«Wachet und betet»
«Spiritualität, Mystik und Gebet in Zeiten politischer Unruhe»: Mit der Erschütterung der wohlstandverwöhnten Welt erlangt das Thema der Freiburger Studientage 2020 ungeahnte Dringlichkeit. Die Vorträge sollten an drei Vormittagen Mitte Juni die Aula der Uni Fribourg füllen. Nun werden wichtige Referate im Wochentakt online gestellt – in der Flut der Pandemie-Infos eine höchst willkommene Gelegenheit, sich auf Hauptsachen des Glaubenslebens zu besinnen.
Die Veranstalter starten ihr Online-Angebot mit der «Theologie des Gebets». Einleitend schreibt der Hauptreferent Hans Boersma, oft sei es «die Bedrohung durch eine Katastrophe, die uns in die Knie zwingt». Sowohl Europäer als auch Nordamerikaner hätten «das Gebet, die geistliche Lesung, das Fasten und andere Praktiken, die den Herzschlag der christlichen Tradition ausmachen, weitgehend vergessen». Die Pandemie sei als Chance zu begreifen, «die Jenseitigkeit des christlichen Glaubens wieder zu entdecken».
In einem Grusswort empfiehlt Frère Alois, Leiter der Communauté de Taizé, das gemeinsame Gebet. Die Brüder in Taizé kommen dreimal täglich zusammen. «Auf einen längeren Zeitraum sehen wir, dass es uns mehr Freiheit gibt, als dass es uns einengt.» In den letzten Jahren der DDR hätten die Christen dort «Wachet und betet» oft gesungen. Frère Alois hofft, dass die Studientage helfen, zu den Quellen des Glaubens zu gehen und durchs Gebet den Sinn für die Aufgaben in der Welt zu verfeinern.
Beten nach Gethsemane
Ralph Kunz, Uni Zürich, leitet seinen Vortrag mit Worten von Dietrich Bonhoeffer ein. Er betrachtet christliche Spiritualität vom Wort her, das die Veranstalter über die Tage gesetzt haben: «Wachet und betet» sagte Jesus den drei Jüngern in Gethsemane. Da im Garten ereignet sich „die Erfüllung der Gebetslehre Jesu» – und die drei «verschlafen ihren Einsatz».
Ralph Kunz deutet den Gebetskampf mit den Begriffen der Christologie in der Spur von Hans Urs von Balthasar: «Zwei Naturen prallen aufeinander: Gott und Mensch unvermischt und ungetrennt.» Die alte Kirche betonte das Leiden des Gottmenschen, die mittelalterliche Passionsmystik das Mitleiden. Die Reformatoren akzentuierten die Rechtfertigung (Gethsemane als Teil des Heilswerks), wogegen die Theologen der Moderne den Menschen Jesus leiden sehen.
Zwischen unserem Beten und dem Gebet des Gottmenschen Jesus ist zu unterscheiden – ein erster Schlüssel. Laut Kunz ist zugleich – ein zweiter Schlüssel – die Verbindung von seinem Beten und unserem Beten zu sehen. Das Versagen der Jünger in Gethsemane, dem die Verleugnung durch Petrus folgt, ernüchtert – das Ende religiösen Heldentums. Doch Jesus vergibt, wie Ralph Kunz betont; er beschämt und bestraft Petrus nicht, sondern sendet ihn. «Jesus stellt die Verbindung wieder her, an der ihm von Anfang an lag… Unsere Spiritualität, Mystik und Gebet muss durch diesen Bruch hindurch. Es gibt keine Abkürzung.»
Steigt aktuell «die Aufmerksamkeit der Weltkinder für unsere Spiritualität»? Kunz mahnt, sich nicht von solchen Phantasien verführen zu lassen. «Reden wir über den Bruch in uns und die Vergebung, die uns wieder aufrichtet.»
Im Alltag anhaltend und ehrlich beten
Fulbert Steffensky plädiert für christliche Spiritualität im gottlos geprägten Alltag: «Ganzheit im Fragment». Könnte es sein, dass wir Zeiten entgegengehen, in der die Sehnsucht nach der Sehnsucht, Gott zu lieben, verloren geht? In eindringlichen Worten kontrastiert der Theologe die Welt, die er selbst als Kind erlebte, mit jener seiner Enkel, in der die Tradition verblasst, «die Stimme der Toten leise geworden ist».
Waren die Menschen früher Nesthocker, sind die Enkel heute «Nestflüchter: frei und in der Gefahr, kein Nest zu finden». Nicht ohne Anklänge an Dorothee Sölle, mit der er verheiratet war, plädiert Steffensky für ein Ernstnehmen der Tradition, für das Anerkennen von Grenzen und die Pflege von Formen. Und dies weltbezogen: «Spiritualität ist nicht die Suche nach geistlicher Vervollkommnung an der geschundenen Welt vorbei.»
