Wie die Kirche mit Freiwilligen auflebt

Freiwillige, ermutigt und freigesetzt, lassen Kirchgemeinden Flügel wachsen. Geistliche Einstellungen, ein sorgfältiges Miteinander und Ermächtigung durch Leitende tragen zur Dynamik bei. An der Tagung des Landeskirchen-Forums LKF in Wil SG am 3. September 2016 schilderten Reformierte aus Bischofszell, Basel-Gellert und Horw, wie sie Freiwillige fördern. Klaus Douglass plädierte dafür, Gemeinde von den Gaben Einzelner her zu entwickeln.

«Zukunftsfähige Kirche ist im Kern Beteiligungskirche.» In seiner Begrüssung machte Pfr. Alfred Aeppli, Präsident des LKF, deutlich, wie viel von Freiwilligen abhängt. In der Kirche sollen alle mittun und sich entfalten können – und so begleitet werden, dass ihnen die Puste nicht ausgeht. Einerseits sind viele Frauen und Männer willens, sich mit Gaben und Neigungen einzubringen. Andererseits suchen Gemeindeverantwortliche Mitwirkende.

Die LKF-Tagung in Wil führte die beiden Perspektiven zusammen und zeigte zwei Schlüssel auf: Freiwillige als einzigartiges Geschenk sehen, sie begleiten und fördern – und neue Dienste von den vorhandenen Begabungen und Menschen her entwickeln.

Impulse für Kopf und Herz
Thomas Gugger und Katrin Huter, Diakon und Vizepräsidentin der gastgebenden Kirchgemeinde Wil, führten durch die Veranstaltung, über der die Sommersonne strahlte. Gugger betonte: «Es geht um unsere Haltung, unser Herz – nicht nur, dass wir uns Wissen aneignen, sondern dass wir uns von Gott berühren lassen.»

Freiwillige – nicht zu organisieren
Der Thurgauer Kirchenratspräsident Wilfried Bührer wies darauf hin, dass die Kirche Freiwillige nicht organisieren kann, so wie der Staat oder Unternehmen einen Bedarf erkennen und Lücken füllen. «Es geht um die Haltung – von allen Seiten.» Die Sichtweisen von Freiwilligen, Angestellten und Behörden dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dass Besoldung/Entschädigung ein schwierigesThema ist, verschwieg Bührer in seinem Grusswort nicht.

Sichtweisen integrieren: Wilfried Bührer

Der Kirchenleiter erwartet, dass Angestellte auch Freiwilligen-Arbeit tun – übers Pflichtenheft hinaus. Was am Ort gilt, trifft auch auf Strukturreformen zu: «Man kann nicht das Territorium eines Kantons vermessen und sagen: So findet Kirche statt.»

Allgemeines Priestertum …
In der Reformation und ihrem 500-Jahr-Jubiläum verankerte Klaus Douglass, Beauftragter für Gemeindeentwicklung der Landeskirche Hessen-Nassau, seinen pointierten Vortrag. «Wir setzen uns als Zwerge auf die Schulter von Riesen und suchen etwas weiter zu sehen.»

Die Reformatoren hätten ein doppeltes Ziel verfolgt: «die Kirche auf die Höhe der Heiligen Schrift zu bringen» – und die kirchliche Praxis an die Zeit heranzuführen. 500 Jahre später gelte es das Gleiche zu tun (was gerade nicht heisse, dieselben Lieder zu singen!).
Folien des Vortrags als PDF
Klaus Douglass zur Gemeindeentwicklung: «Freiräume eröffnen»

… in einer neuen Reformation verwirklichen
Dringend ist für den Pfarrer und Autor die Verwirklichung des allgemeinen Priestertums, das Martin Luther aufgrund des Neuen Testaments ursprünglich forderte und förderte. Der Kampf gegen «Schwärmer» brachte ihn und die anderen Reformatoren davon ab.

Dem Prinzip, das die Reformatoren in der Heiligen Schrift erkannten, gilt es darum heute mit einer neuen Reformation der Grosskirchen endlich Leben einzuhauchen: Alle Christen haben von der Taufe die gleiche Weihe – alle, nicht bloss Ordinierte, sind geistlichen Standes.


Eine Lebenshaltung
Priestertum ist «eine Lebenshaltung, kein Beruf». Es realisiert sich laut Klaus Douglass darin, dass Christen und Christinnen «vor Gott für die Menschen eintreten, vor den Menschen für Gott eintreten und sich schützend zwischen die Menschen und die Kräfte des Bösen stellen». In diesem Sinn lassen sich alle Dienste in der Gemeinde als priesterlicher Dienst verstehen!

