Was wenn Kirche digitaler wird?

Wie kann, wie soll Kirche sich digital entwickeln? Wie kommen wir mit den Lockdown-Erfahrungen weiter? Eine Erhebung zeigt, dass Bildung und Konfirmandenarbeit im Frühjahr 2020 besonders litten und sich das Telefon für die Seelsorge bewährte, während neue Gottesdienstformen ausprobiert wurden. Chancen und Schattenseiten der digitalen Formate wurden an einer Tagung mit Fachleuten theologisch reflektiert.

Der Lockdown im Frühjahr 2020 brachte das gewohnte kirchliche Leben abrupt zum Erliegen. Eine ökumenische Forschungsgruppe unter dem Kürzel CONTOC (Churches Online in Times of Corona) führte nach Pfingsten bei Kirchenleuten eine Online-Umfrage durch: wie sie reagierten, ob und wie sie im Lockdown ihre Tätigkeiten (Gottesdienste, Seelsorge, Diakonie, Bildung) «auf digital» umstellten und welche Erfahrungen sie dabei machten.

In der Schweiz beantworteten gegen 750 Pfarrpersonen und Seelsorgende die 50 Fragen, darunter 427 Reformierte in der Deutschschweiz. Welsche Reformierte konnten nicht zur Teilnahme motiviert werden; in über 20 Ländern nahmen insgesamt etwa 6'500 Personen teil.

Forscherinnen und Forscher der Theologischen Fakultät und des Zentrums für Kirchenentwicklung an der Universität Zürich (ZKE) und des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts, St. Gallen (SPI) legten am 16. März 2021 an einer Online-Tagung CONTOC-Ergebnisse aus der Schweiz vor und formulierten Perspektiven für die kirchliche Tätigkeit nach dem Digitalisierungsschub.

Bleibend Not-Option oder bald selbstverständlich?

Laut Prof. Thomas Schlag von der Theologischen Fakultät in Zürich lautet eine Hauptfrage: Wird «das Digitale» von einer Notfallop(era)tion zur kirchlichen Selbstverständlichkeit? Sehr viele hätten sich getraut, kreativ zu reagieren, als der Lockdown verordnet wurde. Allerdings seien die Befragten nur zur Hälfte in Social Media unterwegs. Reformierte in Städten waren zu 59 Prozent auf SM-Kanälen präsent.

Zur Weiterführung der im Lockdown lancierten digitalen Angebote hätten sich Katholiken insgesamt reservierter gezeigt. Man habe Chancen wahrgenommen, doch sei die Kirche – wie eine reformierte Theologin kritisch bemerkte – «in der Gesellschaft nicht verstärkt» sinnstiftend wahrgenommen worden.

Dr. Oliver Wäckerlig vom SPI hob in der Auswertung von Lockdown-Erfahrungen hervor, die Befragten hätten Veranstaltungen eher abgeblasen als digitalisiert. «Einige resignierten oder warteten ab – man dachte, nur bis im Sommer.» Insgesamt habe der Arbeitsaufwand nur für eine Minderheit zugenommen. Die Veränderungsbereitschaft sei sowohl durch die Efforts zur Krisenbewältigung wie auch zur Digitalisierung bestimmt gewesen. Nach der zweiten Welle stellt sich für Wäckerlig die Frage, ob noch Handlungsspielraum vorhanden – oder ob er schon mit neuen Routinen gefüllt ist.

Manche verzichteten und verwiesen auf andere Angebote

Den Forschern zeigte sich laut Pfrn. Stefanie Neuenschwander vom ZKE eine grosse Vielfalt von digitalen Gottesdienstformaten in der ersten Welle. Von den reformierten Umfrageteilnehmenden verzichteten indes 13 Prozent auf solche Formate – aus den verschiedensten Gründen. Viele verwiesen auf die Angebote anderer. «Digitalisierung führt zur Vernetzung und zum Teilen von Ressourcen.»

Von den Befragten hatten nur 10 Prozent vor dem Lockdown Gottesdienste digital angeboten. Digitale Abendmahlsfeiern führten nun 14 Prozent der Reformierten durch. Als schwierig wurde empfunden, digital «Erinnerungsmomente körperlich, gemeinschaftlich und gedanklich nachzuvollziehen». Laut Umfrage machten Pfarrpersonen, die digitale Gottesdienste im Team vorbereiteten, mehr gute Erfahrungen, erhielten auch deutlich mehr Rückmeldungen.

Kommunion nicht ohne leibliche Teilnahme

18 Prozent der Priester, die antworteten, boten im Lockdown Eucharistiefeiern mit Einladung zur geistlichen Kommunion an. Doch die katholische Theologie ist hier eher kritisch. «Eine gemeinsame Eucharistiefeier an verschiedenen Orten ist nach katholischem Eucharistieverständnis nicht möglich», hielten Prof. Brigit Jeggle-Merz und Prof. Martin Klöckener in einer Response fest. «Wesentliche Dinge muss der Mensch leibhaft erfahren.»

Die genannten Gründe, keine Angebote online zu stellen.

