Heilige Schriften in der Kritik
Wie reagieren Theologen darauf, dass immer weniger Menschen christlich glauben und die Bibel lesen, so dass die Landeskirchen schrumpfen, innerlich erodieren und an gesellschaftlichem Gewicht verlieren? Am 17. Europäischen Theologiekongress Anfang September in Zürich zeigte sich, dass die rationalistischen Grundsätze aufklärerischer Bibelkritik weiterhin gelten; der Niedergang veranlasst jedoch auch selbstkritische Überlegungen.
Der 17. Europäische Kongress der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh), der vom 5. bis 8. September in Zürich stattfand, kreiste um Kritik und Auslegung der biblischen Schriften. In der Aufklärung kam die sogenannte historisch-kritische Interpretation der Bibel auf; an evangelischen Fakultäten im deutschen Sprachraum wird sie immer noch von vielen betrieben unter der Prämisse, dass Gott in der Geschichte nicht handelt.
«…wie jedes andere Buch auszulegen»
Die WGTh ist die Standesorganisation der akademischen Theologenschaft im deutschsprachigen Raum; den Kongress führte sie mit der Universität Zürich durch. WGTh-Präsident Konrad Schmid formulierte in der Kongresseinladung als allgemeinen Konsens der Wissenschaft, «dass die Bibel wie jedes andere Buch auch auszulegen ist». Allerdings sind für Schmid der kritische Ansatz und die Resultate dieser Form der Exegese in der Kirche «oft nur umrisshaft erkennbar». Und weltweit sei die Bibelkritik in Theologie und Kirche keineswegs dominant.
Laut Konrad Schmid sicherte die Bibelkritik, die im
18. Jahrhundert aufkam, der Theologie hierzulande ihren universitären Status, «da sie keine ausserwissenschaftlichen Standards für die Interpretation der Bibel forderte». Zugleich habe sie zur Aufsplitterung und Pluralisierung der christlichen Theologie beigetragen, während «breite Stränge des Judentums und des Islams nicht bereit sind, historische Kritik ihrer heiligen Schriften zuzulassen oder gar aktiv selbst zu betreiben».
Im Zeichen des rationalistischen Ansatzes
Das Nein der Vernunft-Theologen des 18. Jahrhunderts zur leiblichen Auferstehung Jesu und den anderen in der Bibel bezeugten Wundern hat die Entwicklung der Bibelkritik lange in grossem Mass bestimmt (die Physik hat vor 100 Jahren das deterministische Weltbild überwunden). An hiesigen Fakultäten geschieht die wissenschaftliche Arbeit am Text weitgehend unter den Prämissen der Sachkritik an den uralten Texten (Infragestellung von Angaben, Bearbeitungsprozesse, teils extreme Spätdatierung).
Die Aversion gegen den evangelikalen Ansatz, der in Fortführung der Theologie früherer Jahrhunderte die Bibel als Dokument der Offenbarung Gottes sieht, war auch am Kongress in Vorträgen zu vernehmen. Andererseits kam das Gefälle der Kritik hin zu tiefgehender Skepsis zur Sprache – und auch Sackgassen, in welche die Kritik die Bibelwissenschaft und weitere Fächer der Theologie geführt hat. Manche Bibelforscher meinten ihre Frömmigkeit opfern zu müssen auf dem Altar intellektueller «Redlichkeit», wie sie von der Zunft eingefordert wurde.
In diesem Bericht sind drei Hauptvorträge zusammengefasst
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Führt die Kritik zum vertieften Verstehen
und zur Predigt?
Am Ende ihres Schlussvortrags am 8. September wandelte Christiane Tietz Goethes Gretchenfrage für die Bibelwissenschaftler ab: «Sag, wie hältst du’s mit der Kirche?» Der kritische Umgang der Exegeten mit der Bibel müsse zu einem vertieften theologischen Verständnis der Texte und immer wieder auch zu gehaltvoller Auslegung in der Predigt führen. Historische Kritik solle sich «als kirchenbezogene Wissenschaft wiederentdecken».
