Strahlen der Reformation ins 21. Jahrhundert
Heute muss neu buchstabiert werden, was früheren Generationen von Protestanten klar war: dass die Reformatoren das Evangelium als Heilsbotschaft neu entdeckt und damit den Grund für religiöse und politische Freiheit gelegt hatten. 500 Jahre nach Beginn der Reformation kommt es darauf an, die geistigen und gesellschaftlichen Dimensionen jenes religiösen Aufbruchs frisch einsichtig zu machen. Der Kongress zum Reformationsjubiläum, der vom 6.-10. Oktober 2013 in Zürich stattfand, war in seinen besten Momenten auf der Höhe der Aufgabe.
Es ist südlich des Rheins Mode geworden, die Reformation des 16. Jahrhunderts herabzustufen, als Befreiung der Politik von religiöser Bevormundung und der Gläubigen vom kirchlichen Monopol in der Bibelauslegung. Die Reformation habe Glaubenskriege verursacht, heisst es.* Der grundlegende Beitrag der Reformatoren zum Werden des modernen Europa wird kleingeredet. Der Zürcher Justizdirektor Martin Graf, der die Gäste des Kongresses am 6. Oktober begrüsste, hielt als wichtigste Errungenschaft fest, die Reformation habe "den Weg zur Aufklärung und zur Säkularisierung" bereitet und den Menschen freies Denken und Handeln ermöglicht. Auch wenn damals die Freiheit der Reformierten beschränkt gewesen sei, "sind wir doch alle das Produkt dieser Befreiung" - geschehen in der Aufklärung!
Zum ersten Mal miteinander
Die altprotestantischen Kirchen wollen nicht nur die globale Bedeutung der Reformation ins Licht stellen. Sie suchen sich mit dem Jubiläum ihrer selbst zu vergewissern. Mit dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund SEK hatte die Evangelische Kirche in Deutschland EKD zum Kongress eingeladen; die Zürcher Landeskirche organisierte ihn. Zum erstenmal werden die Kirchen der Reformation ihr Jubiläum gemeinsam feiern; Reformierte und Lutheraner haben einander erst vor 40 Jahren Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft gewährt.
Die Freude darüber brachte der Initiant des Fachkongresses, SEK-Ratspräsident Gottfried Locher (mit Nikolaus Schneider), in seinem Willkomm zum Ausdruck. Er zollte den Schweizer Reformatoren Zwingli, Bullinger und Calvin Tribut: Ohne sie wäre die Reformation wohl ein deutschsprachiges und nordeuropäisches Phänomen geblieben. Der Kongress mache die "gesamteuropäische Dimension der Reformation sichtbar". Im Miteinander könnten die Protestanten die Schätze der je anderen Traditionen wahrnehmen. Locher sprach von der ökumenischen Dimension des Jubiläums (zum Abschluss des Kongresses diskutierte er mit Kardinal Kurt Koch, der bloss von einem Reformationsgedenken spricht). Im Blick auf die "Freikirchen, die sich auf die radikale und damals verfolgte Reformationsbewegung berufen", fordere die 500-Jahr-Feier den Protestanten Selbstkritik ab.
"Das Handeln Gottes an uns" feiern
Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider brachte in seinem Grusswort den kulturellen Gehalt der Reformation ins Spiel, indem er die Frage von Angela Merkel zitierte: "Wie ist unser Land davon geprägt worden, und welche Prägekraft geht für die Zukunft für unser Land davon aus"? Vom Reformationsjubiläum, so die Kanzlerin, würden Bildungsimpulse erwartet, auch Anstösse für nicht-religiöse Menschen. Die EKD-Synode 2012 hat angeregt, die Zeit bis 2017 "für eine intensive Beschäftigung mit den Kernthemen reformatorischen Glaubens zu nutzen".
Wie Nikolaus Schneider betonte, feiern die Protestanten nicht sich selbst "oder gar unsere Kirchen. Vielmehr feiern wir Gottes Handeln an uns, wie es damals in jenen stürmischen Zeiten des Aufbruchs in die moderne Welt neu sichtbar wurde". Die Protestanten hätten gemeinsam einzustehen für die Botschaft des Evangeliums in einer Welt, die "ihre eigenen religiösen Wurzeln leichthin vergisst". Die Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde befreie die Christen zum Handeln hier und jetzt. Der oberste Vertreter des deutschen Protestantismus unterstrich, was die EKD-Synode formuliert hatte: "Die Reformation ist Weltbürgerin geworden. Sie gehört allen".
