Seit längerem säkular – und nun?
Wer zu deuten beansprucht, wie sich der Unglauben verbreitet hat, will auch dem Glauben Vorschriften machen. Eine Fachtagung an der Universität Zürich griff Anfang Dezember 2015 die Debatte um Säkularisierung und Moderne auf. Peter Opitz mahnte, die Reformatoren nicht einfach zu Wegbereitern der Moderne umzubiegen. Hartmut von Sass fragte, ob «Säkularisierung» für Theologen überhaupt relevant sei.
Die beiden jüngsten Darstellungen der westlichen Säkularisierung stammen von Charles Taylor und Brad Gregory. Peter Opitz, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich, kritisierte an der Fachtagung ihre Abhängigkeit von den einflussreichen Thesen Max Webers (Entzauberung) und die Verallgemeinerungen, wo doch spezifische Kontexte zu beachten wären. Laut Taylor beanspruchte die Reformation, das Leben aller zu heiligen, was endlich zur Verweltlichung aller Lebensbereiche führte. In den Augen von Brad Gregory, wie Taylor Katholik, führte die Reformation einen schrankenlosen Pluralismus herauf, der der Orientierungslosigkeit und dem Konsumwahn von heute zugrunde liegt.
Opitz werteteTaylors wie Gregorys Quellenauswahl als selektiv und ihre Deutung als zweifelhaft. Von den eigentlichen Absichten der Reformatoren (etwa Befreiung von religiöser Knechtschaft) erfahre man bei Taylor nichts. Gregorys Argumentationskette sei lose gestrickt; er verschweige die Spannungen im katholischen Mittelalter.
Was die ersten Reformierten wollten
Als zentral bezeichnete Opitz den Kampf der Reformierten gegen jede Art der Verdinglichung der göttlichen Gnade. Sie strebten einen Gottesdienst ohne Vergötzung der Kreatur an und kämpften gegen Aberglauben. Für sie war Gott überall in seiner Schöpfung präsent doch nicht an etwas Geschöpflichen festzumachen. Wenn Reformierte Selbstdisziplinierung forderten, wenn sie auf ein geordnetes Leben, Fleiss, Nüchternheit und anständige Kleidung drangen, taten sie die in Aufnahme des antiken, in der Renaissance aktivierten Humanismus.
Vom schöpferischen Gott in die Welt gesetzt, war der Mensch berufen, sie zum Besseren zu verändern und dies nicht durch Kontemplation, sondern durch Arbeit. 1522 schrieb Zwingli: «Der Arbeitende ist auch äusserlich Gott ähnlicher als irgendein anderes Wesen auf der Welt.» Gesellschaft und Kirche waren gemäss Gottes Wort umzugestalten; dass es um einen Beginn ging, dessen waren sich die Reformatoren bewusst. Die Reformierten waren stärker obrigkeitskritisch als die Lutheraner. Laut Peter Opitz ist «reformierte Reformation aus dem Humanismus herausgewachsen und hat ihn nie abgestreift». Conrad Gessner, 1516 in Zürich geboren, bestieg als erster den Pilatus und klassifizierte die Pflanzenwelt; seine Gelehrsamkeit gedieh auf dem Boden von Zwinglis Schöpfungslehre.
Weichenstellungen - und mehr?
Nicht festlegen mochte sich Opitz in der Frage, inwiefern das 17. Jahrhundert mit seinen Konfessionskriegen als Wirkungsgeschichte der Reformation zu sehen ist. Jedenfalls seien in diesem «Jahrhundert des Zwiespalts» entscheidende Weichenstellungen für die Moderne erfolgt. Theorien, die alles Geschehen wenigen Gesichtspunkten unterordnen, lehnt der Historiker ab. «Wir brauchen historische Studien, die methodisch kontrolliert begrenzte Räume untersuchen.» In der Säkularisierungsdebatte seien etliche «potemkinsche Dörfer abzuräumen». Jedes Narrativ stelle auch eine Identitätskonstruktion dar, sagte Opitz mit Blick auf den Schluss von Taylors Buch «Ein säkulares Zeitalter».
