Messias Jesus
Das Christentum steht und fällt mit der Person des Jesus von Nazareth. Aus der Menge der Bücher über ihn ragt das neue Werk von Rainer Riesner heraus, die Summe von fast 50 Jahren Studium und Forschung. Gut verständlich geschrieben, schildert es Jesu Zeit und die Orte, an denen er lebte und wirkte. Es erläutert seine Worte und erhellt seinen Weg ans Kreuz.
Rainer Riesner geht davon aus, dass der Mann aus Nazareth «nur innerhalb des palästinischen Frühjudentums angemessen verstanden werden kann». Auf dem Hintergrund der aus Prophetien abgeleiteten Erwartungen im Volk Israel könne Jesus verstanden werden: «wie er diese Erwartungen in seiner Verkündigung und in seinem Handeln aufgenommen hat» und auf ihrem Boden seinen Anspruch erhob (S. XVI).
Messias-Erwartungen
So beginnt Riesner mit den Hoffnungen auf einen Messias, die Juden aufgrund der dem König David gegebenen Zusagen und der Worte alttestamentlicher Propheten hegten. Diese Hoffnungen nahmen nach der Eroberung Jerusalems 587 in der Zerstreuung neue Formen an.
In den Generationen vor der römischen Fremdherrschaft bildeten sich die Strömungen des Judentums, mit denen Jesus sich auseinanderzusetzen hatte: die Sadduzäer (kein Messias), die Essener und die Pharisäer (zwei bzw. ein Messias), die Zeloten (messianischer Aufstand), Anhänger der Herodianer-Dynastie und Fromme (Chassidim). Riesner führt auch Belege dafür an, dass sich Davids-Nachfahren in Galiläa niederliessen. Unter diesen Gruppen war umstritten, ob sich der Messias kriegerisch durchsetzen oder als Friedenskönig auftreten würde.
Seit seinem Theologiestudium ist Rainer Riesner den Lebensumständen des Mannes aus Nazareth nachgegangen. Die Summe seiner Forschungen enthält reiche Literaturangaben, auch von Autoren englischer und französischer Sprache. Das gelehrte Werk ist auch für Nicht-Theologen leicht lesbar. Die wichtigen Wörter werden originalsprachlich und in Übersetzung geboten; das Stellenregister hilft bei der Suche im 480seitigen Haupttext. In 25 Exkursen mit Karten ist aufgrund umfassender archäologischer und topografischer Kenntnisse mit Einbezug altkirchlicher, jüdischer und anderer Quellen das Wissen über die Orte zusammengetragen, an denen Jesus lebte und wirkte.
Jesus in seiner Zeit
So wird Jesus von Nazareth historisch fassbar. Das Plädoyer für die Glaubwürdigkeit der vier Evangelien überzeugt umso mehr, als sich Riesner mit teils extremen Deutungen und abwegigen Behauptungen sachlich auseinandersetzt und darlegt, wie die Botschaft im Jüngerkreis aufgenommen und bewahrt und von ihm überliefert wurde.
Im Kapitel über die Geburtsgeschichten macht der Autor glaubhaft, dass Josef aus Bethlehem stammte und dass er Jesus neben dem Bauhandwerk auch das dort gesprochene Hebräisch, die Sprache des Alten Testaments, beibrachte. Jesus sprach das Aramäisch seiner Mutter und hatte wohl Griechischkenntnisse (Nähe Nazareths zur einstigen Landeshauptstadt Sepphoris), war also «aller Wahrscheinlichkeit nach dreisprachig» (S. 74).
Glaubwürdige Berichte
Viel Wunderbares wird in den Evangelien berichtet. Rainer Riesner plädiert als Wissenschaftler für ihre Glaubwürdigkeit: «Wenn es um die Würdigung von Berichten über aussergewöhnliche Erfahrungen geht, dann ist der Historiker zu besonderer Prüfung verpflichtet. Er sollte sich aber bei der Wahrnehmung der Tatbestände auch um kritische Offenheit bemühen und nicht versuchen, die Wirklichkeit nach seiner bisherigen eigenen Erfahrung zu zensieren» (S. 95f).
Jesus verstand sich von den Prophezeiungen des Alten Testaments her als «Gottesknecht» und «Menschensohn» (Jesaja 53, Daniel 7). Dieses Selbstbewusstsein nahm, wie Riesner darlegt, in seinen Berufungserfahrungen Form an: «Jesus lehnte es ab, die göttliche Macht an sich zu reissen, und erwies sich so als der neue Adam, der neue Mensch» (S. 101).
Nach der eingehenden Beschreibung des ersten Wirkungsgebiets Galiläa – es war im 1. Jahrhundert jüdisch geprägt – beleuchtet Riesner Jesu Hauptbotschaft, die Botschaft von der «Gottesherrschaft», und ihre Implikationen. Das nächste, theologisch ebenso gewichtige Kapitel «Gottesfamilie und Gotteswille» beschreibt die Spiritualität und das Ethos der neuen Gemeinschaft, die Jesus zu stiften im Begriff war.
