Theologie studieren und geistlich reifen

Die theologische Ausbildung muss gemeindenaher gestaltet werden. Das vor fünf Jahren gegründete St. Mellitus College in London tut dies mit erstaunlichem Erfolg. Es zieht junge Christen an, die zuvor nicht Pfarrer werden wollten. Graham Tomlin, Dekan von St. Mellitus, hat an einer Veranstaltung im Waadtland angesichts der Krise der Pfarrerausbildung dargelegt, wie Europäer Theologie studieren und in der Gemeinde geistlich reifen können.

Das anglikanische St. Mellitus College in London ist eine Erfolgsgeschichte. Die theologische Schule hat im sechsten Jahr bereits 110 Studierende. Die meisten würden nicht fürs Pfarramt studieren, wenn es St. Mellitus nicht gäbe, sagte Tomlin an einer Veranstaltung am 20. November im Bildungszentrum der Waadtländer Reformierten in Crêt-Bérard bei Vevey.

Gegen den Abwärtstrend
Graham Tomlin, Dekan des nach dem ersten Bischof von London benannten College, skizzierte in seinem Vortrag den neuartigen, gemeindebezogenen Charakter der Ausbildung. Sie antwortet auf das Glaubwürdigkeitsdefizit der Grosskirche, der das Volk abhanden kommt. "„Wir tun heute unseren Dienst unter ganz anderen Bedingungen als vor 50 Jahren"“, betonte Tomlin. Um 1850 seien etwa die Hälfte der Engländer und Waliser am Sonntag zur Kirche gegangen, 1900 27 Prozent, 2000 noch 6 Prozent. Wenn der Trend sich fortsetze, werde die Methodistenkirche 2037 ihre letzte Gemeinde schliessen, die Church of England 2050.

Aber ohne Kirche gibt es –- Tomlin zitierte Jürgen Habermas –- auf lange Sicht keine freiheitliche Gesellschaft. „"Wenn unsere Kirchen sterben, stirbt unsere Kultur".“ Der Theologe stellte der Einsicht des Sozialwissenschaftlers das Wort von Paulus (Epheser 3,10) zur Seite. Danach verbindet Gott sein Handeln an seiner Schöpfung mit der christlichen Gemeinde. "„Die Kirche ist die Hoffnung für die Zukunft der Welt".“

Mehr Theologiestudierende: Graham Tomlin in Crêt-Bérard.

...Evangelisation, Glaubwürdigkeit und Kompetenz
Laut Graham Tomlin setzt eine Trendumkehr, eine Wende zum Besseren in traditionellen Kirchen dreierlei voraus: erneute Evangelisation, authentisches Zeugnis von Christen, die ihres Glaubens gewiss sind, und kompetente Theologen, die gesunde, strahlkräftige Gemeinschaften aufbauen.

Der Autor des Buchs "„Die provozierende Kirche"“ verwies in seinem Referat darauf, dass Evangelisation Erfolg hat, wenn Menschen Fragen stellen (vgl. Apostelgeschichte 2,12). „"Wenn die Leute etwas vom Reich Gottes wahrnehmen, kommen sie ins Fragen".“ Die Christen hätten die Aufgabe, die verschüttete Erinnerung ans Paradies zu wecken (Augustin) und einen neuen Lebensstil vorzustellen (Jacques Ellul). Der Alphalive-Kurs habe sich als Weg erwiesen, um Raum für Fragen zu eröffnen und ein Gespräch in Gang zu bringen.

"Jeder Christ ist ein Theologe"
Im Zentrum von Tomlins Vortrag, den Sylvie Annen gewandt übersetzte, stand die These, dass die theologische Bildung in die Gemeinden zurückgeholt werden muss. Der Brite erinnerte daran, dass die christliche Theologie von wandernden Predigern wie Paulus begründet und später in Klöstern gepflegt wurde. Im Mittelalter stellte sie die Hauptwissenschaft der neu gegründeten Universitäten dar. "„In der Neuzeit haben sich Kirche und Universität auseinander entwickelt".“ Während Synagoge und Moschee ihre Bildungsfunktion bewahrt hätten, hätten die Kirchen sie verloren. Durch Abgabe an die Universität sei sie zu einer akademischen Profession geworden.

