal Tische; für Gespräche wird über die Mittagspause hinaus Zeit gegeben.
Spiis & Gwand, Oftringen | Limitless Parkour Freerun, Basel
Café Kirche, Lörrach | Mal anders, Bern-West
Die Unfassbar, Region Bern Video: Wie alles begann
Genesis, Basel-West | Wuselchile, Hettlingen
Coffee & Deeds, Zürich-Hirzenbach | Singaswitzerland, Zürich
Ausrichtung auf den dreieinen Gott
Inwiefern sind diese Experimente Kirche? Sabine Brändlin vom Rat des Kirchenbundes SEK bringt es in ihrem Grusswort auf den Punkt: «Auch neue Formen kirchlichen Lebens sollen an unserer trinitarischen Mitte orientiert sein und sie sollen ebenfalls dem einen kirchlichen Verkündigungsauftrag dienen.» Das Kriterium bei neuen kirchlichen Formen ist nicht, «wie fancy oder poppig sie sind, sondern ob sie die Menschen das Evangelium erleben lassen, damit diese Botschaft für Menschen heute wahr wird». In der Familie Gottes seien die Gruppen miteinander verbunden, könnten sie voneinander lernen, sagt Brändlin.
Kirche vielfältig denken
Sabrina Müller vom Zürcher Zentrum für Kirchenentwicklung ZKE plädiert für «kirchliche Biodiversität». Als Ergänzung zu Ortsgemeinden sollten Netzwerk- und Nachbarschafts-Kirchen, auch Interessen-Gemeinschaften entstehen, im Sinn einer mixed economy (Rowan Williams). Es geht darum, mehr Orte zu schaffen, um mit Leuten übers Evangelium ins Gespräch kommen, sagt Müller, Orte, die vom Lebensgefühl der Menschen geprägt sind.
Wenn dies geschieht, sind – so eine Studie zu englischen fresh expressions – drei von vier Teilnehmenden Menschen ohne kirchliche Bindung. Sabrina Müller wünscht eine induktive, prozessuale Theologie: «Was hat es mit Gott zu tun, wenn Junge über Dächer springen?» Nach den herkömmlichen theologischen Grabenkämpfen stünden heute andere Fragen an, etwa: Wie geht Worship, wenn Menschen nicht mehr singen? Es gelte, Kirche für die pluralistische, spätmoderne Gesellschaft vielfältig zu denken.
Was aber, wenn säkular lebenden Menschen der Zugang zu Gott ganz versperrt ist? fragt Christian Walti nach dem Vortrag zurück. Sabrina Müller: «Ich kann Menschen Beziehung anbieten.»
Präsentation von Sabrina Müller: Die vielen Gesichter der einen Kirche
Neues braucht Anerkennung
Die Tagung ist vom Landeskirchen-Forum zusammen mit der Basler Kirche, dem TDS Aarau und a+w organisiert worden. Anstelle von Workshops bietet sie viel Zeit für Gespräche unter den Teilnehmenden und mit den Experimentierenden.
Den zweiten Vortrag hält am Nachmittag Kirchenrat Thomas Schlegel, in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland EKM zuständig für «Erprobungsräume». Er spielt Videos von Teams ein, die aufgebrochen sind. Im Südharz treffen sich Jugendliche in einer alten Kirche – «dann merkt man nach und nach, dass hinter der Gemeinschaft eine Kraft steht, die man bisher noch nicht kannte». In Erfurt sind «Engel am Zug»: Sie gehen betend durch den Bahnhof und sprechen Reisende an. Dass die Leute vor Ort neue Sozialformen in eigener Regie erproben und die Kirche dies billigt und begünstigt, bezeichnet Schlegel als Paradigmenwechsel.
Eine Erkenntnis der letzten Jahre: Neue Formen brauchen Anerkennung von der Kirchenleitung und viel mehr Zeit, als man zuerst denkt. Zu ihrem Weg gehören «Scheitern, Fehler und Sackgassen». Die Erprobungsräume leben von Christen, die gut zuhören können und viel Zeit für andere haben. Sie sagen: «Was uns unterscheidet, ist nicht, was wir machen, sondern wie wir es machen.»
Am Ende des bisher Möglichen
Die EKM hat Mitgliederschwund und Pfarrstellenabbau hinter sich. Thomas Schlegel zitiert die Bischöfin Ilse Junkermann: «Wir sind am Ende unserer bisherigen Möglichkeiten.»
Der Leidensdruck fordert Innovation. Aber diese lasse sich von der Kirche nicht planen, von der Institution nicht bewirken, sagt der Kirchenrat aus Erfurt. «Es lassen sich nur inspirierende Settings schaffen.» Start-Ups hätten nicht die Aufgabe, das Unternehmen zu retten. «Sie sind dafür da, zu lernen und das Umfeld zu erkunden.»
Schlegel benennt die Kriterien, welche die EKM an die Experimente anlegt. Das erste: In ihnen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu. 27 Experimente sind als Erprobungsräume anerkannt (16 von ihnen waren vorher schon aktiv). Einige Anträge auf Förderung habe die EKM abschlägig beschieden; «sie machen’s trotzdem – was wir gut finden».
Von unten wachsen lassen
Wie steuert man etwas von oben, was eigentlich nur von unten wachsen kann? Schlegel gibt Hinweise: Netzwerkartig arbeiten, Menschen motivieren. Engagierte begleiten, coachen und zusammenführen. Offenheit zu Freikirchen und Katholiken. Flexibilität bei Berufsgruppen (manche Teams laufen ohne Leitung oder Beteiligung von Pfarrern). Dem Innovationsklima Sorge tragen. Kirche als Schirm. «Die Frage ist nicht, ob es Neuaufbrüche und Experimente geben wird. Die gibt es. Das können wir nicht steuern. Die Frage ist vielmehr, ob die EKM dabei sein will.»
Die Grundelemente von Kirche bleiben in neuen Formen dieselben: Gemeinschaft und Beziehungen, Essen und Trinken, Teilen und Helfen, Verkündigen und Gebet. Ausstrahlung haben Erprobungsräume «durch Präsenz statt Programm, Beziehung statt Angebot, Geschichten statt Gedanken, Unsicherheit statt Planung», um für erst gleichgültige Menschen relevant zu werden.
Erprobungsräume der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland: Präsentation
Mail-Interview mit Thomas Schlegel