Verletzlichkeit und Würde am Lebensende
Der Suizid ist nicht Privatsache. Um Menschen an der Grenze hat sich die Gesellschaft zu kümmern. An der Vernissage des Buchs «Den Weg zu Ende gehen» in der Kartause Ittingen am 30. August rief der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse zu umfassenden Anstrengungen auf, damit Menschen am Ende des Lebens nicht vernachlässigt werden, sich fehl am Platz vorkommen oder in Isolation fallen.
Die Leitung der Thurgauer Evangelischen Landeskirche Kirche hat das Buch mit dem Untertitel «In der Begegnung mit dem Sterben Lebendigkeit erfahren» selbst verlegt. Es enthält Beiträge von Fachleuten und Zeugnisse von Angehörigen.
Damit setzt die Kirche einen anderen Akzent als der Berner Synodalrat. Dieser legte im Sommer 2018 in einem Positionspapier der Pfarrschaft nahe, Menschen bis ans Ende – auch im Suizid – zu begleiten.
«…dass wir uns umeinander kümmern»
Den Beiträgen des Buchs ist eine Stellungnahme des Thurgauer Kirchenrats unter der Leitung von Wilfried Bührer und der Dekane der Kantonalkirche vorangestellt. Sie erinnern an Dietrich Bonhoeffer, der vor seiner Hinrichtung den Tod als «Beginn des Lebens» bezeichnete. Bonhoeffer hielt dem Selbstmord entgegen, «dass es über den Menschen einen Gott gibt», der gnädig die Verzweifelten ruft. Die heutige Situation, so die Thurgauer Kirchenleiter, verbietet es, «über die Fragen am Lebensende allzu absolut oder gar rechthaberisch zu sprechen».
Doch äussern sie ihre Sorge über die Forderung nach dem «Gift» auch für lebenssatte Menschen: «Sollten Suizide, und gerade auch solche ausserhalb grösster persönlicher Notlagen, zu einer normalen Option des Lebensendes werden, würde das nicht nur den Einzelnen betreffen... In der Summe würde die Haltung gegenüber Leben und Sterben sich auch in der Gesamtgesellschaft von Grund auf verändern.» Die christliche Haltung besteht darin, «dass wir uns umeinander kümmern».
Anhaltendes Engagement der Landeskirche
Im 120-seitigen, fein illustrierten Büchlein werden das Lebensende und Fragen um Pflege und Suizid(assistenz) aus medizinischer und ethisch-theologischer Sicht (je fünf Beiträge), aus psychologischer und juristischer Warte betrachtet; dazwischen stehen sechs Zeugnisse von Angehörigen.
Die Herausgabe durch die Kirche folgt auf Tagungen, Schulungen und Weiterbildungen in Palliative Care und Seelsorge. Für die Schriftleitung wurde die pensionierte Frauenfelder Ärztin Christine Luginbühl gewonnen. Sie sagte in Ittingen, es ehre die Kirche, dass sie eine Stellungnahme wage. Auf der Website der Landeskirche wird eine digitale Version des Buchs aufgeschaltet.
250 Personen, vor allem Pflegende und seelsorglich Tätige, nahmen an der Vernissage in der Kartause teil. Pfarrerin Karin Kaspers Elekes, Präsidentin des Vereins palliative ostschweiz, stimmte sie ein: Dass die «Möglichkeit des assistierten Suizids als Ausdruck selbstbestimmten Sterbens drängender wird», fordere die Landeskirche heraus. Mit dem Buch übernehme sie Entwicklungsverantwortung für die Gesellschaft, indem sie mahne, «dass zu den starken Jahren des Lebens die schwächeren zwingend dazugehören».
Das Sterben: tun oder geschehen lassen?
Kirchenratspräsident Wilfried Bührer bezeichnete die Herausgabe des Buchs als Wagnis – aus Betroffenheit. Es sei «auch heute noch ein Unterschied, ob das Sterben ein Tun ist oder ein Geschehen-Lassen» sei. Die Kirche argumentiere vom Glauben her; sie wolle über keine Absicht oder Tat urteilen.
«Wir wissen, wie gross trotz allen palliativen Bemühungen Not und Schmerz immer noch sein kann», sagte Bührer. Doch man stelle sich gegen den Suizid als normale Option. Sollte es einmal so weit kommen, dass ein Viertel oder Drittel der Menschen so aus dem Leben scheiden?