Die Kerngedanken der Reformation für unsere Zeit verständlich formulieren: Nikolaus Schneiders Ansprache
Wovon Protestanten leben
Baron Rowan Williams, bis 2012 Erzbischof von Canterbury, liess in einem brillanten Vortrag aufscheinen, was Europa (und die Welt) in der Reformation geschenkt bekam - und wie lohnend der Umgang mit diesem Erbe ist. Williams nannte drei Themen, denen "anhaltende und wesentliche Bedeutung für die theologische Gesundheit der christlichen Gemeinschaft" zukomme:
1. Gott ist souverän. Das Handeln des Schöpfers und das Handeln seiner Geschöpfe sind absolut unterschieden.
2. Die Heilige Schrift ist nicht bloss Text und Quelle für die christliche Lehre, sie ist nie nur ein Instrument der Kirche, sondern eine "kritische Präsenz" in der Kirche, kommt ihr in die Quere.
3. Die Kirche ist zuerst und vor allem die Sammlung eines Volkes, nicht von Herrschern und ihren Untertanen.
Die Sprache des reformatorischen Glaubens, so der britische Theologe, ist "geprägt durch Dankbarkeit für unverdiente und nicht verursachte Liebe und Vergebung, Dankbarkeit dafür, dass Gott Gott ist". Gott stehe - allen Behauptungen zum Trotz - den Menschen nicht vor dem Licht und der Freiheit. Rowan Williams verbeugte sich vor Calvin: Im 16. Jahrhundert hätten sich die Reformatoren für einen reifen Glauben ohne infantilisierende Impulse eingesetzt; dies müsse heute mehr denn je das Bestreben sein, "wenn christlicher Glaube überzeugen und anziehen und zum Uebertritt veranlassen will".
Hellwache Gemeinschaft im Hören auf die Schrift: Résumé von R. Williams' Vortrag
Zürichs historische Stunde
Stand im Vortrag von Baron Williams das Wechselspiel von geistlichen und kulturellen Wirkungen der Reformation im Mittelpunkt, fokussierte Peter Opitz auf ihre Anfänge in der Stadt Zwinglis. Dabei rückte der Professor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich auch die Verdienste von Zwinglis wenig bekanntem Nachfolger Heinrich Bullinger ins Licht. Dieser habe als Netzwerker entscheidend dazu beigetragen, dass aus der Zürcher Reformation eine europäische Bewegung wurde.
Mit den beiden humanistisch gebildeten Kirchenleitern machte Zürich Geschichte: "Die Zürcher Reformation ist der Beginn des reformierten Protestantismus und damit die historische Wiege des grössten Teils der Reformations-Bewegung. Die erste Stadt der Welt, in der die Reformation offiziell eingeführt wurde, ist Zürich". Peter Opitz sagte auch, wann die führende Stellung Zürichs in der europäischen Reformationsgeschichte endete: "in dem Moment, als der Zürcher Rat beschloss, nur noch einheimische Pfarrer anzustellen". Von da an wurde Genf zum Zentrum der Schweizer Reformation - mit Theologen, die zumeist aus Frankreich stammten. "Die Schweizer Reformation war von Anfang an eine europäische Sache".
Miteinander zur Gemeinschaft mit Christus berufen
Peter Opitz stellte einen wesentlichen Unterschied zwischen den Reformierten und der von Luther geprägten Bewegung heraus: Luther habe als spätmittelalterlicher Mönch um das Heil seiner Seele gerungen und die Rechtfertigung des Einzelnen durch den gnädigen Gott entdeckt. Zwingli und seine Mitstreiter waren Pfarrer des Volks, die als Humanisten nach der Würde und Bestimmung der Menschen fragten und sie miteinander zur Gemeinschaft mit Christus einluden (Matthäus 11,28). Waren für Luther Gesetz und Evangelium leitende Begriffe, kreiste das Denken der Schweizer um Erwählung und Bund: "Das Evangelium wird vor allem in der Gemeinschaft erfahrbar und es zielt auf Gemeinschaft, auf die Gemeinschaft mit Gott und dann auch mit den Menschen".
