Zukunftsperspektiven für reformierte Gemeinden

Wie können Gottesdienste gestaltet werden, die die Gemeinde aufbauen und mehr Menschen ansprechen? Eine Tagung in Zürich sichtete neue Ansätze und Experimente, fragte aber auch nach dem Lerneffekt durch Migrationsgemeinden. Gemeinden sollen mit kirchendistanzierten Menschen wachsen, Kirche sucht nach neuer Gestalt in Stadt und Region.

Organisiert wurde die Tagung «Zugkunft Gemeinde gestalten», die am 12. und 13. November 2009 in Zürich-Wipkingen stattfand, von Pfr. Karl Flückiger, in der reformierten Zürcher Landeskirche zuständig für Gemeindeaufbau, und einer Arbeitsgruppe um den Theologieprofessor Ralph Kunz, die sich seit 2007 mit neuen Gottesdienstformen befasst hatte. (Bild unten: Ralph Kunz, links, mit Samuel Jakob)

Auf die Äste hinaus
Kunz leitete die Tagung mit Gedanken über Kraftwurzeln des Gottesdienstes ein. «Wir können uns nicht darauf verlassen, dass uns ein Stammpublikum die Treue hält und der Ritus am Sonntagmorgen genügend Anziehungskraft entfaltet, Gemeinde zu stärken, zu bilden und zu bauen.» Der Professor für praktische Theologie plädierte für Gottesdienstgestaltung von den reformierten Wurzeln her - und lud zugleich ein, sich auf die Äste hinaus zu lassen. «Gibt es Alternativen? Gibt es Gottesdienstgemeinden, die neue Wege gehen und Lichter setzen für andere, die nachfolgen?»

​​ «Wir leben in verästelten Zeiten»: —  Prof. Ralph Kunz (links) mit Samuel Jakob von der Zürcher Landeskirche.

Vieldimensionaler öffentlicher Gottesdienst
Evangelistisch wirken Gottesdienste, «die auf eine Gottesbegegnung hinzielen». Laut Kunz sollte neben der Zielgruppenorientierung auch die Stilgruppenorientierung bedacht werden. Der reformierte Gottesdienst steht in der Spannung zwischen erwecklicher Versammlung und ritueller Vergewisserung. Kunz betonte, reformierte Vielfalt und evangelische Einfalt gehörten zusammen. «Verwurzelung spricht nicht gegen Verästelung. Schon im Stamm ist die Vielfalt angelegt.»

Die öffentliche Feier des Gottesdienstes ziele darauf, dass wir «immer wieder zusammenkommen als Volk Gottes», sagte Kunz. «Der Sonntagmorgengottesdienst gehört dem Volk.» Das Ja zum reformierten Gemeindeaufbau sei ein Ja zur Vielfalt von Gottesdiensten. Reformierte, schloss Kunz, «feiern Gottesdient mit dem Anspruch, dass die Gemeinde sich beteiligt, und in der Erwartung, dass Gott begegnet».

Der Rest des Donnerstagnachmittags diente der Vorstellung alternativer Gottesdienste. Karl Flückiger schilderte «Sang und Klang» und «Salz & Pfeffer» in Zollikon bei Zürich, Alex Nussbaumer die populären Familiengottesdienste «11 vor 11» in Oberentfelden AG, Hans Corrodi den Basler «Mitenand-Gottesdienst». Ausführlicher stellten die Pfarrer Alfred Aeppli und Peter Schulthess die Entwicklung ihrer Gottesdienste in Pfäffikon ZH und Jegenstorf BE vor.

«Wer hat ein Herz?»
Aus Freiburg im Breisgau war Ralph Berger angereist, der seit fünf Jahren in einer zuvor überflüssigen Innenstadtkirche «Dreisam 3» gestaltet, mit weiter wachsender Besucherzahl. Für die Initianten des badischen Experiments war «neues Leben in der alten Kirche» ein Muss. Berger und seine Teams gestalten wöchentlich Gottesdienste, mit den Vorgaben: gastfreundlich, für Kirchenferne verständlich, relevant für den Alltag. Ohne Ehrenamtliche ginge das nicht, sagte Berger: «Will ich total perfekte Leute - oder will ich jene integrieren, die ein Herz haben?»