Eingangs fasste Tietz den Wert historischer Kritik, wie die Referenten des Kongresses sie dargelegt hatten, zusammen:
Sie ist nötig «wegen der historischen Verwurzeltheit des christlichen Glaubens». Im Bemühen um den Text ermöglicht die Kritik Distanz; sie macht Vorurteile bewusst, was hilft, den Text nicht zu vereinnahmen und vorschnell zu aktualisieren. Historische Kritik verdeutlicht auch die Vielfalt der biblischen Aussagen.
Endlichkeit: Wir müssen von anderen lernen
Ihre Argumentation für ein «dezidiert theologisches Verstehen der biblischen Texte» entwickelte die in Zürich lehrende Systematikerin mit Bezug auf Hans-Georg Gadamers Überlegungen. Dieser geht von der Endlichkeit des Menschen aus: Wir sind beschränkt, haben einen begrenzten Blickwinkel; deshalb müssen wir von anderen lernen. Gewesenes vergessen wir oder vergegenwärtigen es. Unsere Existenz ist verwoben mit Vergangenem; dies bestimmt auch unser Verstehen von Texten.
Wir müssen von anderen lernen. Auf diese Weise, so Tietz mit Gadamer, erschliesst sich Wahrheit, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre. «Die hermeneutische Arbeit an diesen Texten muss darauf zielen, dass ihr Wahrheitsanspruch verständlich wird.» Jene, die historische Kritik treiben, sollten «in einen Dialog mit dem Text über seine Wahrheit» eintreten und nach seiner Relevanz fragen – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Kirche. «Lässt sich, was historisch-kritisch herausgearbeitet wurde, in einer Predigt als um Gottes willen existentiell relevant verständlich machen?»
«Hörende Wahrheitssuche»
Die Systematikerin bemerkte, dass die Wahrheitsfrage von manchen Exegeten sistiert werde. Theologische Wahrheitssuche sei doch «hörende Wahrheitssuche», angewiesen auf die Tradition, «genauer auf Texte, die nach historisch-kritischem Verständnis nicht selbst Wort Gottes sind, aber in menschlichen Worten von Gott und seinem Reden zeugen».
Wer verstehen will, soll nach Gadamer bescheiden sein und anerkennen, «dass ich in mir etwas gegen mich gelten lassen muss, auch wenn es keinen anderen gäbe, der es gegen mich geltend machte». In dem Zusammenhang wandte sich Tietz gegen die Haltung, Texte besser zu verstehen, als der Autor sie verstand, weil man damit nach Gadamer in Distanz zu dessen Anspruch gehe. Sie argumentierte auch, dass man nicht ohne «Vorurteil» an einen Text herangehen kann.
Autorität anerkennen
Im kritischen Umgang mit dem Text sei seine Autorität als sachbezogene (insofern er Zeugnis von Gottes Selbsterschliessung in Jesus Christus ist) anzuerkennen, sagte Tietz, indem sie Gadamer, Ulrich Luz, aber auch Jürgen Habermas' massive Kritik am Autoritätsgedanken referierte. In ihren Schlussthesen, die auf die modifizierte Gretchenfrage zuliefen, riet Tietz zu Bescheidenheit im Verstehen-Wollen. «Exegetische Arbeit benötigt ein Bewusstsein davon, mit der Wirkungsgeschichte dieser Texte verwoben und im weitesten Sinne in die Gemeinschaft der sich von diesen Texten her Verstehenden eingebunden zu sein.»
Stirbt das Alte Testament?
Vor Tietz sprachen am 8. September in der Kirche St. Peter Andreas Schüle, Leipzig, und Manuel Vogel, Jena. Schüle machte mit den Buchtiteln «The Old Testament is Dying» (Brent A. Strawn) und «Theologien im Alten Testament» (Erhard S. Gerstenberger) auf die Krise seines Fachs aufmerksam. Er forderte mit Bezug auf Schleiermacher ein kritisches Arbeiten an den biblischen Texten, bei dem die Hermeneutik die Verbindung zwischen Historischem und Gegenwärtigem schafft. Der Exeget müsse (eher als die Wirkungsgeschichte) die Wirkpotenziale der Texte bedenken. Schüle explizierte das vierfach: Sprachlichkeit – Literalität – Kontext – Kanon.
