Die Reformierten auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft

Der Wille, gemeinsam eine neue Verfassung zu schreiben, einte die Abgeordneten des Kirchenbunds in den letzten Jahren. Wie die dadurch gegründete Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS auftreten und wirken soll, gibt nun zu reden. Die Forderung, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, bedroht die entstehende Kirchengemeinschaft. Geldsorgen plagen mehrere Kirchen. Zu reden gab auch die geplante Fusion von HEKS und Brot für alle.

Die Abgeordneten der 26 Mitgliedkirchen trafen sich vom 16. bis 18. Juni in Winterthur zur Sommerversammlung (AV). Mit Spannung erwartet wurde das Traktandum «Familie, Ehe, Partnerschaft, Sexualität aus evangelisch-reformierter Sicht».  Die St. Galler Kirche hatte 2016 mit einer Motion die Arbeit am grossen Themenbereich angestossen.

Eine Arbeitsgruppe des Rats erstellte ein Papier. Darin stellte sie unvereinbare Positionen zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare fest. Der Rat nahm dazu Stellung, indem er fürs innerkirchliche Gespräch eine «geschwisterliche Haltung ... mit gegenseitigem Respekt und Achtung für die Glaubensüberzeugungen anderer» anmahnte.

Unvereinbare Ehe-Verständnisse
Als Sprecher des Rats betonte Daniel Reuter eingangs, die verschiedenen, unvereinbaren Verständnisse der Ehe seien nicht kirchentrennend. Wenn die Schweizer Reformierten und Methodisten darüber debattierten, hätten sie auch den weltweiten ökumenischen Kontext zu beachten. Der Nachvollzug staatlicher Regelungen sei gut zu überlegen.

Gegen den Vorschlag von Rat und AV-Büro, die Abgeordneten zuerst in Gruppen diskutieren zu lassen, wandte sich der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller. Sein Ordnungsantrag, die Debatte von Beginn weg im Plenum durchzuführen, wurde deutlich angenommen.

Kritik am Papier
Für die St. Galler Kirche kommentierte Barbara Damaschke-Bösch das Papier. Sie kritisierte die Auswahl der Fachpersonen für die Arbeitsgruppe und dass diverse Themen im Bereich (so sexuelle Gewalt, ungewollte Kinderlosigkeit, Transsexualität) nicht oder verkürzt dargestellt worden seien. Vom Rat habe man mehr Klarheit erwartet. Eine vertiefte Debatte über das zugrundeliegende Bibelverständnis tue Not, sagte Barbara Damaschke-Bösch. Die Position des Rats werde sich die St. Galler Delegation nicht zu eigen machen. Am Thema sei weiterzuarbeiten.

Gottfried Locher und Daniel Reuter im Gespräch mit Andreas Zeller und Michel Müller.

Das Papier wurde von den Votanten konträr bewertet. Es bilde die innerkirchliche Diskussion ab und atme «den Geist des Wir-Gefühls», sagte Daniel Rüegg (VS). Der Rat des SEK mache einen Spagat, der nicht befriedige, sagte Tobias Ulbrich (TI). Wichtiger als «Prinzipien einer wortgebundenen Ethik» seien die Menschen, die in ihrer Würde akzeptiert werden wollten. Die Methodistin Claudia Haslebacher befand, die Aufgabe sei unerfüllbar gewesen.

Was die Volkskirche aushalten muss
Willi Honegger (ZH) forderte einen fairen, «herrschaftsfreien Diskurs» aufgrund des Papiers, das als eine erste Auslegeordnung gelten könne. Die Ehe-Frage mit einem reinen Mehrheitsbeschluss zu entscheiden, sei für die Kirche – auch nach der politischen Beschlussfassung – kein gangbarer Weg. «Eine Volkskirche muss es aushalten, dass es bleibend unterschiedliche Haltungen … gibt.»

Honegger warnte vor Sprech- und Denkverboten, die Berufsverbote für Pfarrer zur Folge haben könnten. Die Verschiedenheit in Glaubens-Überzeugungen auszuhalten, sei kein Schwächezeichen, sondern «ein Ausdruck von Vertrauensstärke, die darauf vertraut, dass der Geist Gottes uns trotz grosser Differenzen beieinander hält.»

