Wahrheit für den Ernstfall
Nach der Pandemie der Krieg: Die Krisen folgen einander rascher. In der Überforderung der Eliten zeigt sich die Schwäche des Westens, durch die Cancel Culture verschärft sie sich. «Es ist im Westen nicht mehr bekannt, wofür er steht», sagt der Religionsphilosoph Harald Seubert. Dem Verfall des Glaubens sollen Christen mit klarer Verkündigung begegnen.
Dr. Harald Seubert, Ordentlicher Professor für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft an der STH Basel, referierte am 25. März per Zoom vor der Evangelisch-kirchlichen Fraktion (EKF) der Zürcher Kirchensynode. In zwölf Thesen schlug er den Bogen von gesellschaftlichen Entwicklungen zu den Herausforderungen, die sich für die Kirchen und ihre Verantwortlichen daraus ergeben.
Seubert ging aus von der Ambivalenz der Globalisierung. Sie müsste, so die langgehegte Erwartung, die Menschen sehr nahe zusammenführen – Kant dachte, dass zunehmender Handel die Menschen von Kriegen abbringen würde. Tatsächlich ist die Welt trotz digitaler Vernetzung stark zerrissen; Samuel Huntington diagnostizierte schon 1996 einen «Clash of Civilizations».
Müde westliche Welt
Laut Harald Seubert wird «die westliche Dekadenz durch die heisse Religion des Islam gekontert». Gravierend wirkt sich aus, dass die meisten Menschen im Westen nicht mehr wissen, wofür er steht. «Europa wäre ohne den christlichen Glauben nicht, was es ist.» Der Referent verwies auf das Diktum von Theodor Heuss, Europa sei auf drei Hügeln errichtet worden (Golgatha, Areopag, Forum Romanum). In der aktuellen Kultur mit ihrer fast schizophrenen Mischung von Spass und Hypermoral verliert sich das Erbe – «letzlich eine grosse Schwäche», die etwa Peking mit der Verbindung von Autoritarismus und wirtschaftlicher Effizienz ausnützt.
«Andere Völker drehen sehr viel mehr am Rad als Europa.» Dass drei Jahrzehnte nach dem Zerfall von Ostblock und Sowjetunion keine stabile Sicherheitsarchitektur bestand, habe der russische Diktator ausgenutzt. Seubert berichtete, in Halle, wo er dozierte, habe man diskutiert, ob Russland zu Europa gehöre. «Wir sehen gerade in diesen Wochen, dass dieses eine Europa zerbricht.»
Europa ohne Gott denken – geht nicht
Den Religionsphilosophen, der unter anderem über Platon und Heidegger publiziert hat, beschäftigt die Frage, was eine Gemeinschaft eigentlich zusammenhält. Er verwies auf den Bund, «den letztlich Gott mit Menschen schliesst». Daher kann «der Versuch, die europäische Einheit säkular zu schaffen, ohne Bezug zu Gott, nur misslingen».
Die Kraft des politischen Liberalismus, Gemeinsinn zu stiften, ist laut Seubert längst zerbrochen. «Das immer Liberalere, was man so vor sich hergetragen hat, kommt an sein Ende.» Der Liberalismus werde durch Gesinnungspolitik («Klimareligion», Cancel Culture) verdrängt; Blasen im Netz trügen zur Radikalisierung bei. Mit Peter Hahne urteilt Seubert, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft ihre Wurzeln verspielt hat. Vorletzte Dinge rücken an die letzte Stelle (D. Bonhoeffer).
Bigotte Besserwisserei
Harald Seubert warnte vor der besserwisserischen Cancel Culture, welche Traditionen mit Verdacht beäuge. «Wenn alle Minderheiten zu ihrem Recht kommen, zerbirst eine Gesellschaft.» Vom neuen Jakobinertum würden Freund und Feind aggressiv unterschieden, auch Generationen gegeneinander ausgespielt. «Man findet Bestätigung in der eigenen Blase.» Die Brüche in der Gesellschaft vertieften sich. Andersdenkende würden in Deutschland öfter als Nazis angeschwärzt.
Europäisch-gottloses Stimmengewirr
Abhilfe ist nicht in Sicht. «Selten standen in der westlichen Welt die politischen Eliten so hilflos und unglaubwürdig massiven Veränderungen und dem Misstrauen der Bevölkerung gegenüber.» Dass man sich im Stimmengewirr kaum noch zurechtfindet, hängt mit dem zunehmenden Unglauben zusammen. «Wenn man an der verbindlichen Wahrheit festhält, muss man eigentlich an Gott festhalten», äusserte Seubert mit Verweis auf Ingolf U. Dalferth. «Die Leute wollen etwas Gutes, aber sie haben keinen Massstab.» An den Universitäten gehe es nicht mehr um Wahrheit, sondern wie man sich positioniert.
Selbstinszenierung statt Pflichterfüllung
Der Gelehrte äusserte sich zur «Generation Selfie». Wer dauernd online sei, werde systemisch dazu getrimmt, gut auszusehen, statt seine Pflicht zu tun. Der Vater von zwei erwachsenen Söhnen findet, dass man junge Menschen nicht reifen lässt, «dass das Problemlösen überlagert wird von Selbstdarstellung».
Eine Generation, die alles besser wissen will (so die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht), verfällt der Illusion, man könne das Rad neu erfinden und sich von der Tradition abschneiden. Dazu diene auch der aktuelle Newspeak (George Orwell), von dem die deutsche Presselandschaft – anders als die NZZ – geprägt sei. Der Transhumanismus befeuert und bündelt Wünsche, den Menschen neu zu erfinden – jenseits seiner Endlichkeit und Begrenztheit.
Rückzug oder Mitschwimmen
Wie wirken sich die Trends in den Kirchen aus? Nach Harald Seuberts Wahrnehmung sind die evangelischen Landeskirchen dem «anything goes» der Postmoderne weitgehend erlegen; es prägt auch fromme Kreise zunehmend. «Dies führt zur Preisgabe der ewigen einen Wahrheit.»
Der Referent erinnerte an Ernst Troeltsch. Der Theoretiker des Historismus sah vor hundert Jahren die Christen vor der Alternative, sich zurückzuziehen oder «so mit dem Zeitgeist zu schwimmen, dass man sie nicht mehr von ihm unterscheiden kann». Die EKD rede nicht mehr vom Menschen vor Gott. In den aktuellen Krisen fehle der Kompass. Doch «nur das Wahre, Echte, Sachgemässe kann angesichts dieser Lage überzeugen».
«Die Wahrheit wird euch frei machen»
Angesichts des tragischen Verfalls des «Humanismus ohne Gott» (Henri de Lubac) sollten Christen der desorientierten Generation Gottes Wort neu verkündigen, zur Umkehr auffordern und den letzten Horizont einbringen. Glaube und Politik sind zu unterscheiden (Zwei-Reiche-Lehre Luthers). Alles Handeln der Menschen auf der Erde untersteht dem letzten Gericht des dreieinigen Gottes, des Herrn der Zeiten.
Mit dem Vortrag machte der in Nürnberg und Riehen wohnhafte Theologe der kleinsten Fraktion der Zürcher Kirchensynode Mut zur klaren evangelischen Rede. In seinen Antworten auf Fragen erwähnte er den Konformitätsdruck in der Pfarrerausbildung. Es gelte, geistlichen Versuchungen zu widerstehen, die Selbstgefälligkeit der wohlstandsverwöhnten Kirchen zu überwinden und «dem Geist Gottes mehr zu vertrauen als dem Geist der Menschen». Notwendig ist der «Sprung in die teure Gnade».