Die Bibel lesen heisst interpretieren

In der Bibel lernen wir, wie Jesus, Paulus und Mose selber das Wort Gottes in Freiheit auslegten. Wie gross ist diese Freiheit und was bedeutet sie für aktuelle Fragen? An der Herbsttagung der Evangelischen Pfarrgemeinschaft bezog Peter Wick relevante Bibelstellen auf den rabbinischen Umgang mit der Pflicht zur Auslegung und auf christliche Erfahrungen, um neue Impulse für unsere Kirchen zu erhalten. – Ein Bericht von Leandra Zeller.

Auf dem Bienenberg bei Liestal fanden sich vom 5. bis 7. September 29 Pfarr-
personen und Sozialdiakon/innen mit Ehepartnern zur Tagung ein. Nach einem ersten gemeinsamen Mittagessen stiegen wir mit dem ersten Vortrag von Peter Wick sogleich ein in die Thematik mit der tiefgreifenden Erkenntnis, dass das Hebräische eine Sprache ist, die ohne Interpretation gar nicht gelesen werden kann.

Mehrdeutige Wortwurzeln
Da das Hebräische in seiner ursprünglichen Form immer ohne Vokale geschrieben wurde und wird, müssen diese beim Lesen ständig ergänzt werden. Und es gibt nicht wenige Wortwurzeln und Stellen im Ersten Testament, die mehrere Möglichkeiten zulassen, wo aus einer Wortwurzel verschiedene Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen gebildet werden können. Entscheide ich mich hier für eine, so interpretiere ich bereits. Hieraus resultieren zwei Schlüsse: Einerseits wurde ein Grossteil unserer Heiligen Schrift in einer Sprache geschrieben, die man nur lesen kann, wenn man sie interpretiert. Interpretation ist folglich Pflicht.

Freiheit und Verantwortung der Auslegung: Peter Wick (Aufnahme von 2012).

Andererseits muss uns bewusst sein, dass dies auch eine ganze Kultur prägte: Jesus, genauso wie die Menschen, die zu seiner Zeit und vor ihm in der jüdischen Kultur lebten, waren gewohnt, ständig verschiedene Sinnmöglichkeiten auszuprobieren, sich für eine zu entscheiden, aber gleichzeitig in der Spannung zu leben, dass auch eine andere möglich wäre. Dass man sich auf eine Lesart einigte, geschah erst Jahrhunderte nach Jesus – er selbst kannte einen solchen fixierten Text nicht.

Die Tragweite der Interpretation
Nach diesem steilen Einstieg befanden wir uns mitten im Thema und wandten uns nun dem heissen Eisen der Bindungs- und Lösungsgewalt zu. Wer hat die Autorität, einen Text auszulegen? Was «bewirkt» eine solche Auslegung? Und welche Spannungen bestehen?

Anhand der Bibelstellen Matthäus 16,19 und Matthäus 18,18 näherten wir uns diesen Fragen an und kamen in Berührung mit – bewusst oder unbewusst solcherart geschriebenen – tendenziösen Übersetzungen. Wo es um Gewalt – heute würde man wohl eher von Macht sprechen – geht, da steht Einiges auf dem Spiel, so scheint es. Haben nun also kirchliche Autoritäten die Macht, über korrekte Auslegung zu entscheiden, oder die Gemeinschaft?

Der griechische Urtext legt eine Übersetzung der beiden Verse nahe, die dahin geht, dass an erster Stelle Petrus und damit den Autoritäten die Vollmacht zukommt, zu binden oder zu lösen – auszulegen. An zweiter Stelle kommt diese der ekklesia, der Gemeinde oder Kirche, zu. Die Auslegung letzterer hat allerdings im Zweifelsfalle etwas mehr Gewicht, da es dort heisst: «Alles (!), was ihr auf der Erde binden werdet …»

Neue Situationen fordern Auslegung
Diese Vollmacht des Bindens und Lösens besteht nun darin, die Gebote Gottes auszulegen für Fälle, Situationen oder auch Dinge, die in dieser Art neu sind. Und dies mit ungeheurer Wirksamkeit: Was von Autoritäten oder der ekklesia hier auf Erden als richtig erklärt wird, gilt auch im Himmel als richtig. Was hier auf Erden für ungültig erklärt wird, gilt auch im Himmel als ungültig.

Ein Beispiel dafür, wie die Kirche von dieser Lösegewalt Gebrauch machte und damit das Gesicht der Welt veränderte, nannte Peter Wick: die Aufhebung des Zinsverbots in der Reformation. Eine Wirtschaft und ein Kapitalismus, wie wir sie heute kennen, wären ohne diese Aufhebung undenkbar.

Was darf die Kirche?
Jedoch stellt uns eine solche Macht auch vor die Frage, ob es Grenzen gibt und welches diese sind. Maimonides, der grosse jüdische Gelehrte des 12. Jahrhunderts, stellte beispielsweise das Kriterium auf, dass jede Änderung innerhalb der Gemeinschaft auch innerhalb eines Jahres von mindestens 50 Prozent der Leute implementiert werden müsse, ansonsten gelte sie als ungültig.

