Religionen für die Schule des Volks

Die Kantone der Deutschschweiz harmonisieren ihre Volksschulen. Die Bildungsdirektoren haben nach der Konsultation zum Lehrplan 21 eine „"gründliche Überarbeitung“" des Entwurfs angeordnet, behalten aber die Ziele und die Struktur bei. Weltanschauliche und religiöse Fragen gehören zu den umstrittensten.

Der Stellenwert christlicher Traditionen und Werte in den Volksschulen der säkular gestylten Schweiz wurde in der Konsultation kontrovers beurteilt. Der traditionellen Prägung der Gesellschaft will die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) nun aber doch mit der Nennung von „"ausgewählten christlichen Festen und jüdisch-christlichen Überlieferungen"“ Rechnung tragen. Damit entspricht sie Forderungen seitens der Kirchen, der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA (siehe unten) und von vielen Parteien, namentlich der Evangelischen Volkspartei EVP.

Weltanschauliche Gegensätze
Mit der Konsultation von Juni-Dezember 2013 verfolgte die D-EDK die Absicht, „"den gesellschaftlichen Konsens darüber, was Schülerinnen und Schüler in der Volksschule lernen sollen, zu stärken“". Dass man dem Ziel näherkam, darf bezweifelt werden. Die Debatten um den Sinn der Ausrichtung auf Kompetenzen, ihre Detailliertheit und das Anforderungsniveau sowie Fragen zur Ausgestaltung neuer Module (ICT, nachhaltige Entwicklung) halten an. Daneben stechen im Auswertungsbericht die harten Meinungsunterschiede zu ideellen, religiösen und weltanschaulichen Fragen ins Auge. Während die erstgenannten Themen in den Medien breiter diskutiert wurden, kam die Debatte zu den letzteren erst am stark besuchten Berner AGCK-Podium „"Wie viel Christentum verträgt die Schule"?“am 21. Januar 2014 in Gang.

Wo wird gekürzt?
Zwar haben die Bildungsdirektoren nun befunden, dass sich "„keine grundlegenden Änderungen am Konzept des Lehrplans 21 aufdrängen"“. Mit einer gründlichen Überarbeitung und Kürzung um ein Fünftel tragen sie der Kritik pragmatisch Rechnung. Ihre Beschlüsse hätten sie einstimmig gefasst, betonte der D-EDK-Präsident Christian Amsler am 11. April 2014 vor den Medien. Tatsächlich hatten sie auf dem schmalen Grat keine andere Wahl, als Ballast abzuwerfen. Der Schule wird es gut tun. Sie wird ihren Zweck auch erfüllen, wenn Mittelstufen-Kinder nicht "„zu philosophischen Fragen verschiedene Perspektiven einnehmen"“ (eine Kompetenz) können.

Wertfrei geht nicht
Am Lehrplanentwurf wurde kritisiert, dass namentlich in den Bereichen Natur-Mensch-Gesellschaft (NMG) und Ethik-Religionen-Gemeinschaft (ERG) Haltungen und Einstellungen in Lernziele eingeflochten waren, so dass die Lehrpersonen sie hätten bewerten müssen. Nun betonen die Erziehungsdirektoren, dass „"die Vermittlung von spezifischen Haltungen und Einstellungen nicht Gegenstand des Lehrplans 21 ist"“.

Die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli sagte vor den Medien, man wolle diesen Bereich „"klären und schärfen"“. Eine wertfreie Schule gebe es nicht. Über Haltungen und Einstellungen müsse im Schulzimmer gesprochen werden. Die Schülerinnen und Schüler sollten einander zuhören, sich auseinandersetzen und so befähigt werden, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Bei der Überarbeitung würden "„Formulierungen, welche als ideologisch verstanden werden"“, entfernt, sagte Christian Amsler zu.

"Ausgewählte christliche Feste"“
Der Entwurf zum Lehrplan setzt von der ersten Klasse an auf obligatorischen religionskundlichen, die Weltreligionen vergleichenden Unterricht. Christliche Inhalte sind nicht aufgeführt. Nach breiter Kritik daran –- nicht nur von Kirchen, sondern auch von mehreren Parteien -– räumt die D-EDK nun ein, christliche Traditionen und Werte hätten die Schweizer Kultur, Geschichte und Gesellschaft geprägt. Daher sollen im endgültigen Lehrplan "„ausgewählte christliche Feste und jüdisch-christliche Überlieferungen"“ genannt werden. Gemäss der D-EDK sollen die Schüler "„die religiösen Traditionen kennen lernen, die für das Verständnis der Gesellschaft und der heutigen Welt wichtig sind. Dazu gehören Elemente aus der christlichen Überlieferung und aus anderen Religionen, die in der Lebenswelt der Kinder sichtbar und erfahrbar sind".“