Doch sehen sich die Christen – auch die Freiwillligen – selbst so, dass sie priesterlich handeln? Eindringlich plädierte der Referent dafür: «Alles, was wir tun, können wir in priesterlicher Haltung tun. Es gibt hier nicht einen einzelnen Menschen, der unbegabt wäre.»

Räder, die ineinander greifen
Dabei bezeichnete Douglass das allgemeine Priestertum nüchtern als ein Rädchen im Räderwerk der Gemeinde. Dieses läuft nur, wenn weitere Rädchen ineinander greifen: gesunde Spiritualität, die geistliche Mündigkeit der Gläubigen, eine bevollmächtigende Leitung und liebevolle Beziehungen. Die Leitenden haben, um Freiwillige zu fördern, nach ihren geistlichen Gaben und Neigungen, nach individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu fragen und auch auf ihre Erfahrungen zu achten (Shape-Profil nach Rick Warren). So finden sie ihren Platz in der Gemeinde: «Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat» (1. Petrusbrief 4,10). 

Gaben, Neigungen, Erfahrungen des Einzelnen sind wichtig: Klaus Douglass.

Jede und jeder begabt und beauftragt
In der Kirchgemeinde in Niederhöchstadt bei Frankfurt, die Douglass bis 2009 leitete, begann man zu fragen, wozu Gott einen Menschen herschickt. Er erzählte in Wil, wie er einer bettlägerigen Frau darlegte, dass sie anhand des Gemeindebriefs für die Gemeinde beten könne. Eine andere Frau, die das Gehör verlor, kam zu ihm und bot an, für Taube zu übersetzen. «Wenn wir eine Schwäche Gott zur Verfügung stellen, ergibt das Dienst.»

«Viele kennen ihre Gaben nicht»
Landauf landab ist das nicht so: «Viele kennen ihre Gaben gar nicht.» Klaus Douglass schätzt, dass 80% der Freiwilligen nicht im Bereich ihrer Gaben mitarbeiten – stattdessen Aufgaben erfüllen, die man ihnen überträgt.

Er wiederholte in Wil, was er seit Jahren anregt: Gemeindeleiter sollen sich gemäss dem Neuen Testament als Anleiter betätigen (Epheser 4,12); ihnen obliegt, Freiwilligen-Arbeit ins Leben zu rufen. Vollzeiter sind dazu da, «dass genug Leute auftreten und ihre priesterliche Berufung wahrnehmen».

Wie Mitarbeiterförderung gelingt
Auf den Hauptvortrag folgten im Kirchgemeindehaus in Wil praxisgesättigte Inputs aus drei Kirchgemeinden, die seit Jahren kreativ um Freiwillige werben und auf ihr Engagement abstellen. Die Gruppen aus Bischofszell, Horw und Basel (Gellertkirche) verdeutlichten drei Haltungen, welche der Gemeindeentwicklung mit Freiwilligen förderlich sein: Menschen mögen – Verantwortung teilen - Glauben wecken und fördern.

Haltung 1: Menschen mögen
Daniel Frischknecht, in Bischofszell Coach, angestellt für Mitarbeiterförderung, wurde deutlich. «Bevor du Menschen mögen kannst, musst du mit dir klar kommen, zutiefst wissen, wer du in Jesus bist.» Die innere Haltung bleibt dem Gegenüber nicht verborgen. Laut Frischknecht wird Freiwilligen-Arbeit nicht unbedingt gesucht – «aber alle möchten Wertschätzung bekommen, im Herzen bewegt und ermutigt werden, bei etwas Grossen dabei sein.»

Versöhnt leben: Daniel Frischknecht (rechts) und das Team aus Bischofszell.

Der Coach rief auf, grosszügig und respektvoll zu leben. Und Versöhnung zu suchen: «Es lohnt sich, mit Leuten einen Weg zu gehen im Bewusstsein, dass wir uns wieder treffen.» Mit Daniel Frischknecht standen eine Frau und zwei junge Männer auf der Bühne, die in den letzten Jahren Verantwortung übernommen haben. Silvio Rüegger, neu Jugendbeauftragter der Kirchgemeinde: «Ich kann Kritik annehmen in dem Mass, wie ich weiss, dass der andere mich liebt.» Ihn habe Frischknechts Vorbild motiviert; in der Beziehung zu ihm sei er bereit geworden, grössere Aufgaben zu übernehmen.