Die Reformierten wollten die Volksgemeinschaft in der biblischen Wahrheit schulen. "Alle sollten das göttliche Wort kennen und verstehen lernen - und zwar möglichst aus der Quelle". Die Übersetzung der Bibel geschah im Team; die ganze Kirche wurde als "Lerngemeinschaft und deshalb nie endende Kommunikationsgemeinschaft" verstanden. Für die Schweizer Reformatoren ist Kirche "eine Gemeinschaft, in der sich Versöhnung und Recht zeichenhaft verwirklicht und die zeichenhaft für Versöhnung und Recht in der Welt eintritt", geleitet durch den Heiligen Geist.
Jubiläum kritisch feiern
Was kann das Reformationsjubiläum leisten? Der Historiker, der eingangs daran erinnert hatte, dass die reformatorischen Kirchen heute global gegenüber Evangelikalen und Pfingstlern stark ins Hintertreffen geraten sind, regte an, 500 Jahre später auch Distanz zu den Reformatoren zu markieren "dort, wo sie im Widerspruch zu ihren eigenen Worten standen". Dies sei übrigens durchaus im Sinne der (in vielem selbstkritischen) Gründerväter der Reformierten. Darüber hinaus meinte Opitz, es könne darum gehen, "daran zu erinnern und dafür einzustehen, dass unsere Kirchen wahre Orte der Gemeinschaft und des Lernens, der Versöhnung und des Rechts und auch des Eingeständnisses eigener Schuld bleiben und immer mehr werden. Und so auch Orte des Dankes und Bekennens in sichtbarer und erfahrbarer Form".
"Wer bin ich"?
Der Kongress hatte mit einem öffentlichen Abendmahlsgottesdienst im Grossmünster, Zwinglis Kirche, begonnen. Er wurde von einem Toggenburger Jodelchor mitgestaltet. Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller predigte zu Apostelgeschichte 11,1-18, dem Bericht des Petrus, dass der Heilige Geist ihn zu Heiden geführt hatte. Müller fragte: "Kann an einem solchen Ort, hier und heute, der Geist Gottes uns auf eine Art begegnen, dass es einen Sturm auslöst"? Die Kirchen hätten "ausgeklügelte Systeme entwickelt, um das Wirken des Geistes zu prüfen und zu domestizieren".
Ihre heutige Vielfalt kann - Müller zitierte Oscar Cullmann - als eine Wirkung des Geistes gesehen werden. Daraus ergebe sich die Herausforderung, das Erbe der Reformation mit den jungen Kirchen, namentlich den Pfingstkirchen, zu bedenken. Die reformatorischen Kirchen können nicht bleiben, was sie sind: "Wir müssen hinaus aus unseren alten Mauern ... in die Welt, wie sie nun einmal ist". Dafür könne von Zwingli gelernt werden, der dem Geist Gottes die Erneuerung der Kirche zutraute, und von Petrus, der seinen Bericht von der Grenzüberschreitung abschloss mit dem Satz: "Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können"?
Videos der Vorträge und Gesprächsrunden
EKD-Website zum Reformationskongress
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* Das neue Zürcher Oberstufen-Lehrmittel blickpunkt für das Fach Religion und und Kultur hat einen Überblickstext Wie das Christentum in die Schweiz gekommen ist. In ihm kommt Reformation als Epoche gar nicht vor. Nach dem Abschnitt übers Mittelalter, der mit der Renaissance in Norditalien abschliesst, ist unter dem Titel Christentum, Aufklärung und europäische Kultur zu lesen:
"Das 16. und 17. Jahrhundert waren geprägt durch die konfessionellen Gegensätze zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation. Es kam zu langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Mächten. Aberglaube und Hexenwahn brachten zusätzlich Schrecken unter die Bevölkerung. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, forderten christlich geprägte Gelehrte, sich an Vernunft und Wissenschaft zu orientieren
..."