Menschenbild und Bibelverständnis
Ursula Stämmer-Horst (LU) erwähnte die Nöte von Menschen, die sich von der Kirche im Stich gelassen fühlten. Es gebe nicht nur Homosexualität, sondern auch andere Formen der Sexualität. Mirjam Neubert (GR) Sprecherin der Frauenkonferenz, kritisierte, der Mensch werde im Papier «sehr biologistisch» gesehen. Durch die Hintertür ziehe die Diskriminierung ein. Mit dem Zitieren von Bibelversen sei es nicht getan, nötig sei eine «theologische Klärung». Die Gesellschaft sei längst breiter aufgestellt, sagte Neubert; die ganze Breite der LGBTIQ-Bewegung müsse wahrgenommen werden.

Christopher Street Day in Zürich

Thomas Plaz (ZH) vermisste Differenzierungen. Das Bibelverständnis sei grundlegend zu diskutieren. «Erst im 14. Jahrhundert kam die Trauung in die Kirche.» Im Papier seien Schöpfung und Natur verwechselt –«was hier als Schöpfung daherkommt, ist naturrechtliche Ableitung». Andreas Zeller, der für die Berner Delegation sprach, begrüsste die ersten Sätze der Position des Rats. Dadurch sei jegliche Diskriminierung auf sexueller Basis ausgeschlossen. Die Reformierten hätten sich für die Öffnung der Ehe auszusprechen.

Seelsorge oder Imagepflege?
Martin Stingelin (BL) wertete die Position des Rats als Rückschritt. Thomas Grossenbacher (ZH) fragte, ob es der Kirche um Seelsorge gehe – oder um Imagepflege. «Welche Rolle spielen wir in der Deutung familialer Politik, die ein ganz wichtiges Thema ist?» Stefan Fischer (BS) erwähnte den Beschluss der österreichischen Lutheraner, bei gleichgeschlechtlichen Paaren von einer «der Ehe analogen Verbindung» zu sprechen.

Für die Nordwestschweizer Kirchen sprach auch Doris Wagner (BL). Sie kritisierte das Papier und bemerkte, gleichgeschlechtliche Menschen gehörten zur Kirchengemeinschaft. Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller forderte kirchliche Rücksichtnahme «gegenüber Menschen, die sich nicht ändern können». Überzeugungen dagegen könnten sich ändern.

Ebenen unterscheiden
Wilfried Bührer (TG) hob den Unterschied zwischen dem Nein zur Diskriminierung Homosexueller und der Neu-Definition der Ehe hervor. Es gehe politisch um einen anderen Ehe-Begriff, und weitergehende Vorschläge ständen im Raum. Nach dem politischen Entscheid, so Bührer, würden die Reformierten nochmals gründlich diskutieren müssen.

Laurent Zumstein (VD) bestritt den Röstigraben, die Differenz, welche das Papier zwischen Meinungen in den Landesteilen ausgemacht hatte. Claudia Haslebacher gab ihre «Bauchschmerzen» zu Protokoll: Menschen mit konservativer Überzeugung trauten sich in der Schweiz nicht mehr öffentlich zu reden.

«Ausdruck geschöpflicher Fülle»
Nach der Pause beantragte Michel Müller, die Abgeordneten sollten sich bloss die ersten drei Sätze  der Position des Rats zu eigen machen: «Wir sind von Gott gewollt, so wie wir geschaffen sind. Unsere sexuelle Orientierung können wir uns nicht aussuchen. Wir nehmen sie als Ausdruck geschöpflicher Fülle wahr.»Mit einer Enthaltung billigten die Abgeordneten diesen Antrag. Sie beschlossen weiter, die Motion nicht abzuschreiben. Daniel Reuter räumte ein, dass es an den Themen unbedingt weiterzuarbeiten gelte. Gottfried Locher sicherte zu, dies werde partizipativ geschehen. In einem Jahr hat der Rat den Vertretern der Mitgliedkirchen wieder Bericht zu erstatten.

Hatte mit seinem Antrag Erfolg: Michel Müller, Zürcher Kirchenratspräsident.