Dass die Säkularisierung des Westens nur mit der christlichen Religion geschehen konnte und die Reformation Schlüsselimpulse gab, die zur Moderne führten, scheint für Opitz klar. Doch ist die Reformation deswegen nicht die grosse Epochenwende der Menschheitsgeschichte. Das historische Bewusstsein legt Zurückhaltung nahe. Anders als Max Webers Moderne, die an eine grosse Erzählung glaubte, herrsche heute ein Pluralismus von grossen Geschichten, welche auch als Identitätskonstruktionen der Gegenwart zu begreifen sind.
Zeit für eine Kritik der Säkularisierungstheorie
Hartmut von Sass, Privatdozent für Systematische Theologie und Religionsphilosophie in Zürich, unternahm in der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, Charles Taylor und anderen Denkern eine Metakritik der Säkularisierungstheorie. Der Verfasser eines Aufsatzes zum Thema (1) fragte, inwiefern diese Schöpfung der Soziologen, in den 1990-er Jahren teils verabschiedet, teils differenziert, für Geisteswissenschaftler und Theologen noch relevant ist. Jedenfalls geht ausserhalb Europas mehr Modernität nicht mit dem Rückzug und der Abnahme von Religion einher.
Die nach dem 11. September 2001 geäusserten Mahnungen des Atheisten Habermas entspringen seiner Sorge um die Stabilität des säkularen Rechtsstaats angesichts der Erosion von Tugenden wie Solidarität und Empathie. Damit der Rechtsstaat sich mit Tugenden wie Empathie und Engagement erhalten könne, wären auch religiöse Ressourcen nicht zu verachten, sondern anzuzapfen und einzusetzen. Von Sass erkennt darin eine Funktionalisierung und Verzweckung von Religion.
Gegen den Glaubensverlust - mit welchem Ziel?
Beim kanadischen katholischen Sozialphilosophen Charles Taylor sieht der Zürcher Religionsphilosoph eine «gegenmissionarische» Stossrichtung mit dem Ziel einer «Wiederaneignung anderenfalls verschollener Sinnressourcen, Identitätsstifter, Existenzvertiefer». Den westlichen Gang in die Moderne sehe Taylor als «Erosion des privat und öffentlichen kodierten Glaubens»; diese führe zu einer «existentiellen Leere, lebensweltlichen Verflachung, einer verkümmerten Artikulationsfähigkeit, die einem öden Humanismus das Feld überlassen muss». Im Schluss von Taylors Buch «Ein säkulares Zeitalter» erkennt von Sass eine «ideenpolitische Agitation gegen den Glaubensverlust».
Was kommt infolge und nach der Säkularisierung? Für Habermas ist eine Gesellschaft post-säkular, «die sich auf das Fortbestehen der Religion in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt». Der Theologe Ingolf Dalferth möchte von post-säkularer Gesellschaft erst sprechen bei der «Überwindung einer Moderne, die sich durch Absetzung von einer religiösen Vormoderne als säkular bestimmt hat» (vgl. die Ausführungen im LKF-Interview So dass für säkular lebende Menschen kein Anlass mehr bestünde, sich als säkular zu charakterisieren.
Hartmut von Sass plädierte dafür, Habermas wie Taylor als Interventionisten zu lesen, die nicht (nur) Säkularisierung verstehen, sondern die gesellschaftlichen Prozesse deutend beeinflussen möchten. Die Säkularisierungsthese sei als Beitrag zur «gegenwärtigen Selbstauslegung der Gesellschaft» (Trutz Rendtorff) zu verstehen. Es geht um Macht zur Deutung und Macht der Deutung. Dass die Theorie für Theologen relevant ist, steht damit erneut in Frage wenn sie den Mut haben, in ihren von der christlichen Tradition gegebenen Kategorien zu denken und sich zu äussern.
(1) Hartmut von Sass: Von Deutungsmächten wunderbar verborgen. Habermas, Taylor und die Metakritik der Säkularisierungstheorie. Die Zitate sind diesem unveröffentlichten Paper entnommen. Es wird im Band mit den Referaten der Tagung erscheinen.