«Blinde Flecken, blinde Passagiere»
Manuel Vogel projizierte einleitend eine Gedichtzeile von Jan Twardowski «… dass ich nicht in der Bibel herumspaziere wie ein Pfau». Um der Überhöhung ihrer Methode zu wehren, müssten sich die Forscher ständig selbst bewusst werden der «mancherlei Irrungen, Wirrungen, blinden Flecken und blinden Passagiere, die die historische Kritik von Anfang an und bis heute begleiten».
Vogel wandte sich gegen die «Verschlagwortung» von Ernst Troeltschs Begriffs-Trias «Kritik – Analoge – Korrelation», die fürs Selbstverständnis der historischen Methode bestimmend wurden. Troeltsch, geboren 1865, ging von der «prinzipiellen Gleichartigkeit alles historischen Geschehens» aus. Er lehnte einen «autoritären Offenbarungsbegriff» ab und schrieb: «Die Übereinstimmung mit normalen, gewöhnlichen oder doch mehrfach bezeugten Vorgangsweisen und Zuständen, wie wir sie kennen, ist das Kennzeichen der Wahrscheinlichkeit für die Vorgänge, die die Kritik als wirklich geschehen anerkennen oder übrig lassen kann.»
Zur behaupteten Neutralität der so begründeten historischen Methode merkte Vogel unter anderem an, sie habe im 19. Jahrhundert dem verbreiteten bürgerlichen Antisemitismus nicht gewehrt. Troeltsch habe denn auch beiläufig bemerkt, «die Entstehung des Christentums (sei) mit der Zersetzung des Judentums in Verbindung zu bringen».
Für ein klares Bewusstsein des Noch-nicht-Wissens
Laut dem Jenaer Neutestamentler Vogel entstehen «bei gleicher Handhabung der Methode sehr unterschiedliche Gesamtbilder von demselben historischen Gegenstand»; er erwähnte die endlosen Debatten zur Entstehung der Evangelien. Er mahnte, von antiken Texten nicht Widerspruchsfreiheit und Kohärenz im modernen Sinn zu erwarten – und nicht auf Geschmacksurteile zu verfallen, welche die Grenze zwischen Literar- und Sachkritik verwischen.
Auszugehen sei «von einer ursprünglichen Mitteilungs- und Wirkabsicht der neutestamentlichen Texte … Es geht um den Anspruch, Textverstehen wissenschaftlich zu erarbeiten. Das schliesst aber ein Geprägtwerden und Geprägtwerdenwollen durch den Sachgehalt dieser Texte nicht aus …» So plädierte Vogel, sich auf Luthers Auslegung des achten Gebots berufend, für eine «Hermeneutik des guten Willens». Diese bestünde darin, «der Sachkritik zwar nicht abzuschwören, sie aber zugunsten immer weiteren Wissenserwerbs immer weiter zurückzustellen, weil es ja immer sei kann, dass das entscheidende Wissen, um einem Text gerecht zu werden, immer noch fehlt».
Uneingelöstes Versprechen
Die Hauptvorträge des Kongresses mit 250 leibhaftig Teilnehmenden fokussierten auf drei Felder: Schriftkritik und religiöse Kultur, Schriftkritik im interreligiösen Vergleich, Schriftkritik als theologisches Problem. In seinem Überblick über das Programm hatte Konrad Schmid eingangs betont, Schriftkritik sei ein unabdingbarer Bestandteil der Theologie. Die Bibel selbst enthalte zahlreiche Auslegungen anderer Stellen. «Die Kritik heiliger Schriften ist in gewisser Weise so alt wie diese selbst.»
Den Eröffnungsvortrag am Sonntag Abend im Fraumünster hielt der Münchner Systematiker Jörg Lauster über das «uneingelöste Versprechen der historischen Kritik heiliger Schriften». Dem religiösen Umgang mit ihnen stehe Kritik zwar im Weg: «Heilige Schriften und Kritik – das scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein.» Doch nehme Kritik «die Texte in ihrer besonderen literarischen Art ernst».
182 Jahre nach dem Züriputsch …
Eingangs erinnerte Jörg Lauster an den Züriputsch vor genau 182 Jahren: Am 5. September 1839 hätten im Zürcher Oberland die Glocken Sturm geläutet. Das Landvolk sollte in der Stadt gegen die Berufung von David Friedrich Strauss an die Universität protestieren. So gebe es, meinte Lauster, weltweit keinen besseren Ort, um an das «wichtige, aber dauerhaft delikate Verhältnis von heiligen Schriften und ihrer Kritik» zu erinnern. Den drei Begründern der historisch-kritischen Methode (Semler, Gabler, Herder) gebühre ein Ehrenplatz in der Theologiegeschichte, meinte der liberale Theologe.
