Schweizer Reformierte im Jahr 2008
Die Besetzung der Zürcher Predigerkirche durch Sans Papiers vor Weihnachten 2008 machte bewusst, dass die Schweizer Reformierten während des Jahres wenig Schlagzeilen gemacht hatten. Die kreativsten Farbtupfer setzten die Basler Reformierten mit ihrer credo-Kampagne. Mehrere reformierte Kirchen beschäftigten sich intensiv mit ihren Strukturen, während im Westen das Calvin-Jahr vorbereitet und eingeläutet wurde. - Ein ganz unvollständiger Rückblick auf 2008.
Wer feiert Jean Calvin? Und wie? Der Genfer Reformator, dessen 500. Geburtstags 2009 gedacht wird, hat die Geschichte Westeuropas in andere Bahnen gelenkt: Er verankerte die Identität der Gläubigen in einem unerschütterlichen Fundament, indem er ihre Erwählung durch Gott betonte. Er gab ihnen damit Trost für jede Lebenslage und lehrte sie, alles zur Ehre Gottes zu tun, der sich ihnen liebevoll zugewandt hat. Dem Typ der Priester- und Pfarrerkirche setzte der aus Frankreich stammende Bibelgelehrte eine Gemeindeleitung im Miteinander von Theologen und Nicht-Theologen entgegen - ein Anstoss für den späteren Sieg der Demokratie im angelsächsischen Raum.
Transformierte Stadt
Genf hat allen Grund, Calvin zu feiern: Er transformierte die Stadt in seinem 23-jährigen Wirken und verlieh ihr mit der Predigerschule eine europäische Ausstrahlung. Die Vertreter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK wollten bei der Eröffnung des Gedenkjahrs Anfang November in der Rhonestadt nicht vom Erbe des Reformators im Sinn einer Verpflichtung sprechen.
Das Gedenkjahr soll in den bekenntnisfreien reformierten Kirchen zwischen Genfer- und Bodensee dazu dienen, Spuren Calvins aufzunehmen und einigen von ihm gestellten Fragen nachzugehen. Das Landeskirchen-Forum LKF zeigte in einer Tagung Calvins Ringen um die eine Kirche von Christus auf, es war nüchtern, aufs Wesentliche konzentriert und ökumenisch wegweisend.
Calvin und Barth
Wesentliche Informationen zum Calvin-Jahr 2009 gibt die offizielle Website calvin09.org; in der Deutschschweiz bereiten namentlich die theologischen Fakultäten Veranstaltungen vor. Im Schatten des anlaufenden Calvin-Jahres fand der 40. Todestag des grossen Theologen Karl Barth im Herbst wenig Aufmerksamkeit. An einer Fachtagung in Basel betonte der führende transatlantische Barth-Forscher Bruce McCormack (Princeton) die Aktualität von Barths Bibel- und Kirchenverständnis.
Unterwegs zum Christustag 2010
Die Vorarbeiten für den nächsten Christustag, der am 13. Juni 2010 im Berner Stade de Suisse abgehen wird, liefen an. Der SEK will sich stärker einbringen in die Grossveranstaltung mit ihrem bekennend-evangelistischen Charakter, den die Freikirchen und die Schweizerische Evangelische Allianz SEA geprägt haben. Im achtköpfigen Christustagskomitee, das von René Winkler (Chrischona) geleitet wird, stellt der SEK den Vizepräsidenten und ein weiteres Mitglied.
Kirchenzeitung - für wen?
Was soll reformiert.? Die Kooperation von vier Kirchenboten (BE, ZH, AG, GR), im Mai lanciert, kommt grossformatig daher. Doch ist auf den Seiten so viel Distanz zur Kirche zu spüren, dass engagierte Reformierte den Kopf schütteln. Die eingelegten Seiten der Kirchgemeinden können dieses Manko nicht ausgleichen, auch wenn sie es wollten. In der Startnummer träumte eine ex-katholische Akademikerin im Hauptinterview von einer Zeit, da es keine Kirche mehr geben wird. Der Zürcher Kirchenratspräsident Ruedi Reich machte im November die Kritik an einem Dossier öffentlich, welches die schamanischen Rituale einer Pfarrerin beleuchtete. Die vier Landeskirchen, in den Trägerschaftsvereinen von reformiert. unterschiedlich stark engagiert, werden entscheiden müssen, ob das Blatt mit dieser Stossrichtung der Kirche Mitglieder erhält und ihre Identität langfristig stärkt.
Pfarrerkirche fürs 21. Jahrhundert
Mehrere Landeskirchen waren 2008 mit ihren Strukturen beschäftigt. Die Zürcher Kirchensynode (oben) behandelte in neun Plenarsitzungen die neue Kirchenordnung. Sie sucht die Pfarrerkirche fürs 21. Jahrhundert aufzustellen; bezeichnend waren die langen Diskussionen um Teilzeitpfarrstellen, Talar und Gemeindeleitung. Weiterhin müssen Gemeindepfarrer (ab 50%) in der Kirchgemeinde wohnen, sie werden statt auf sechs auf vier Jahre gewählt.
