Mani Matters Verteidigung des Christentums
Fünfzig Jahre nach seinem Tod ist Mani Matter aktueller denn je. Seine scharfsinnigen Analysen überraschen – und die Wertschätzung der Grundlagen des Christentums. Bernhard Rothen weist in einem neuen Essay darauf hin, dass der Troubador auch die biblische Rede von der Sünde ernst nahm. Für Matter dient die Sündenerkenntnis der Freiheit. – Hier eine leicht gekürzte Fassung des Essay.
Als Mani Matter am 24. November 1972 verunglückte, nahm er viele Projekte mit ins Grab. Unter ihnen waren umfangreiche Vorarbeiten für eine «Verteidigung des Christentums». Seine Bewunderer erfuhren davon in den Sudelheften, die seine Familie 1974 den Interessierten zugänglich machte. Gut zehn der 130 Seiten in diesen Tagebuchnotizen waren diesem Vorhaben gewidmet. Erst 2011 konnte man ermessen, wie ernsthaft Matter sich dieser Aufgabe gewidmet hatte.
Beim Durchsehen des Nachlasses stiess seine Witwe auf das zuvor übersehene Notizbuch, in dem Matter während des Studienjahres in Cambridge 1968 seine Überlegungen zu Kunst, Politik, Philosophie und Religion festgehalten hatte. Unter ihnen fanden sich prägnant formulierte Zweifel am Sinn der juristischen und künstlerischen Arbeit – und eine Feststellung, mit der Matter sich selber überraschte: Er glaube immer mehr, es gehe ihm am Ende um Religion.
Das Cambridge-Notebook enthielt konzise Zusammenfassungen der Denkvoraussetzungen in der neueren protestantischen Theologie. Matter hatte Paul Tillich, Karl Barth, Rudolf Bultmann, die feministische Befreiungstheologin Dorothee Sölle und den theologisierenden Philosophen Ernst Bloch gelesen. Ihren Werken widmete er präzise Zusammenfassungen. Dabei zeigte sich wieder: Matter konnte denken – so schnell und scharf, dass es für seine Umgebung entmutigend war.
In seinem kurzen Leben hat Mani Matter unfassbar vieles angestossen. Doch er hat auch ein Werk geschaffen, das Bestand hat. Matters Lieder sind Klassiker, die unmittelbar Lebenslust versprühen. Warum hat der hoch begabte Liedermacher sich die Aufgabe gestellt, eine «Verteidigung des Christentums» zu schreiben?
Politischer Realismus
In meinem 2013 erschienenen Essay «i de gottvergässne stedt» habe ich mich auf die Antwort fokussiert: aus staatsbürgerlicher Verantwortung. In den Sudelheften finden sich die ersten expliziten Notizen zum Projekt direkt im Anschluss an ein anderes: «Es wäre ein Buch zu schreiben, das ungefähr den Titel tragen könnte: Überlegungen eines jungen Schweizers zur Verbesserung der Gesellschaft.»
Matter war Jurist und Mitbegründer einer neuen Partei. Politische Überlegungen bilden den Schwerpunkt in seinem Denken. Dabei war für ihn eine zentrale Frage: Wie kann eine pluralistische Gesellschaft sicherstellen, dass ein verbindendes Wertesystem und eine gemeinsame Sprache es möglich machen, sich zu verständigen? So dass sich die unterschiedlichen Interessen überhaupt erkennen und in einen einigermassen gerechten Ausgleich bringen lassen?
Matter hält fest, dass uns – im Gegensatz zu den mittelalterlichen Menschen – heute ein verbindliches Gefüge von grundlegenden Überzeugungen fehlt. «Es gibt keine Kirche mehr.» Deshalb könne jeder sich selber absolut setzen. Nüchtern konstatiert er: Kein Politiker, kein Universitätsprofessor und kein Kulturschaffender vermag einen Ersatz für diese fehlende Grundlage zu schaffen. Deshalb stellt er sich die Frage, ob sich nicht die Grundlage, die vormals in Geltung stand (das Christentum) erneuern lasse. Und konstatiert, er selber wäre als Aussenstehender, der nicht von den Zwängen einer intensiven religiösen Erziehung belastet sei, wahrscheinlich recht gut geeignet, einen Beitrag dazu zu leisten.
Ich meine nach wie vor, dass sich Matters Projekt einer Verteidigung des Christentums zu einem guten Teil so erklären lässt. Doch möchte ich hier ein weiteres Motiv zur Diskussion stellen.