Polarisierung
Lauster skizzierte, wie Religion im deutschen Sprachraum durch sie privater und individueller wurde. Für Semler habe die Bibelkritik die «Befreiung der eigenen religiösen Überzeugung von den Lasten einer fernen und fremden Vergangenheit» bedeutet. Der Rationalismus der Kritiker führte im 19. Jahrhundert zu einer verschärften Polarisierung. Richard Rothe habe es geschafft, historische Kritik und Frömmigkeit zusammenhalten, sagte Lauster. Doch habe die Kritik nicht nur bei frommen Gemütern Ablehnung provoziert, sondern auch bei Exegeten zu tiefer Skepsis geführt.
Julius Wellhausen habe seine Kritik als nicht kompatibel mit den Interessen der Pfarrerausbildung angesehen. An der späteren Bewertung seines Wechsels an die philosophische Fakultät zeigt sich für Lauster «die theologische Urangst vor den destruktiven Kräften der historischen Kritik, ... die Sorge, dass die Kritik das Ansehen und den religiösen Wert der heiligen Schriften auflöse». Und doch, so der Münchner Systematiker, sei die historisch-kritische Methode insgesamt eine «bestaunenswerte wissenschaftliche Erfolgsgeschichte».
Nach dem 1. Weltkrieg gewann die «dogmatische Methode» durch die Wort-Gottes-Theologie für mindestens eine Generation die Oberhand. Zwischen ihr und der historischen Kritik des 19. Jahrhunderts suchten Theologen wie Gerhard Ebeling zu vermitteln. Nach Lauster waren jedoch die Versuche, die historische Kritik programmatisch in die Theologie zu integrieren, «erstaunlich selten». Es mache den Anschein, «dass die Exegese auch ohne eine Theologie der historischen Kritik bestens funktioniert». Die Ausdifferenzierung der Theologie im späteren 20. Jahrhundert habe die Bibelwissenschaftler benachbarten geisteswissenschaftlichen Disziplinen nähergebracht.
Nietzsches «Illusionen»
Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Bibelkritik zitierte Jörg Lauster Nietzsches Diktum von der Erfindung des Erkennens: der «hochmütigsten und verlogensten Minute der Weltgeschichte». Das Pathos der Wahrheit war für den Philosophen eine Lüge. «Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.» Nietzsche habe das Weltgefühl artikuliert, das aller Kritik zugrunde liegt, sagte der Referent. Sie «wurzelt im Bewusstsein, dass etwas ganz anders sein könnte, als wir meinen».
Was macht Kritik aus? Von Kant und Schleiermacher schlug Lauster den Bogen zur Frankfurter Schule, zu Michel Foucault und Judith Butler. Letztere hätten konsequent weitergeführt, wozu die Kritik in der Aufklärung aufgebrochen sei, indem sie klar machten, dass Kritik sich auch auf sich selbst richtet und die Standortgebundenheit des Kritikers einbezieht. Nicht die Standortgebundenheit sei das Problem – Lauster bezeichnete sie als unumgänglich –, «sondern sich darüber selbst nicht aufzuklären und die eigene Position absolut zu setzen».
«Erfahrungserhellung»
In einem dritten Teil erwähnte Jörg Lauster den stark gewachsenen Verwertungsdruck an den Universitäten. «Die freie wissenschaftliche Absichtslosigkeit ist heute zu einer problematischen Kategorie geworden.» Da sei historische Kritik wichtig, indem sie «Erfahrungserhellung» betreibe. Exegese erhelle den religiösen Sinn der Texte zu ihrer Zeit und stelle sie zur Diskussion.
Kritik erhellt auch das Verständnis des Religiösen überhaupt, meinte Lauster, wobei vieles in den biblischen Texten zwar noch Interesse beanspruchen könne, aber «für uns keine Prägekraft mehr» habe. Den Verlockungen zu einfacher und falscher Eindeutigkeit sei zu widerstehen, schloss der Referent. «Wir ehren unsere innersten Überzeugungen, indem wir sie zur Diskussion stellen.»