Haltung 2: Verantwortung teilen
Die Ärztin Ruth Burgherr wirkte gern als Kirchgemeindepräsidentin in Horw, weil ihre Führungskompetenzen gefragt waren und sie etwas bewirken konnte. In ihrer Amtszeit habe sie erlebt, dass sich die Kirchenpflege von einem Verwaltungsgremium zur Leitungsgemeinschaft wandelte. Aus ihren Erfahrungen leitete Burgherr neun Grundsätze fürs Teilen von Verantwortung ab (PDF). Für Jonas Oesch, seit zwei Jahren Pfarrer in der Gemeinde bei Luzern, hängt die Bereitschaft oft vom Gestaltungsspielraum ab, der gewährt wird. Gemeindeleiter müssten sich ehrlich fragen, wie viel Verantwortung Freiwillige in welchen Bereichen übernehmen dürfen.

Gemeinsam leiten und Verantwortung abgeben: Ruth Burgherr.

Haltung 3: Glauben wecken und fördern
Die drei Referenten aus der Basler Gellertkirche schilderten, wie sie die «Vordertür öffnen und die Hintertür schliessen“. Die Einladung zum Glauben sei seit der Gellert-Gründung vor 52 Jahren wichtig, sagte Pfr. Dominik Reifler. Als die Arbeit wuchs, wagte man Pfr. Bruno Waldvogel für neue Dienste an den Menschen anzustellen, finanziert durch einen Förderverein. Dankbarkeit für das von Jesus Christus Empfangene, eine Vision vom Ziel der Mitarbeit, Herausforderungen und Ermutigung motivieren Freiwillige nachhaltig.

Den nächsten Schritt aufzeigen
Gemeinde wächst durch Liebe für Menschen, die auf der Suche nach dem wahren Leben sind. Rebecca Pursell schilderte, wie Jesus im Konflager hörbar zu ihr sprach. «Ich merkte: Ich muss mein Leben auf ihn ausrichten.» Dies teilt sie nun mit anderen Jugendlichen. Laut Christian Peyer experimentiert Gellert mit neuen Formen, wie Menschen im Glauben noch reifer werden können. «Wir helfen Menschen, Teil des Ganzen zu werden und weitere Schritte zu tun.»

Begeistert von Jesus: Rebecca Pursell und Dominik Reifler

Kleingruppen, Lerngemeinschaften, Apéros – und die Bibel

In Kleingruppen, auch offenen, wird Freundschaft gepflegt, in Teams Engagement gefördert. Predigtreihen ermöglichen, Alltagsfragen vertieft aufzunehmen. Mehrmals jährlich lädt die Gellertkirche zum next-Apéro, laut Peyer, um den nächsten Schritt auf dem Glaubensweg aufzuzeigen und dazu einzuladen.

Der Sozialdiakon trifft sich seit einem Jahr mit drei jungen Männern zum Austausch. Der aktuelle Hit im Gellert sind die Abende «Bibel entdecken»: Über 100 Personen nehmen teil – und keiner der Angestellten ist dabei aktiv.

Fröhliche Heiden irritieren
Die Teilnehmenden diskutierten Fragen zu den drei Haltungen an den Tischen. Vor der Schlussfeier in der Kirche skizzierte Klaus Douglass fünf praktische Schritte zum allgemeinen Priestertum, fünf B: begeistern, bekehren, berufen, befähigen, begleiten. Es gelte zuerst «Menschen zu irritieren, die in einem fröhlichen Heidentum leben». Die Kirche könne Begeisterung «sehr wirkungsvoll verhindern».

Zum zweiten B äusserte Douglass: «Wenn wir wollen, dass die Menschen ihre Herzen Gott zuwenden, müssen wir unsere Herzen ihnen zuwenden.» Weiter sollten die Gemeinden es wagen, Leute gezielt für Arbeit anzufragen, «an sie zu glauben, bevor sie an sich selbst glauben». Christen sollen dazulernen, sich ausbilden lassen. «Wer als ewiges Talent gilt, hat nichts gemacht aus seiner Begabung.»

Wiler Gastfreundschaft
40 Freiwillige der Kirchgemeinde Wil sorgten für das Wohl der 150 Teilnehmenden. Von Thomas Gugger geleitet, gewährleisteten sie einen reibungslosen Ablauf der Tagung. Das Landeskirchen-Forum dankt ihnen herzlich. Die Schlussfeier mit einer Wiler Kirchenband schloss das höchst anregende Treffen ab. Auf einer Karte notierten die Teilnehmenden, welchen Impuls sie als Perle mit nach Hause nahmen.