Ideologiefreie Kunst
Mehr noch als Politiker war Mani Matter Künstler. «Ich glaube doch einfach: das Singen ist das Beste an mir, so wenig es ist», notiert er in Cambridge, als er sich fragt, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Seine Lieder sind sein Meisterwerk. Sie haben sich als derart schleissfest erwiesen, weil sie Gegensätzliches verdichten. Zum einen sind sie Leuchttürme der Modernität. Sie leben von ihrer Rationalität. Mit kurzen Hinweisen analysieren sie, weshalb der Pilot beim Alpenflug zu fluchen beginnt und die schönen Augen hinter dem Schleier für den armen Sidi nur der Gegenstand seiner Sehnsucht bleiben können. (…)
Die Realitäten des Lebens, die Matter besingt, sind irgendwie zeitlos und doch ganz eingebettet in ihre Bernische Heimat. Sie erscheinen zufällig und offenbaren doch die unerschütterlichen Gesetze des Daseins. Inmitten vom allzu Vertrauten eröffnen sie einen Zugang zu dem, was hoch über allen Erfahrungen unruhig macht. (…)
Kunst und Politik in Einklang
Matter war vor allem entschieden gegen jede ideologische Überhöhung des Politischen. Er erwartete von sich selber die Bereitschaft, eigene Anliegen in Frage zu stellen und für bessere Argumente offen zu sein, und von seinen Gesprächspartnern, dass sie nicht nur mit Positionen, sondern mit sachkundigen Informationen aufwarten konnten.
Je wieder benennt er die Gefahr, dass sich weltanschauliche Anliegen in die politischen Auseinandersetzungen mischen, und dass dies nicht nur die nötige Kompromissbereitschaft verhindert, sondern schrecklichem Unheil den Weg bahnt. Über Ernst Bloch, der die biblische Botschaft vom Reich Gottes umdeutet in das «Prinzip Hoffnung» auf eine innerweltliche Gerechtigkeit, schreibt er: Weil er sich seiner eigenen Fehlbarkeit nicht bewusst ist, wird nichts ihn daran hindern, die Verbrechen Stalins zu begehen.
Freiheit für Kunst und Politik
Matter denkt dezidiert antiideologisch und antiutopisch. Zwar fragt er beharrlich nach den höheren Zielen, denen die Schweiz dienen möchte – doch er selber biegt mit dieser Frage ab in ein nüchternes Urteil über den bescheidenen Dienst, den ein guter Jurist dem Gemeinwesen zu leisten vermag, und in ein Plädoyer für eine Offenheit, die pragmatische Lösungen erlaubt. Am Ende, wie eingangs erwähnt, steht die Feststellung, dass es ihm selber vielleicht gar nicht um die Politik, sondern um Religion gehe. Er vernachlässige seine Arbeit, schreibt er, weil er Hans Arp und Franz von Assisi vereinen möchte, das Schöne und das Gute.
Ich schlage deshalb vor, Matters Projekt einer Verteidigung des Christentums als einen Versuch zu verstehen, der Kunst ihren Freiraum zu bewahren. Wer die Wirklichkeit in den Glanz einer höchsten Liebe stellt, soll das tun dürfen, ohne idealisieren und moralisieren zu müssen. Mit allen seinen Zufälligkeiten und Absurditäten soll das Leben zuerst einmal als der Liebe wert erscheinen – bevor man dies oder jenes zu verbessern versucht. (…)
Anders gesagt: Matter wollte das Christentum verteidigen, damit nicht seine Kunst sich überspannen und die Mitverantwortung für die Erlösung der Menschheit übernehmen müsse (und seine Politik auch nicht). Oder noch einmal anders: Matter gefiel der Gedanke an Jesus, der sich als der Herr erweist gerade dadurch, dass er sich weigert, aus den Menschen Objekte seiner Herrschaft zu machen.
Befreiende Sündenerkenntnis
Ist diese Deutung richtig, dann erklärt sie auch, weshalb Matter aus all den vielen Aspekten der biblischen Botschaft einen scheinbar abseitigen als den zentralen hervorhob: Überzeugender als alles andere sei in der Bibel die durchgehende Rede von der Sünde.
Zwar macht er sich keine Illusionen: «Dem modernen Menschen seine Sündhaftigkeit vorzuhalten, scheint ein aussichtsloses Unterfangen», schreibt er, hält aber sogleich dagegen: «Und doch ist nichts nötiger als das Bewusstsein der ‹Sündhaftigkeit›.» Damit sei natürlich nichts in der Art des «mittelalterlichen Aberglaubens» gemeint, «der in jeder schönen Frau den leibhaftigen Satan erblickte».
Sünde ist etwas anderes als nur Lasterhaftigkeit und Unmoral. Es geht auch nicht nur um das Scheitern vor jeder ernsthaften ethischen Forderung, «geschweige denn vor der Radikalität der Forderungen, wie sie Jesus in der Bergpredigt aufstellt». Sondern es geht, wie Matter rätselhaft scharf formuliert, um «das positiv Vernichtende, das noch von unseren wohlgemutesten Anstrengungen ausgeht».
Der bibelkundige Leser denkt an die Klage des Apostels Paulus, dass er das Gute wolle, aber im Endeffekt das Böse bewirke, das er nicht wolle. Diese Macht der Sünde gelte es zu erkennen, meint Matter, nicht um ihr mit Weltflucht zu entkommen – «wir entgingen gerade so unserer Schuldhaftigkeit am wenigsten» – sondern «damit wir uns von der verkrampften Vorstellung lösen, unser Leben sei durch das gerechtfertigt, was wir ‹erreichen›».