Die Stossrichtung des Rates…
Die Abgeordnetenversammlung (AV) in der Methodistenkirche von Winterthur hatte am 16. Juni mit einem Paukenschlag begonnen. In den Legislaturzielen 2019-2022 «Auf Christus zentriert – in der Gesellschaft engagiert» brachte der Rat des SEK seine Stossrichtung zum Ausdruck. «Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz fördert die kirchliche Einheit, … lebt in Gemeinschaft mit der weltweiten Christenheit, bringt den christlichen Glauben zur Sprache, fördert verschiedene lieux d’Eglise, praktiziert ihr gottesdienstliches und geistliches Leben sprachübergreifend…» (Ziele 3,5-8 von insgesamt 14 Zielen mit 52 Massnahmen).

… zurückgewiesen
Die GPK bewertete die Ziele in ihrem schriftlichen Bericht als «ein kaum realisierbares, weil viel zu umfassendes Programm». Die Absichten hinter den neuen (bisher vom Kirchenbund nicht angestrebten) Zielen seien unklar. Der Rat habe gewünscht, dass «Standpunkte und Instrumente der EKS bis in die lokale Ebene einfliessen»; dies fand die GPK unrealistisch.

An der Versammlung forderte der Aargauer Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg, das Traktandum (Kenntnisnahme der Legislaturziele) zu streichen. Die Ziele atmeten nicht den Geist der neuen Verfassung. Der Rat formuliere einen ungerechtfertigten Führungsanspruch. Unterstützung erhielt Weber-Berg aus Bern und Zürich. Mit 40 zu 22 Stimmen stimmte die AV der Streichung zu.

Handlungsfelder zusammen planen
Ratspräsident Gottfried Locher appellierte darauf an das «Wir-Gefühl» und den Willen zur Gemeinschaft innerhalb der EKS. «Wir erarbeiten gemeinsam Ziele und Massnahmen. Wir planen zusammen die Handlungsfelder. Und wir behandeln einander geschwisterlich.»

Gottfried Locher vor den Abgeordneten. Bild: SEK.

Die EKS wolle als Gemeinschaft Sinnsuchenden Heimat im Evangelium bieten. Mit der Annahme der neuen Verfassung sei der erste Schritt getan. «Nun auf zur Umsetzung. Gemeinsam, partizipativ, geschwisterlich. Die Chance ist einmalig.»

Finanznöte
Vom Mitgliederschwund geplagt, kommen mehr Kirchen des SEK an ihre finanziellen Grenzen. Die Kirchen der Romandie forderten daher in einer Motion, der Rat müsse «nebst dem Finanzplan auch eine getrennte und detaillierte Analyse der Ausgaben für jede Tätigkeit und jedes Projekt» vorlegen und angesichts abnehmender Mittel Prioritäten aufzeigen. Für jedes neue Projekt sei vorab ein Finanzplan zu unterbreiten. Mit Berner und Aargauer Stimmen fand die Motion eine Mehrheit.

Wenn HEKS und BFA fusionieren…
Zu reden gab an der AV auch die geplante Fusion von HEKS und Brot für alle. Andrea Trümpy (GL) warnte, die Fusion gefährde Mission 21 existentiell. Heinz Fäh (SG) forderte einen Ausgleich der Interessen. Christoph Knoch (BE) unterstrich, ohne die Kirchgemeinden, die Jahr für Jahr die Kampagnen treu umsetzten, werde man nicht Erfolg haben. Gottfried Locher sagte, die Kirche übernehme Verantwortung sowohl für die Hilfswerke wie für die Missionen.

Sorge um Mission 21: Andrea Trümpy.

Was tun im Klimawandel?
Eine Zürcher Interpellation zum theologisch begründeten Engagement angesichts des Klimawandels beantwortete für den Rat Pierre-Philippe Blaser. Er sagte, es gelte, unser Verhalten angesichts apokalyptischer Perspektiven gründlich zu hinterfragen und das Gebot, nicht zu begehren, auszuweiten auf die nächsten Generationen und anderer Völker Hab und Gut. Der Rat gab sieben Empfehlungen ab; er will lokale und kirchliche Initiativen unterstützen und sich für neue Wege einsetzen.

Die Abgeordneten nahmen den Bericht zur Vereinfachung der Strukturen in der landeskirchlichen Diakonie zur Kenntnis. Seit Anfang 2017 arbeitet die neu geschaffene «Konferenz Diakonie Schweiz». Das Fachportal diakonie.ch dient der Vernetzung. Die betreffende Motion wurde abgeschrieben, ebenso ein Vorstoss zur «Achtung der Verfassung und des Völkerrechts».

Website mit Materialien der AV