Dagegen hielt Tomlin fest: „"Jeder Christ ist ein Theologe. Theologie ist von Gott reden".“ Die Frage sei bloss, wie das geschehe. Um Evangelisation anpacken zu können, müsse die Kirche das Niveau christlicher Bildung heben und Christen einen ebenso weisen wie leidenschaftlichen Glauben vermitteln. Lebendige Gemeinden müssten zu Orten theologischer Bildung werden.

Geistliche Dynamik mitten in der Metropole
Das St. Mellitus College ist eng mit der anglikanischen Innenstadtgemeinde Holy Trinity Brompton (HTB) verbunden, die in London und darüber hinaus Tochtergemeinden gründet und serbelnde Pfarreien zu neuem Leben erweckt. Zu seinen Angeboten gehört ein Samstagmorgen-Kurs bei HTB, eine Einführung in die Theologie. Derzeit folgen ihm 170 Personen. "„Es kommt alles darauf an, dass Menschen in ihrer Ortsgemeinde Theologie mitbekommen".“ Die meisten Kirchengänger haben, so Tomlin, weder Zeit noch Geld für ein Studium. Theologie ist dort zu treiben, wo sie leben. Der Londoner verwies darauf, dass alle grossen christlichen Theologen in Gemeinden lebten und ständig unterrichteten. Dies gewährleiste die Relevanz für den Alltag der Menschen.

Was Theologen heute brauchen
Das Wachstum theologisch kompetenter Gemeinden erfordert fähige, praxisorientiert und umfassend ausgebildete Theologen. Graham Tomlin sprach von einem „"new set of skills"“, einer neuen Kombination von Fähigkeiten, die zu trainieren seien. St. Mellitus arbeitet auf vier Ebenen:

  • theologische Kompetenz, das Evangelium in konkrete Situationen hinein auszulegen
  • geistliches Charaktertraining (Kenntnis der eigenen Motive) •
  • Projektmanagement inkl. Fundraising •
  • im Gebet gegründete Spiritualität.

Wenn Geistliche nicht tiefe Wurzeln in Gott hätten, brennten sie früher oder später aus, merkte Tomlin zum letzten Punkt an. Die Studierenden von St. Mellitus leben in anglikanischen Kirchgemeinden und arbeiten halbzeitlich, wobei man ihnen eine Vielfalt von Aufgaben (Jugend, Musik) überträgt. Sie werden beaufsichtigt und gefördert (regelmässiges Gespräch mit dem persönlichen Supervisor aus der Gemeinde, zur Integration von Theologie und geistlicher Existenz). Jedes Jahr erstellen die Studierenden in der Gemeinde eine Arbeit, die für den Abschluss zählt. Tomlin: "„Wenn wir Pfarrer für die Gemeinde am Ort ausbilden wollen, müssen wir sie in der Gemeinde am Ort ausbilden".“

Über London hinaus
Das College steht auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse und verpflichtet seine Dozenten nicht auf eine eigene Glaubensbasis. Es wird von der Brompton-Gemeinde finanziell unterstützt und von den Bischöfen von London und Chelmsford gefördert. Es bietet neben dem Bachelor und dem Master in Theologie (geprüft von der Middlesex University) neu auch einen Master-Studiengang in Christian Leadership an.

Die Schwäche der Kirchen in der Region Liverpool bewegt die Verantwortlichen von St. Mellitus, in der Stadt einen Ableger zu planen. Er werde nächstens auch den Pastor einer der grossen schwarzen Gemeinden Londons treffen, sagte Tomlin. Das neue Angebot habe bestehenden Schulen nicht geschadet, sondern insgesamt eine höhere Zahl von Studierenden bewirkt. Andere Colleges reagierten auf den Erfolg von St. Mellitus mit angepassten Angeboten.