Der Wert von tragenden Beziehungen wird im Buch nicht nur vom Spitalpfarrer und vom Hausarzt reflektiert; er kommt auch in den Zeugnissen von Angehörigen zum Ausdruck, die Schwerkranke und Sterbende begleitet haben.
Mit der Überzeugung, «dass unser Leben in Gottes Hand eingebettet ist», so Wilfried Bührer, kann die Kirche nachhaltig agieren. «Wir tragen als Gesellschaft Verantwortung für den Schutz verletzlichen Lebens.»
Verletzlichkeit anerkennen
Für diesen Schutz muss entschieden mehr getan werden. Dafür plädierte Prof. Andreas Kruse, leitender Gerontologe an der Uni Heidelberg, Mitglied des deutschen Ethikrats und Träger des Schweizer Palliativpreises 2016, in einem weit ausgreifenden Vortrag, den er selbst auf dem Flügel mit Musik von Johann Sebastian Bach umrahmte. Die geistige, emotionale und körperliche Verletzlichkeit ist «ein Merkmal unserer Existenz, mit dem sich jeder tiefgreifend auseinandersetzen muss».
Wenn Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens, so Kruse, in der Gesellschaft verdrängt werden, wenn diese die Auseinandersetzung mit dem Sterben meidet, werden Einzelne alleingelassen. Daher gilt es, Rituale zu entwickeln, damit Menschen in den Stand kommen, darüber nachzudenken, wie sie ihren Weg zu Ende gehen.
Andreas Kruse forderte gesellschaftliche Antworten auf die Verletzlichkeit – und verwies auf die vorbildliche Weise, in der Jesus die seinige ertrug («ecce homo», Johannes 19,5). Menschen bräuchten Respekt und Unterstützung; so könnten sie ihre Vulnerabilität eher tragen. Von der Verletzlichkeit sei auszugehen, wenn man über Sterben und Tod, über Lebensmüdigkeit und Suizid spreche.
«Der Suizid hat uns zutiefst als Gesellschaft zu erschüttern»
Der Gerontologe mahnte, die Motive von suizidalen Menschen ganz ernst zu nehmen (Krankheiten, Schmerzen, unerträgliche Empfindungen, Ängste, Depression). Für die palliative Versorgung müssten grosse Mittel zur Verfügung gestellt werden. «Wie kann ich den Menschen unterstützen, dass er geschützt ist vor Isolation?»
Notwendig sei ein «medizinisches, pflegerisches, auch gesellschaftlich und kulturell abgerundetes Versorgungssystem». So könnten Leidende überzeugt werden, nicht Suizid zu begehen. Mit Verweis auf die Studie des Soziologen Emile Durkheim zum Selbstmord (1897) benannte Kruse gesellschaftliche Dynamiken. Wer nicht in Gemeinschaft lebe – «mit Menschen, die dir signalisieren, dass sie für dich da sind» –, sei dem Suizid-Impuls viel stärker ausgesetzt. Suizid sei immer auch ein Versagen von sozialen Bezügen: «Der Suizid hat uns zutiefst als Gesellschaft zu erschüttern.»
Zeitig auf Ängste eingehen
Zur Palliativ-Medizin und -Pflege betonte der Professor aus Heidelberg, dass eingehend über die aktuellen Möglichkeiten zur Schmerz- und Symptomlinderung gesprochen werden muss. Befreit von der Sorge, dass Symptome entgleisen, könnten sich Menschen eher auf ihr eigenes Sterben vorbereiten und ihre letzte Wegstrecke gestalten – damit das Leben am Ende «zu einer gewissen Rundung kommt».
Das Gefälle zur Banalisierung des Suizids hat laut Andreas Kruse auch mit einem modernen, aspirationalen Verständnis von Würde zu tun: Der Einzelne kreiert ganz bestimmte Kriterien, unter denen sein Leben würdig erscheint.
Wenn diese nicht mehr erfüllt sind – etwa bei einer Alzheimer-Diagnose –, «beginnt der Kampf um das Leben». Zu ringen ist dann um andere Gründe für sinnvolle Existenz: «Was können wir tun, um das Individuum darin zu unterstützen, neue Kriterien eines guten Lebens zu entwickeln?»
Das Buch «Den Weg zu Ende gehen» kann zum Preis von 18 Franken
online bestellt werden.
Zum Einstieg ins Thema und als Material für die Diskussion in
Hauskreisen, Schulen und Erwachsenenbildung werden
Module auf der Website der Landeskirche aufgeschaltet.