Botschaft und Gefolgschaft
Dann skizziert Riesner, wie Nachfolge von Jesus entstand, was Jünger-Sein und Lernen beim messianischen Lehrer einschloss. «Kernpunkte seiner Lehre hat er in kurzen, bewusst poetisch geformten Aussprüchen zusammengefasst, die besonders gut im Gedächtnis zu behalten waren» (S. 225). Dazu erzählte der Wanderprediger bildstarke Gleichnisse, welche Aspekte der Gottesherrschaft für den, der danach verlangte, aufschlüsselten.
Die Mission in Galiläa stiess auf Widerstand, namentlich bei Pharisäern und beim Landesfürsten Herodes Antipas. «Nach einer Periode kontinuierlicher Wirksamkeit unternahm Jesus einen gross angelegten Versuch, die Juden von ganz Galiläa zur Umkehr zu Gott zu bewegen» (S. 242). Laut Rainer Riesner ein Wendepunkt. Denn in der Folge kritisierte der Wanderprediger mit scharfen (Wehe-)Worten den Unwillen der Galiläer, ihm Gehör zu schenken. Er zog sich vermehrt in Nachbargebiete zurück, konzentrierte sich auf die Unterweisung seiner Jünger und enthüllte ihnen seine Messianität.
Der letzte Gang nach Jerusalem
Der Autor legt zahlreiche Worte von Jesus, welche sich in den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) finden, in diesem Kontext bezugsreich aus; mit dem Stellenindex erweist sich das Werk als nützliche Ergänzung zu Kommentaren. Auf die 160 Seiten zum Wirken in Galiläa folgen 55 zu den Aufenthalten in Jerusalem, mit Fokus auf Einzug und Tempelreinigung, Gerichtsworten und Endzeitreden und einem Exkurs zum Ölberg, Bethphage und Bethanien.
Gleich viel Raum nimmt das Passions-Kapitel ein. Der Verfasser behandelt die zwei Prozesse (Synhedrium, Pilatus) gesondert und legt die Evangelienberichte miteinander aus, ohne dornige Probleme zu verschweigen. Die Datierung des letzten Mahls ist bekanntlich umstritten; die folgenden Ereignisse müssten sich nach der üblichen Chronologie äusserst gedrängt zugetragen haben. Lagen zweieinhalb Tage zwischen dem «messianischen Passah-Abschiedsmahl» und der Kreuzigung?
Auch zur Stätte der Hinrichtung weiss Riesner mehr: «Durch archäologische Erkenntnisse weiss man, dass es sich bei Golgatha um einen ca. 12 m hohen, schädelförmigen Felsklotz von minderwertiger Gesteinsqualität handelt, der deshalb in einem riesigen Steinbruch im Winkel zwischen Erster und Zweiter Mauer stehen geblieben war.»
Die Realität der Auferstehung
Am Ostermorgen war das Grab leer, in den die Anhänger den Leichnam gelegt hatten. Die auch von den jüdischen Feinden Jesu nicht bestrittene Tatsache «steht gegen alle alten und modernen Versuche, die Auferstehung von Jesus vergeistigt zu verstehen» (S. 396).
Rainer Riesner zitiert Gelehrte, um die grundlegende Bedeutung der Auferstehung Jesu für den christlichen Glauben herauszustellen. Laut Benedikt XVI. lebt die apostolische Predigt «in ihrer Kühnheit und Neuheit von der Wucht eines Geschehens, das niemand erdacht hatte und das alle Vorstellungen sprengte» (S. 400).
Überlieferung in mehreren Strömen
Intensiv hat sich Rainer Riesner mit den Anfängen der christlichen Überlieferung beschäftigt. Ihr und der kritischen Erforschung und Thesenbildung seit der Aufklärung sind die beiden Schlusskapitel des Bands gewidmet. Er schreibt, die elf Jünger hätten eine lebende Traditionsbrücke zwischen der vor- und der nachösterlichen Zeit» gebildet (S. 412). Schon in der Urgemeinde in Jerusalem übertrugen Anhänger des Messias das Evangelium ins Griechische. Vierfach schriftlich fixiert, wurde es durch die Zeugen ins Römerreich und über seine Grenzen hinaus getragen.
Für die Entstehung der drei synoptischen Evangelien sieht der Autor ein Neben- und Ineinander von fünf Überlieferungsströmen: die gemeinsame Tradition, «die auf Petrus und einen Ur-Markus zurückgeht»; «eine Matthäus und Lukas vorliegende, vor allem auch in Antiochien weitergegebene Überlieferung» mit Erzählungen und einer Passionsgeschichte; «die in Jerusalem und Judäa in Kreisen um die Grossfamilie von Jesus geprägte und weitergegebene lukanische Sonderüberlieferung»; Material aus Galiläa und Syrien, das in Markus und Matthäus aufgenommen wurde; fünftens eine Sonderüberlieferung in Matthäus, «hinter der vielleicht besonders der gleichnamige Jünger aus dem Zwölferkreis stand» (S. 442).
Riesner schliesst mit der Feststellung, dass es in den vier Evangelien um geschehene Geschichte geht. «Es ist historisch möglich, zu wissen, wer Jesus war und was er wollte.»
Rainer Riesner: Messias Jesus, Seine Geschichte, seine Botschaft und ihre Überlieferung
Brunnen Verlag, Giessen, 2019, XVII und 537 Seiten, ISBN 978-3-7655-9410-6