Reformierte Kirche und das Vergessen Gottes

Die Abgeordneten des Kirchenbundes wählten am 5. November in Bern den Neuenburger Pfarrer Pierre de Salis (Bild) zu ihrem neuen Präsidenten. Er wird er den Übergang zur nationalen Synode leiten, welche der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS Gestalt und Gewicht geben soll. Gottfried Locher machte deutlich, dass mehr als Strukturen die Gottes-Erfahrungen der Reformierten dafür wesentlich sein werden.

Pierre de Salis bezeichnete den Start der EKS als «einmalige Gelegenheit, dem Schweizer Protestantismus mehr Sichtbarkeit zu verleihen und unseren Auftrag als treibende Kraft für die Gesellschaft zu würdigen». Dies in ethischer und spiritueller Hinsicht, auch für ein Zusammenleben im Sinne des Evangeliums, «für den gegenseitigen Respekt, den aktiven Widerstand gegen jegliche Form von Gewalt und für die Sorge um die Schwächsten unter uns».

Gott zur Sprache bringen
Gottfried Locher hielt eine Ansprache (Video) an die Delegierten der 25 Kantonalkirchen und der Methodisten, die neu die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS bilden. Er rief sie auf, nun auf ihre gemeinsame geistliche Verantwortung zu fokussieren und Gott im Land zur Sprache zu bringen. Der Ratspräsident verwies auf ein kürzlich in der NZZ veröffentlichtes Gespräch mit dem atheistischen russischen Politiker Vitali Malkin, der zum Angriff auf die Illusion der Religion bläst und hofft, so auch andere Illusionen aus der Welt zu schaffen.

Locher fasste die Religionskritik des 19. Jahrhunderts (Feuerbach, Marx, Nietzsche) zusammen – alte Pfeile, die noch immer treffen (K. Löwith). Ohne zu beschönigen, schilderte er, was für den durchschnittlichen Westler von heute daraus geworden ist: Religion ist Projektion. Gott ist eigentlich tot. Sollte er wider Erwarten nicht tot sein, ist er für die Welt, in der wir leben, nicht relevant. Dies werde Christen gesagt, höflich zwar, doch so, als sei es selbstverständlich. Locher: «Wie oft begegne ich einem freundlichen Atheismus, einem, der mich anlächelt. Und ich frage mich: Warum streitet er nicht? Weil er es nicht mehr nötig hat.»

Über Gott wird nicht mehr gestritten: Gottfried Locher (Bild: N. Rauscher/SEK).

Für die meisten hat sich die Frage nach Gott erledigt
Dies sei nicht einmal überraschend. Nur die Eifrigsten unter den Religionskritikern seien noch im Kampf. «Gott ist für viele schon zu lange tot.» Gespräche über Gott und die Welt drehten sich meist um die Welt. Für die Gegenwart und Zukunft spiele er keine Rolle mehr. Gottfried Locher diagnostizierte etwas wie Post-Atheismus, «die Zeit, da Gott für eine grosse Öffentlichkeit derart bedeutungslos geworden ist, dass ihn gar niemand bestreiten muss. Sein Tod ist vorbei.» Viele lebten heute selbstverständlich ohne Gott – auch ohne die Frage nach Gott.

Wie kann da die Rede vom dreieinen Gott überhaupt Gehör und Aufnahme finden? Gottfried Locher sprach die Abgeordneten als die höchste Instanz der evangelisch-reformierten Schweiz an. «Solus Christus» (Christus allein) hätten sich die Reformatoren auf die Fahne geschrieben – «der lebendige Auferstandene, von dem wir sagen, dass er unter uns ist, hier und jetzt und im Abendmahl und im Alltag».

Der Ratspräsident fragte: «Ist uns bewusst, wie grundverschieden die Weltbilder sind? Ist Gott nun eine Illusion, eine Projektion des Menschen … – oder ist Gott das Vis-à-vis unseres Gebetes, die heilende Kraft auch dieser Gemeinschaft in diesem Saal? … Ist Gott nichts als ein Tranquilizer für Realitätsscheue – oder begegnen wir Gott real präsent, real wirksam … Was gilt: Gott ist tot – oder Christus ist auferstanden von den Toten?»