Die Sündenerkenntnis dient der Freiheit. Sie erlöst aus dem überspannten Moralismus und der Heuchelei. So, schreibt Matter, verwandle sich unsere Egozentrik in Demut: einen «dienenden Mut, dem die Überhebung ebenso fremd ist wie der Minderwertigkeitskomplex».
Fünfzig Jahre nach Matters Tod scheint in Kunst, Politik und Kirche eine solche Wendung ebenso unwahrscheinlich – und ebenso dringend nötig wie damals.
Kirchenkritik
Matters intensive Beschäftigung mit dem Kernbestand des christlichen Glaubens ist nichts, das die Kirchen propagandistisch ausschlachten könnten. Im Gegenteil. Im Vorbeigehen, auf einer guten halben Druckseite, formuliert Matter eine Kritik an der Kirche, die weh tut. Er misst ihre Vertreter am eigenen Anspruch – und gewinnt einen desaströsen Eindruck.
Das Christentum, schreibt er, sei zweifellos eine geistige Quelle, aus der schöpferische Impulse zu erwarten seien. Doch «wenn nun jedermann sieht, welch gewaltige Organisation darum herum aufgebaut ist, wie viele Menschen damit beschäftigt sind, wieviel Literatur darüber fabriziert wird und wie dennoch so wenig Schöpferisches zu spüren ist, so wird man allmählich anfangen zu glauben, die Quelle gebe eben nichts her; sie sei ausgeschöpft. Dann wird aus dem Christentum eine leere Konvention. Und die Kirche wird es zugrunde gerichtet haben.»
Der Apparat von Berufstheologen und sozial beflissenen Animatoren verschüttet die geistigen Quellen, die mit der Bibel gegeben wären. «Heute hat man das Gefühl, die Bibel sei Sache der Pfarrer, sie werde schon genügend beackert; und wenn nichts daraus entspriesst, so ist man versucht zu schliessen, sie gebe offenbar nichts mehr her.» Der Kirchenapparat erweckt den Eindruck, die Bibel sei ein unfruchtbares Buch und ihr Gottesdienst ein langweiliges Museumsstück.
Matter hätte es als eine staunenswerte Dummheit erachtet, und hätte vielleicht ein wunderbares Lied geschrieben darüber, dass die Kirchen ihre Krise in den letzten Jahrzehnten durch den Ausbau und die Zentralisierung ihrer Organisation zu überwinden versuchten.
Mani Matters Aktualität
Fünfzig Jahre nach seinem Tod ist Matter aktueller denn je. (…) Er vergegenwärtigt viel von dem, was kostbar ist im eidgenössischen Pragmatismus, lustvoller als es sonst geschieht. Er ist kein Populist und doch Menschen aus allen Schichten nah. Ohne einfache Erklärungen klärt er auf. Er verkauft niemanden für dumm und lässt uns stattdessen lachen über unsere eigene Dummheit. Frei von aller Sentimentalität rührt er an die Herzen und weckt das Vertrauen, dass es sich lohnt, einem Gedanken zu folgen und sich seiner Logik zu beugen – auch wenn die Gedankenmühe am Ende nur zur Erkenntnis führt, wie vieles wir nicht verstehen.
Matter hielt seine Kunst frei von aller Ideologie und Moral, und bearbeitete stattdessen die religiösen Fragen im Medium seiner Notizen, mit den Mitteln der theologischen Rationalität. Dabei trat für ihn ein einfacher Gedanke in den Vordergrund, den der geschäftige Kirchenapparat zudeckt: Das menschlich Verquere und Mühsame ist der Liebe wert, obgleich kein Künstler, kein Kirchenmann und kein Politiker das abgründig Böse aus ihm ausmerzen kann. Denn die Menschen sollen gerechtfertigt werden nicht durch das, was sie selber leisten, sondern durch denjenigen, der den Staub und Dreck der Zeit auf sich nimmt: «Der Herr der Christenheit, der seinen Jüngern die Füsse wäscht und sich umbringen lässt vom Establishment. Man vergleich ihn mit anderen Leitbildern … Man wird finden, dass es sich sehr kläglich ausnimmt.»
Matters Lieder singen von dem, was menschlich sein darf, weil es keinen kläglichen Ersatz für das Christentum bieten muss. Fünfzig Jahre nach seinem Tod können wir neu von ihm lernen, das alltäglich Kleine und das weltgeschichtlich Grosse ins Gespräch zu bringen mit dem Rätsel, dass der Herr der Welt nicht herrschen will wie die Herren der Welt, sondern «sich lieber kreuzigen liess».
Miniaturen von Bernhard Rothen zu Mani Matters Werk und Kirchenkritik und der ganze Essay finden sich auf der Website der Stiftung Bruder Klaus.
Bild Mani Matter: ETH-Bibliothek Bildarchiv / Hans Krebs