Unter Corona-Bedingungen seien die Gläubigen zudem «viel stärker in eine rezeptive Rolle gedrängt» worden. Die gottesdienstliche Vielfalt habe durch den Lockdown gelitten. Jeggle-Merz und Klöckener folgerten, bei digitalen Formaten sei «die gemeinschaftliche Vorbereitung und Feier der Gottesdienste fast unabdingbar: Der Heilige Geist verteilt die Charismen ganz unterschiedlich.»

Dr. Katrin Kusmierz vom Kompetenzzentrum Liturgie der Uni Bern bemerkte in der Zoom-Diskussion, viele wünschten digital einen Gottesdienst vor Ort zu sehen, mit einer vertrauten Pfarrperson. Klöckener warf ein, menschliche Nähe sei «qualitativ etwas anderes» als digital Ermöglichtes. Gestreamte Eucharistiefeiern seien für Angehörige von Risikogruppen hochwillkommen, hiess es, doch nähmen sie die Leute nicht mit hinein.

Diakonie im Schatten

Zu Diakonie und Seelsorge in der ersten Welle referierte Dr. Arnd Bünker vom SPI. Eingangs bemerkte er, «fehlende Systemrelevanz» der Kirchen sei vor allem an öffentlichen Gottesdiensten festgemacht worden. Von Seelsorge und Diakonie sei dabei kaum die Rede gewesen – «Diakonie wird in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mit Kirche identifiziert».

Die Umfrage ergab bei reformierten und katholischen Seelsorgenden in der Deutschschweiz fast gleiche Resultate. Viele Gemeinden verwiesen online auf die Angebote kirchlicher Hilfswerke, verbreiteten Spenden- und Solidaritätsaufrufe oder informierten über Austausch- und Hilfeplattformen. Einige Gemeinden und Pfarreien gewannen im Lockdown Freiwillige für diakonische Tätigkeiten.

Seelsorge in Agglomerationen schwieriger

Bei der Seelsorge zeigte sich ein gemischtes Bild. Fast gleich viele Akteure hatten mehr bzw. weniger Arbeit und fanden, sie hätten gut bzw. nicht genügend agiert. In Agglomerationsgemeinden konnten seelsorgliche Kontakte im Lockdown am schlechtesten bewahrt werden. Laut Arnd Bünker macht die Umfrage deutlich, dass Frauen seelsorgliche Kontakte stärker ausbauten als Männer.

Pfrn. Marion Werner berichtete in der Diskussion, ihre Gespräche mit Müttern hätten stark zugenommen. «Säkular lebende Menschen wussten nicht mehr wie beten.» Sie habe Kirchenkaffee doch durchgeführt, in Form von Chats nach Gottesdiensten. Der Austausch sei sehr lebendig gewesen und habe Einsamkeit aufgehoben – «nicht ein körperliches, aber ein sehr sinnliches Erlebnis.»

Arnd Bünker an einer Tagung in Wabern, 2019.

Bildung und Unterricht – down

Am Nachmittag informierte Prof. Thomas Schlag über kirchliche Bildungsangebote im Lockdown. Ein Grossteil fiel aus, vor allem jene für Senioren. Gravierend war der Einbruch im Konfirmandenunterricht und im schulischen Religionsunterricht. Offenbar habe «ein nicht geringer Teil der Verantwortlichen eher wenig Kontakt aufrechterhalten».

Als Letztes präsentierten die Forscher Erkenntnisse zum Wandel pastoraler Identität. Dr. Sabrina Müller vom ZKE verwies eingangs darauf, dass Pfarrpersonen vor allem durch Freiwillige ihrer Gemeinde Unterstützung erfahren hatten. Kirchliche Fachstellen und Landeskirchen trugen dazu weniger bei. Gewünscht wurden nach dem Lockdown vertiefte theologische Reflexion, regionale Kooperation und mehr freiwilliges Engagement im Online-Bereich, nicht aber die Einstellung von Mitarbeitenden.

Stabiles oder starres Pfarrer-Selbstverständnis?

Insgesamt legten die Pfarrpersonen nach der ersten Welle eine «erstaunliche Rollensicherheit» an den Tag. Sabrina Müller und Prof. Ralph Kunz gaben dafür unterschiedliche Deutungen. Haben sich Kirche und Gesellschaft so stark entfremdet, dass die Krise nicht auf die Rollenbilder der Pfarrer durchschlug? Versuchten Pfarrpersonen in der Krise, als institutionelle Vertreter/innen nicht aus der Rolle zu fallen und den Schein der Normalität zu wahren?

Sabrina Müller

Thomas Schlag kündigte am Ende der Tagung eine weitere Umfrage im Rahmen der CONTOC-Forschung an; diese werde international fortgeführt. Eine für die Diskussion formulierte Frage wird weiter brennen: «Wie können Nähe und Beziehung bei immer stärkerer Regionalisierung bewahrt werden, so dass eine Kultur der Unterstützung entsteht und erfahrbar wird?»

Website: www.contoc.org

Sliderbild: Jahresfest des Evangelischen Gemeinschaftswerks 2020,
(c) Michael Käser
Bild Thomas Schlag: Annika Falk-Claussen. Bild Sabrina Müller: zvg
Grafiken: Stefanie Neuenschwander