Worauf kommt es an gegenüber dem imperialen Lebensgefühl der Macher? Fulbert Steffensky nennt Geduld, Langsamkeit, Warten können, Gelassenheit, Ehrfurcht, Demut, Askese... «Die reine Quantität entsinnlicht das Leben.» Er übt Kritik an «Verfahrens- und Erlebniszwängen», welche Menschen mit dem Wort Spiritualität verbinden.
Zeitgeistkritisch, bezugsreich und in erstaunlich einfachen Worten entwirft der Theologe und Autor, was eine Spiritualität im Alltag ausmachen könnte. Er plädiert für Begrenzungen, für Sitten und Übungen, um die Schönheit der christlichen Tradition zu entdecken. «Wir brauchen Lebenssitten, die uns von der unfruchtbaren Mühe befreien, ständig authentisch zu sein.»
Spiritualität ist laut Steffensky wie ein geistiges Handwerk zu üben. Sie sei nicht den besonders religiösen Genies vorbehalten, sagt er. «Es geht um die Kunst, im Fragment die Spuren der Vollkommenheit zu suchen… Ich kann Fragment sein und ich brauche mich nicht in der Jagd nach meiner eigenen Ganzheit zu erschöpfen.»
Fulbert Steffensky beschliesst den Vortrag mit 15 Regeln zum Üben des Gebets im Alltag, im Bewusstsein der Gebete der geistlichen Väter und Mütter. Die zweite: «Sei nicht gewaltsam mit dir selbst! Kümmere dich nicht darum, ob du auch wirklich andächtig bist. Bete und überlass die Ganzheit deines Gebetes Gott!» Am Ende erinnert er an Römer 8,26: «Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, wie wir beten sollen, wie sich’s gebührt. Der Geist tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.»
Beten, Individualität und Kreativität
Silvianne Aspray geht aus von der in Corona-Zeiten klingenden Mahnung von Jakobus 4,15, unter der Bedienung «so Gott will» zu planen. Darin drückt sich das Vertrauen aus, «dass Gott unsere Zeit und unsere Pläne in seinen Händen hat». Diese Haltung befruchtet das Beten, so Aspray, und ist zugleich ein ständiges Gebet: «als ob unser Unterbewusstsein weiss, dass alles, was wir haben, zu jeder Zeit von Gott kommt und dies dankbar empfängt».
Betende sind sich ihrer Beziehung als Geschöpfe zum Schöpfer bewusst. Diese ist asymmetrisch: «Die Beziehung zu Gott ist das Fundamentalste für die Existenz der Welt, aber Gottes Beziehung zur Welt ist für ihn nicht gleich fundamental.» Die Welt hat nicht den Zweck, Gott zu vervollkommnen – viel mehr soll die Schöpfung Zeugnis von Gottes Grosszügigkeit geben und damit Gott verherrlichen.
Laut Jakobus 1,17 kommt «jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk» von Gott. Dies hat seinen Grund in Gottes Wesen: «Seine innergöttliche Kreativität – das liebende Beziehungsgeflecht der Dreieinigkeit – überfliesst aus sich heraus und erschafft die Welt aus purer Gnade.» Eben dies, so Silvianne Aspray, wird jedoch seit der Aufklärung verneint, mit der Behauptung, «dass die Entdeckung der Würde des Individuums mit einer Ablösung von Gott einhergeht … dass wir als Menschen unser Potential nur voll entfalten können, wenn wir unabhängig sind von Gott».
Aus der erwähnten Asymmetrie wäre aber zu folgern, dass Geschöpfe dem Schöpfer nichts streitig machen können. Kreativität, Wissenskraft und Entdeckergeist gehören zu seinen Gaben! «Wir machen Gott viel zu klein, wenn wir davon ausgehen, dass wir in irgendeiner Konkurrenzbeziehung zu Gott stehen könnten. Gott ist viel, viel grösser als das.» Und das heisst, so Aspray: «Individualität und Gottesbeziehung schliessen einander nicht aus.»
Als Kronzeugen avant la lettre führt Silvianne Aspray Nikolaus von Kues an, den grossen Theologen des 15. Jahrhunderts. Dieser schrieb eine Meditation über Jakobus 1. Danach widerspiegeln die Menschen alle etwas von Gottes Licht – als je einzigartige und unvollkommene Spiegel. Gott in seiner ganzen Fülle könne nicht von einem einzigen Geschöpf empfangen oder gespiegelt werden; die unendliche Kraft des Schöpfers gebe sich in der Vielfalt seiner Gaben zu erkennen.
Mit dem Denker aus Kues darf gegen den Geist der Moderne festgehalten werden: «Individualität geht nicht auf Kosten unserer Gottesbeziehung, sondern wird durch sie erst möglich… Der Geber aller Gaben gibt nichts weniger als sich selbst. Wenn wir seine Gaben empfangen, dann empfangen wir ihn, doch auf unsere ganz individuelle, menschliche Weise. Wir werden zu Spiegeln seines Lichts gerade wenn wir es wagen zu wissen, zu entdecken und zu erschaffen. Ganz uns selbst zu sein, und gleichzeitig alles Gute Gott zu verdanken: das gehört zusammen.» Und dies begründet, trägt und bereichert das Beten.
