Theopoesie?
Wie kommt Gott nach dem Abschied vom Überkommenen, dem proklamierten Ende der Religion, zur Sprache? Eine Tagung in Zürich am 30. August ging Spielarten und Hintergründen der sogenannten «Theopoesie» nach und reflektierte Gedanken des Berner Dichterpfarrers Kurt Marti. Der Starphilosoph Peter Sloterdijk vermittelte seine Sicht auf die jüdischen
und christlichen Traditionen.
Zum Studientag lud das Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Uni Zürich. Den Reigen der Referate eröffnete der Religionsphilosoph Hartmut von Sass (Berlin/Zürich) mit einer Auslegeordnung des weiten Spektrums von Theopoetik, mit Bezug auf Hermeneutische Theologie.
Der Raum für Theopoesie eröffnet sich laut von Sass – vor der Frage, wer Gott ist – mit der «vorsichtigeren, auch tastenden Frage, wie wir von ihm sprechen, es schon tun oder noch könnten». Wird dann alles zur Fiktion «als einem unguten Pendant zur Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit des Glaubens?» Von Sass räumte ein, dass Theopoesie anders von Gott und seinem Sein redet, «als es angeblich robuste Ontologien tun», und dies aus dem Interesse «für die sprachlich vermittelten Modi, wie Gott durch die Sprache wirkt» und dabei selbst wird.
Der Religionsphilosoph nannte für theopoetische Ansätze vier Kriterien: a) Dichtung sei hier auf religiöse Gehalte und Ansichten bezogen; b) sie «bleibe dem, was durch sie ausgedrückt sei, nicht äusserlich, sondern gerade wesentlich» (Wissen und Wahrheit als Funktion der Dichtung selbst); c) dadurch ergebe sich das Interesse an ihren vielfältigen Formen und Formaten; d) «seien aus diesem offen fiktionalen Zuschnitt die theologischen Bilanzen zu ziehen».
Zwischen Glauben und Unglauben
Anhand dieser Kriterien stellte von Sass eine Typologie theopoetischer Ansätze auf. Er erläuterte sie mit Denkern der vergangenen Jahrzehnte: religionskritisch-eliminierend (Sloterdijk), negativ-interpretierend (Bultmann), realistisch-emergent (Fuchs, Jüngel, Ricoeur, Ebeling, Bader), politisch engagiert und performativ atheistisch. In der Hermeneutischen Theologie ergebe die poetische Form dogmatische Resultate. Bei Dorothee Sölle und Kurt Marti, die auf Politik zielen, sei dies nicht gegeben; daher sieht von Sass bei ihnen keine Theopoetik im Sinn der genannten Kriterien.
Peter Sloterdijks Ausgangspunkt verdeutlichte von Sass mit einem Satz von 2012: «Es gibt keinen Gott, aber die Geste, ihn zu verkündigen, bleibt unentbehrlich für die wenigen, die es mit ihren juvenilen Postulaten ernst meinten.» Den atheistischen Kulturphilosophen sieht er im Zwiespalt: Einerseits sei vom Ende der Religion die Rede, andererseits werde ihre durch Nutzlosigkeit gewordene Freiheit verkündigt. Bei einer «befreit-entzweckten Religion» müsste «der Gott, der zu nichts dienen darf … doch irgendwie da sein» – doch eben dies bestreite Sloterdijk, der Religionskritik des 19. Jahrhunderts verhaftet.
Von Gott im Himmel reformiert reden
Matthias Wüthrich, Uni Zürich, sprach über Kurt Martis Himmelspoesie vor dem Hintergrund der reformierten Theologiegeschichte. Er setzte mit der Reformationszeit ein: mit den beiden vereinten Naturen Christi, deren Differenz die Reformierten betonten. Zwingli schrieb 1527: «Wir glauben, dass er leiblich in den Himmel aufgefahren ist. Demzufolge kann er hier unten auf Erden nicht sein. Denn sein Leib ist auch nach seiner Auferstehung an nicht mehr als nur an einem Ort.»
Wie konnte beim Aufkommen der Naturwissenschaften der Himmel noch als «Wohnung Gottes» geglaubt werden? Wüthrich führte drei reformierte Theologen an. Friedrich Schleiermacher habe die Kosmologie aus der Theologie verabschiedet. Karl Barth dagegen definierte den Himmel von Gott her: Wo Gott ist, ist der Himmel. Jürgen Moltmann bezeichnete den Himmel als die «gottoffene Seite der Schöpfung». Daher: «Vom Himmel her und durch ihn handelt Gott.»
Der Berner Dichterpfarrer Kurt Marti konnte damit nicht viel anfangen; ihm ging es um die Zukunft der Erde. Dabei brachte er, so Wüthrich, «dem nicht-religiösen Himmel als Naturphänomen, dem sky, erstaunlich viel sprachliche Aufmerksamkeit» entgegen. Er habe sich mit diesem befasst, während sich die Theologie im 20. Jahrhundert auf die Rückgewinnung des heaven konzentriert habe.
Stammeln wie die Dadaisten?