Teil der einen Kirche
Die Zürcher Kirche verpflichtet die Pfarrer weiterhin durch das Ordinationsgelübde (Art. 105), nicht durch ein kirchliches Bekenntnis. Sie unterstreicht im Grundlagenteil ihre ökumenische Einbindung, als "Teil der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche" (das 'katholisch' war besonders umstritten). Neu findet sich da der Satz: "Die Landeskirche tritt ein für die Familie, für eine kinderfreundliche Gesellschaft und für das Miteinander der Generationen". - Auch die Thurgauer Landeskirche bearbeitete ihre Kirchenordnung.
Beauftragung fakultativ?
Der Berner Synodalrat, die neu von Andreas Zeller präsidierte Leitung der mit 650'000 Mitgliedern grössten Schweizer Landeskirche, suchte eine Lösung für die komplexen Fragen um Ordination bzw. Beauftragung von Pfarrern, Diakonen und Katechetinnen. Der zuständige Synodalrat Lucien Boder gab sich vor der Synode Anfang Dezember pragmatisch; er legte nahe, nicht vom (uneinheitlichen) Selbstverständnis der Berufe auszugehen, sondern vom Auftrag der Kirche. "Es sind nicht die Menschen, die eine Organisation aufstellen; unser Fundament - die in Jesus Christus gegründete Kirche - liegt uns immer vor".
Boder unterstrich die Gleichwertigkeit der drei Ämter und plädierte zugleich dafür, allein Pfarrer zu ordinieren und Sozialdiakone und Katecheten zu beauftragen. Die Synode bejahte diese Grundsätze nach langer Diskussion. Ob diese Regelung in der Berner Kirche, die im Schweizer Protestantismus eine Brückenfunktion einnimmt, seinen Zusammenhalt auf die Probe stellt (die Welschen kennen consécration für pasteurs und diacres), wird sich im Herbst 2009 weisen: Die Abgeordneten der SEK-Mitgliedkirchen werden die Fragen diskutieren.
Spannung im SEK
Das Miteinander der reformierten Kirchen im Kirchenbund ist nicht frei von spannungsvollen und prekären Momenten - auch wenn es nicht um Hauptsachen geht. Der SEK-Rat scheiterte mit Anträgen, das Verhältnis der Kirchen zu HEKS und Brot für alle neu zu regeln, und wurde verpflichtet, in einem überarbeiteten Bericht die Gesichtspunkte der Werke einzubeziehen. Zudem setzten die Kirchen durch, dass eine Sparvariante des Finanzplans 2010-13 erarbeitet wird. Am meisten zu reden und zu schreiben gab im Nachhinein die Wahl des Nestlé-Schweiz-Direktors Roland Decorvet in den HEKS-Stiftungsrat, welche die Abgeordneten im Juni diskussionslos vorgenommen hatten.
"Kirche im Werden"
SEK-Ratspräsident Thomas Wipf sagte vor den Abgeordneten der Mitgliedkirchen, angesichts des gesellschaftlichen Wandels hätten auch seit langem bestehende Kirchen "in mancherlei Hinsicht Kirche im Werden zu sein". Er zitierte aus dem Visitationsbericht des St. Galler Kirchenrats unter dem Titel "Kirche unterwegs: nahe bei Gott - nahe bei den Menschen": "Heutige Menschen erwarten attraktive, auf ihre spezifischen Interessen zugeschnittene und für ihr Leben relevante Programme, gestaltet von glaubwürdigen Menschen."
Offen für Migrationskirchen
Im Werden ist die Zusammenarbeit der einheimischen Kirchen mit Migrationskirchen. Die Basler bemühen sich, in Kontakten mit den Ausländergemeinden die Integration der Zugewanderten voranzubringen. Die Stadtzürcher Kirchgemeinden stellen das grosse Kirchgemeindehaus Wipkingen solchen jungen Gemeinden zur Verfügung; im November wurde es mit einem denkwürdigen Fest eingeweiht.
Glauben und hoffen - mitten in der Stadt
Attraktive Anstösse boten namentlich die Kirchgemeinden der Stadt Basel. Sie führen miteinander die vierteilige Kampagne credo 08 durch, in der sie ihre "besten biblischen Geschichten" der Bevölkerung nahebringen, zum Beten einladen und für den (Wieder-)Eintritt in die Kirche werben. Die Gellertkirche bot einen Wüstentrip zu Gott an. Dass die Kirchgemeinden einer Grossstadt koordiniert und kreativ zum Glauben an Christus einladen und sich als solidarische Gemeinschaft vorstellen, ist das Highlight des reformierten Jahres 2008.