Der Pfarrer betonte, dass die Vorbereitung im Team mit der Frage nach dem Ziel des ganzen Gottesdienstes einsetzt. 200-300 Menschen in Freiburg, unter ihnen viele Studierende, kommen am Sonntagmorgen an die Dreisamstrasse; sie schätzen laut Berger die Offenheit für verschiedene Meinungen und neue Besucher. «Sie sagen: Es ist evangelische Kirche- aber es geht was ab.» Viele Besucher kommen, nachdem sie die Kirche aus dem Auge verloren haben «Durch biographische Brüche kommen sie ins Fragen: Was für einen Sinn hat das Leben?»

Südwind
Der zweite Block der Tagung war den Migrationskirchen gewidmet. Pfr. Peter Dettwiler, in der Zürcher Landeskirche Beauftragter für kirchliche Beziehungen, skizzierte, wie Christen aus Übersee hier Gemeinde bauen. Manche hätten ihr evangelisches Kirche-Sein mitgebracht, manche wollten den Europäern zurückgeben, was sie erhalten hatten: das Evangelium. Die Zürcher Landeskirche versucht Migrantengemeinden als Schwesterkirchen wahrzunehmen; mehrere Gemeinden versammeln sich seit einem Jahr im Zentrum im Stadtteil Wipkingen, in dem die Tagung stattfand. Dettwiler zitierte das chinesische Sprichwort: «Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.»

Intensive Chorarbeit
Am Freitagmorgen suchten die 60 Teilnehmenden Wachsendes wahrzunehmen: neue Ansätze in der «Emerging church», einer theologischen Denk-Bewegung (Thomas Schaufelberger, Stäfa ZH), in der vielfältigen Chorarbeit von Gabriela Schöb in Thalwil ZH, in evangelischen Kunst-Happenings (Thomas Beerle, Werdenberg SG) und durch Quartierkunst in der Kirche (Roland Wuillemin, Zürich). Laut Beerle «wächst Kirche am besten entlang von Beziehungslinien».
Schöb wies darauf hin, dass Kinder durch das Singen im Chor in die Kirche hineinwachsen. In den Erwachsenenchören würden Gottesdienste «sehr sensibel verfolgt und wahrgenommen». Über die Werke finde eine Auseinandersetzung mit den biblischen Texten statt. Die Thalwiler Kantorin führt das Eltern-Kinder-Singen (Kinder von 1-4) als Kurs fünfmal jährlich mit grossem Erfolg durch. Sie hob die Vernetzung mit dem kulturellen Leben der Zürcher Vorstadt hervor.

Wagnisse in der Stadt, Fusionen auf dem Land
Die Tagung schloss mit Einblicken in die Situation in Luzern (Georg Vogel), Basel und dem Kanton St. Gallen. Dort unterstützen mehrere neue kantonalkirchliche Arbeitsstellen die Gemeinden (populäre Musik, junge Erwachsene, Familien und Kinder, Gemeindeentwicklung). Die Kantonalkirche unterstützt regionale Projekte und bestraft Fusionen nicht mehr mit Pfarrstellenkürzungen. Vier Fusionen seien im Gespräch. «Das Undenkbare wird angedacht», sagte Paul Baumann aus St. Gallen.

Der Basler Kirchenratspräsident Lukas Kundert schilderte Erfahrungen mit «credo&du» und betonte, die Kirche habe sich als «Anerkennungsgemeinschaft zu formieren, in der es keinen Platz gibt für Neid, Eifersucht und Missgunst». Die Kirche am Rheinknie wolle sich als Gesamtheit entfalten, nicht im Nebeneinander von konkurrierenden Einzelgemeinden. Die Glieder der Kirche sollen «als Teil nicht einer irdischen, sondern der göttlichen Familie» leben.