Am Nachmittag hielt Ralph Kunz den Vortrag der erkrankten Magdalene Frettlöh, Uni Bern, über Kurt Martis Gottespoesie. Der Berner Dichterpfarrer empfahl jenen, die von Gott zu reden haben, sich mit dem Dadaismus zu befassen. «Gott gegenüber sind und bleiben wir allzumal Dadaisten.»
Im Stammeln, in Vokativen werde Gott als Geheimnis geachtet. Nach dadaistischem Vorbild, fand Marti, könne auch gegen theologische Sinnmacherei und kirchliche Sinnstiftungsmärkte protestiert werden. Dem Berner Pfarrer ging es um den weltleidenschaftlichen Gott; er wollte von ihm reden im Horizont einer erotischen Kultur.
«Göttliche Sprechräume»
Der Star der Zürcher Tagung, der Philosoph Peter Sloterdijk, hat Theopoesie ins Zentrum seines neuen religionskritischen Buchs «Den Himmel zum Sprechen bringen» gestellt. Er sagte zu Beginn seines Vortrags, dass er Kurt Marti zuvor nicht gekannt habe. Theopoesie ist für Sloterdijk das, was «nach Gott» (vorletzter Buchtitel) und nach dem Ende der Religion Menschen noch bleibt.
Vor den Theologen gab er den Kulturwissenschaftler. Er startete mit Bemerkungen zu Religion in der Antike – mit Kritik an Karl Jaspers’ Achsenzeit-Theorem. Seine eigene Lektüre sei medientheoretisch informiert, sagte Sloterdijk, sie frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten, «göttliche Sprechräume in menschlichen Gesellschaften einzurichten». Als Grundgeschehen der Theopoesie nannte der Philosoph Überschreibung: Schrift überschreibt immer ältere Texte. «Sobald die Schrift auftaucht, entsteht das Bedürfnis nach Eindeutigkeit.»
Hebräer und Babylonier
Neben die Hermeneutik stellte Sloterdijk eine Formulierungstheorie, die auf Bewegungen des Schriftträgers und der Schrift selbst achtet. Das Osterfest sei aus einer Überschreibung des jüdischen Pessach entstanden, das Pfingstfest aus jener des Wochenfests. Das Buch Genesis bezeichnete er als «Theopoesie höchster Ordnung»; ihre Urgeschichte überschreibe das babylonische Enuma Elisch.
Sowohl das Judentum wie das Christentum hätten keine Originale, bemerkte er auf eine Frage. Mose habe die zwei Tafeln zerbrochen. «Das Christentum fängt als übersetzte Religion an» (griechisches NT). Auch an Pfingsten sei übersetzt worden – «… das Geschwister-Phänomen der Überschreibung ist vom ersten Augenblick da.» Diese Art von Religionsbewegung wolle sich in einem Urtext stabilisieren – «aber den haben wir nicht».
Ekstase und Begeisterung
Nach einem Diktum von Carl Friedrich von Weizsäcker macht die Anerkennung von Ekstase durch Nicht-Ekstatiker Religion. So könne es als grösstes Kompliment für einen Theologen gelten, wenn man ihm authentische Besessenheit attestiere, äusserte Sloterdijk. Er zollte Eugen Rosenstock-Huessy für die Analyse des kerygmatischen Vorgangs Tribut.
Der Philosoph verglich Religion interkontinental («wahrscheinlich sind die Amerikaner noch frömmer als wir, weil sie ein schlechteres Versicherungssystem haben») und bemerkte, in einem reinen Überschuss sei «das Beste anwesend – und man darf nicht fragen: wozu?» Weltgeschichte könne als Begeisterungsgeschichte gefasst werden. «Es gibt einen Punkt, wo auch die Wissenschaft predigt … Alles, was gesagt sein will, will auch als gute Nachricht gesagt sein.»
Was soll Theopoesie?
Die Tagung schloss ein Podium der Referenten zur Aktualität von Theopoesie unter Leitung von Johanna Di Blasi, RefLab, ab. Peter Sloterdijk nimmt unsere Zeit als Kulturexperiment wahr, in dessen Verlauf der Bereich des Handelns immer kleiner werde (bis hin zum Angriff der Neuro-Wissenschaften auf die Freiheitsillusion). «Solange der Schöpfungsbegriff erhalten wird, ist Theopoesie nicht erledigt.» Der Theopoet Richard Wagner werde noch jedes Jahr zelebriert …
In der Runde forderte Hartmut von Sass für die Theologie, zwischen Theopoesie und Theopoetik (Reflexion) zu unterscheiden. Matthias Wüthrich machte Theopoesie gegen die Evangelikalisierung der Theologie stark und meinte, sie könne ihr als «Verflüssigungshilfe» dienen. Sloterdijk sieht hingegen mehr die Doppelgefahr von Sklerotisierung und Verwilderung auf einem synkretistischen Religionsmarkt (F.W. Graf). Er wunderte sich darüber, «welche autoplastischen Selbstverführungen amerikanische Prediger zustande bringen».
Heute sei es so, bemerkte er gegen Ende des Podiums, «dass es die Laientheologen sind, die Nicht-Ordinierten, denen was einfällt… Die Inspirationen kommen von den Nicht-Professionellen.»
Der Vortrag von Peter Sloterdijk als RefLab-Podcast
Das Podium als RefLab-Podcast