Gott das Ziel des Menschen
Der gebürtige Holländer Hans Boersma, der seit 2019 am anglokatholischen Nashotah-Seminar in Wisconsin lehrt, beleuchtet die Moderne mit ihrem wissenschaftlichen, «atomistischen Verständnis der Wirklichkeit» vom ganzheitlichen, teleologischen Denken mittelalterlicher Theologen her. «Für die vormoderne Denkweise war eine endgültige Bestimmung die tatsächliche Bestimmung. Das heisst, die Endgültigkeit eines Objekts oder eines Menschen lag in irgendeiner Weise ‹eingebettet› in ihm.» Thomas von Aquin nahm einen «Appetit» der Menschen auf ihr endgültiges Ziel, welcher in ihrer Natur liegt, an.
Boersmas Frage in seinem ersten Vortrag ist, «was es für unsere Spiritualität bedeuten könnte, wenn wir unseren Ausgangspunkt in dem Telos nehmen würden, für das wir geschaffen sind – das heisst, wenn wir das Ende (das Telos) als Anfang von allem nehmen würden, was wir tun».
Den Weg zur Moderne wiesen vor 400 Jahren Francis Bacon und René Descartes, indem sie Gott aus diesen Überlegungen ausschlossen. Boersma sieht eine «moderne Ablehnung einer sakramentalen Teleologie – die Ablehnung der Vorstellung, dass es eine inhärente Verbindung zwischen den weltlichen Dingen (einschliesslich des Menschen) und ihrem endgültigen Sinn gibt». Mit den Anschauungen von Bacon und Descartes habe man nicht mehr akzeptieren können, dass der Mensch für das beseligende Schauen Gottes bestimmt sei. Und generell: «Wir haben die Vorstellung aufgegeben, dass der Zweck einer Sache mit ihrer Natur gegeben sein könnte.»
Der Theologe spricht mit Rückgriff auf C.S. Lewis von der realistischen Metaphysik der Grossen Tradition, die auf dem christlichen Platonismus aufbaute. Diese «wich in der Frühen Neuzeit einer Vision, die Himmel und Erde, das Zeichen und seine Realität, das endgültige Ziel und die Art und Weise, wie wir unser Leben hier und jetzt leben, radikal voneinander trennte».
Gegen Wilhelm von Ockham und spätere Vertreter nominalistischen Denkens stellt Boersma die Suche nach Gott, wie sie in höchster (mittelalterlicher) Intensität Anselm von Canterbury (1033-1109) beschrieb und lebte. In seinem Traktat Proslogion legte Anselm sein Argument für die Existenz Gottes dar. Sein Denken war getragen von und untrennbar verbunden mit dem Verlangen, Gott zu schauen: «Ich wurde geschaffen, um dich zu sehen, und noch habe ich nicht das erreicht, wofür ich geschaffen wurde.»
Ganz gleich, wie sehr Anselm auch kämpfen musste, um zu seiner Schau zu gelangen – so Boersma –: der endgültige Sinn, für den er geschaffen wurde, war für ihn die beseligende Schau selbst. Sowohl Anselms Argument, dass dieser Gott existiert, als auch seine eigene, persönliche Suche nach ihm waren völlig abhängig von göttlicher Offenbarung und von Gott, der sein Verständnis erhellt. «Der Sinn muss sich offenbaren, damit wir es als unseren Ausgangspunkt, unseren Anfang nehmen können.»
Die heutige Gottesbetrachtung (contemplatio Dei) ist laut Boersma eine vorläufige oder erste Art und Weise, Gott zu schauen (visio Dei). «Sie bildet also eine sakramentale Teilhabe an der schlussendlichen Wirklichkeit der Schau Gottes.»
Doch Gott wohnt in einem unzugänglichen Licht. Anselm schrieb: «Ich habe versucht, zum Licht Gottes aufzustehen, und bin in meine Dunkelheit zurückgefallen.» Er war gezwungen anzuerkennen, dass Gott nicht nur die Vorstellungskraft übersteigt, sondern jenseits des menschlichen Denkens selbst liegt. Boersma: «Erst im Himmel wird unser Mangel an Verständnis und Befriedigung der Fülle von Wissen, Liebe und Freude weichen.»
Für den Theologen ist diese «mystagogische Pilgerreise» des grossen mittelalterlichen Denkers vorbildlich. «Sobald wir im Glauben auch nur den kleinsten Blick auf den Gott, der unser endgültiger Sinn ist, erfasst haben, können wir nichts anderes mehr tun, als das Licht seiner Gegenwart als Ausgangspunkt zu nehmen.»
Die Zusammenfassung weiterer Vorträge finden Sie hier.
Bilder oben: Studienzentrum Uni Fribourg/Manuel Dürr