«Denkfest» der Freidenker in Zürich mit Plakaten des Reformationsjubiläums, November 2017. Der Zürcher Verein fürs Jubiliäum unterstützte die Veranstaltung finanziell.

Ganzheitlich glauben!
Die Reformieren an der Basis lebten im Dilemma zwischen rationalem Denken und frommem Fühlen. Er wolle ganzheitlich glauben, mit dem Verstand und dem Herz. Dies sei die Gretchenfrage auch der EKS, sagte Locher: «Wie erfahren wir Gott? Spricht er uns an? Berührt er uns? Tröstet, stärkt und leitet er uns? Wenn er nicht tot ist, wenn er wirklich lebt, wie erleben wir ihn denn unter uns?» Die Gretchenfrage sei nicht akademisch. Wenn der lebendige Gott nicht in der Kirche zu erleben sei, würden ihr alle Effizienzsteigerungsprogramme nicht helfen. «Auf die Gottesfrage gibt es nur eine überzeugende Antwort: das Gotteserlebnis – Gott erfahren.»

Die Erfahrung Gottes sei persönlich zu machen und öffentlich zu vertreten – auch im Eintreten für die Menschenrechte, im Einsatz für Verfolgte. Locher erwähnte die pakistanische Christin Asia Bibi und bekundete nach dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh die Verbundenheit mit den Juden. Die Reformierten könnten in der Nachfolge von Christus den lebendigen Gott erfahren und ihn anderen bezeugen. Dazu sei die EKS da. «Liebe Geschwister, yes, we can.»

Fürsorgliche Gemeinschaften, Werke, Europas Kirchen
Vor Gottfried Lochers Ansprache hatten die Abgeordneten für die nächsten Jahre ihr Präsidium, GPK und Nominationskommission bestimmt. Es folgten Mitteilungen des Rates SEK. Esther Gaillard wies auf die nationale Tagung zur Palliative Care hin, die nächstens in Biel stattfindet, und betonte den Wert von «caring communities». Daniel Reuter dankte den evangelischen Werken HEKS und BFA, die Gespräche über ein Zusammengehen führen. Dafür müsse zuerst Klarheit über die Geldflüsse geschaffen werden. Das Budget 2019 des SEK (6 Mio. Franken) wurde beschlossen, ebenso ein erhöhter Beitrag an die Seelsorge in den Asylzentren des Bundes (420‘000 Franken).

Parfaitement bilingue: Als Vizepräsident der AV hatte Pierre de Salis grossen Anteil an der Erarbeitung der neuen Verfassung in zwei Sprachen. Im Bild mit Claudia Haslebacher (rechts) und Anne Durrer.

Drei Abgeordnete berichteten über die sechste Vollversammlung der GEKE, der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, im September in Basel. «Es wurde spürbar, dass wir trotz Unterschieden als Christinnen und Christen in Europa unterwegs sind», sagte Martin Stingelin. Miriam Neubert nannte Papiere, die beraten wurden: über das gemeinsame Kirche-Sein, zur Verantwortung für den Frieden 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg, zu den Schwierigkeiten in der Diaspora.

Auf dem Weg zur nationalen Synode
Die Abgeordnetenversammlung (AV) hat im Juni die neue Verfassung in zweiter Lesung beraten; die Schlussabstimmung und ein Festgottesdienst finden am 18. Dezember statt. Die Abgeordneten gleisten am 5. November die Folgearbeiten gemäss den Vorschlägen des AV-Präsidiums, der GPK und der Berner Delegation auf. Eine ad-hoc-Kommission soll das Reglement der Synode erarbeiten; die Synodalen sollen 2019 in den Kantonalkirchen gewählt werden.

Wichtige Anregungen aus dem europäischen Protestantismus: Miriam Neubert vor den Abgeordneten (Bild: N. Rauscher/SEK).

Die GPK schlug vor, für die nächsten Jahre eine Redaktionskommission zu ermöglichen – da die Kirchen über sprachliche und kulturelle Grenzen näher zusammenrücken wollten. Der Bündner Vertreter Andreas Thöny wünschte, das Verfahren zur Nomination besser zu regeln. Die abtretende AV-Präsidentin Claudia Haslebacher äusserte, es verstehe sich von selbst, dass man Leute mit Verständnis für geistliche Leitung suche.

SEK-Website zur Versammlung
Die Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (vor Schlussabstimmung)