Aber wo soll nun die Kirche mit der Mehrheit handeln, wo gegen sie? Wo soll sie gesellschaftliche Veränderungen nachvollziehen, wo kann sie sogar Vorreiterin sein, und wo soll sie sich Entwicklungen entgegenstellen? Und was genau ist überhaupt Kirche? So gross die Macht, die uns mit dieser Binde- und Lösegewalt gegeben ist, so gross ist auch die damit verbundene Verantwortung.

Glauben an Gott gibt es nicht ohne «Tremolo»
Während uns diese Matthäus-Stellen unglaublich ermächtigen und uns Freiheiten zubilligen, klingt es in Matthäus 5,17 ganz anders: Jesus hält hier fest, dass nicht ein Jota des Gesetzes vergehen wird durch ihn. Je tiefer man in dieses Thema eintaucht, desto mehr Spannungen tun sich auf. Einfache Antworten scheint es nicht zu geben, dafür erhält man aufs Neue eine Idee davon, was es heisst, an einen grossen, für uns im Letzten unverfügbaren Gott zu glauben.

Peter Wick machte einen kurzen Exkurs zu Hartmut Rosas Gedanken. Wir setzten uns diesen Spannungen aus und realisierten aufs Neue, dass es Gottesglauben ohne «Tremolo» so nicht gibt, dass Gott verstummt, falls wir versuchen, ihn verfügbar zu machen – und dass es ohne ein zeitweises Erschrecken über Gott keine Resonanz mehr geben kann mit Gott.

Jesus widerspricht
Dies gesagt und uns einmal mehr bewusst gemacht, an was für einen Gott wir glauben, widmeten wir uns nun Beispielen innerbiblischer ethischer Interpretationen. Ob bei Jesus, in den Briefen oder auch in der Torah, die Bibel ist voll von Interpretationen und Auslegungen.

Ein Beispiel: Gott hat den Israeliten und Israelitinnen nie selbst die Möglichkeit des Scheidebriefs gegeben, sondern es war Moses Rücksichtnahme auf ihre Hartherzigkeit, die ihn diese Möglichkeit in Deuteronomium 24 einführen liess. Jesus wiederum widersprach dieser Auslegung durch Mose vehement in Matthäs 19,8f. Gott gab hier also ein Gebot, welches Mose auslegte. Jesus wiederum erklärte diese Auslegung für nicht mehr gültig und wollte zurück zum ursprünglichen Gebot.

Plan und Realisierung
Nebst diesen innerbiblischen Auslegungen betrachteten wir Ausschnitte aus dem Schöpfungsbericht (1. Mose 1) eingehender. In ihnen wird nach Peter Wick bei genauem Lesen ersichtlich, wie Gott mit Plänen umgeht. Wie er zu Anfang einen Plan machte, es in der Realisierung ebendieses Plans dann aber zu Änderungen kam: Gewisses, das geplant war, wurde nicht explizit ausgeführt (etwa, dass der Mensch nicht nur ein Bild, sondern ein Abbild Gottes ist). Anderes, das nicht geplant war, wurde in der Realisierung hinzugefügt (etwa, dass die Menschen männlich und weiblich geschaffen wurden und angehalten sind, sich zu vermehren).

Die Auslegung des Plans Gottes, die Realisierung seines Plans, beinhalten Spielraum, sagte der Referent. Und so wird es wohl auch sein mit seinem Plan für diese Welt und für unser Leben: Es gibt einen Plan, aber ebenso gibt es in dessen Realisierung Spielraum. In diesem Raum wissen wir uns, wenn wir biblische Texte ethisch auslegen.

Ermutigende Gemeinschaft
Mit diesen Impulsen und vielen weiteren Anregungen nach den Vorträgen pflegten wir Teilnehmenden auch untereinander Gemeinschaft. Wir tauschten uns über unser Leben, unsere Arbeit und unsere Visionen aus, diskutierten die Bedeutung des Gehörten für unseren (Berufs-)Alltag und ermutigten einander in Gesprächen, im Gebet und im gemeinsamen Abendmahl.

In dieser Gemeinschaft kam wohl auch viel von dem zum Ausdruck, was diese Tagung nebst den fachlich-biblischen Impulsen anregen wollte: Das Wahrnehmen, Staunen und Anerkennen, dass es viele mögliche Auslegungen gibt und diese nicht gottlos sein müssen. Das Sich-Üben in Toleranz gegenüber anderen Auslegungen, ohne dabei entgegen dem eigenen Gewissen zu handeln. Das Aushalten all der mit der Freiheit und Verantwortung der Auslegungspflicht verbundenen Spannungen.

Und so gehen wir inspiriert, gestärkt und vor allem zum Nachdenken angeregt zurück in unseren Alltag und üben uns weiter in Eifer und Demut um die richtige Auslegung des Wortes Gottes.

Leandra Zeller ist Pfarrerin in Horw.

Website der Schweizerischen Evangelischen Pfarrgemeinschaft