Harmonisierung…...
Nicht weiter diskussionswürdig scheint ein weitreichender Schritt, der mit dem Harmonisierungsprojekt verbunden ist: Der Lehrplan 21 gibt Religion als Primarschulfach -– wie es noch manche Kantone haben! –- den Abschied. Die D-EDK folgt dem Berner Modell. Im Kanton mit dem höchsten evangelischen Bevölkerungsanteil werden religiöse Themen im Fach Natur-Mensch-Mitwelt (NMM) behandelt, wobei der Lehrplan von 1995 christliche Inhalte benennt und Lehrpersonen grosse Freiheit haben. An NMM hat man sich im Bernbiet gewöhnt. Ob so dem wachsenden christlichen Analphabetismus gewehrt und in der Schule die religiöse Bildung vermittelt wird, welche die Zivilgesellschaft braucht, bleibt allerdings offen.

Zürich wollte Religion in der Primarschule ebenfalls abschaffen, doch die Politik wurde durch eine Volksinitiative der Kirchen zurückgepfiffen. Das Resultat ist das religionskundliche Fach "„Religion und Kultur"“, das von Beginn weg Religiöses in der Vielfalt der Weltreligionen thematisiert, um der Multikulturalität zu entsprechen und alle Kinder einzuschliessen.

...auf tiefstem Niveau
Der Entwurf zum Lehrplan 21, im Juni 2013 vorgelegt, kombinierte die fragwürdigen Aspekte von Bern (kein eigenes Fach, Behandlung religiöser Themen im Belieben der Lehrperson) und Zürich (Relativierung jeder Religion durch Vergleich, Oberflächlichkeit, Kopflastigkeit). Er ging noch einen Schritt weiter, indem er keine christlichen Inhalte benannte, die im Schulzimmer zu vermitteln wären. So kann der Entwurf füglich als Beitrag zur Entchristlichung der Schweiz verstanden werden. Dass die Freidenkerin Reta Caspar am Berner Forum im Januar den Entwurf positiv bewertete, während sie das Zürcher Fach kritisierte, spricht Bände.

Die D-EDK hat den eklatanten, eigentlich unbegreiflichen Mangel des Entwurfs anerkannt und eine Korrektur befohlen. Ob der oben zitierte Beschluss genügt, ob er zu einer Vermittlung christlicher Inhalte führt, welche der grundlegenden Bedeutung des Christentums fürs Schweizer Staatswesen entspricht, wird sich zeigen.

Mit religiöser Vielfalt umgehen
Endlich werden die Kantone entscheiden, wie sie den Lehrplan übernehmen. Doch der Sog des religionskundlichen Ansatzes ist unübersehbar, da er verheisst, alle Kinder miteinander ins Gespräch über Religiöses zu bringen, ohne einem zu nahe zu treten. Auf diese Weise, mit der Vermittlung prüfbaren Grundwissens über Religionen, will man der Glaubensfreiheit (Bundesverfassung Art. 15,4) wie dem Integrationsziel der Schule Genüge tun. Nicht mehr im Blick sind da die Chancen des Basler Modells (im Auftrag des Staats bieten die Kirchen allen Kindern einen christlich-ökumenisch-offenen Religionsunterricht an) und die bewährte Partnerschaft Staat-Kirchen, zu der etwa St. Gallen steht.

Wird mit der Harmonisierung gute religiöse Bildung gefördert, wie sie Martin Schmidt, bisher PH-Dozent und neu St. Galler Kirchenratspräsident, in Bern anmahnte? Die Fakten sind nüchtern wahrzunehmen: Die Volksschule in der Deutschschweiz wird mit dem Lehrplan 21 derart harmonisiert, dass sie für religiöse Themen keine anderen Zugänge als für soziale, Werte- und Umweltfragen mehr vorsieht, wohl auch keine gesonderte Didaktik und entsprechende Lehrerausbildung. (In diesem Zusammenhang haben die Religionswissenschaftler ihren Anspruch, die theologischen Religionspädagogen abzulösen, unüberhörbar angemeldet.) Die Kinder sollen laut der NMG-Einleitung alle diese Fragen unter vier Aspekten angehen: „"Die Welt wahrnehmen -– sich die Welt erschliessen -– sich in der Welt orientieren -– in der Welt handeln".“

Wackliges Konzept für die Oberstufe
Erst in der Oberstufe soll es den gesonderten Fachbereich Ethik-Religionen-Gemeinschaft ERG geben. Im Entwurf ist –- ohne dass in der Primarschule die Grundlagen gelegt würden –- sehr viel vorausgesetzt und Hohes gefordert. Ein Beispiel: Schüler "„können religiöse und kulturelle Minderheiten mit ihren Anliegen nicht diskriminierend darstellen und verschiedene Auffassungen transparent wiedergeben“". Sie können dazu auch "„vereinnahmende Tendenzen…... in religiösen und moralischen Fragen erkennen und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten"“ (ERG 5.4.b,c).

In der Konsultation äusserten die politischen Parteien ausnahmslos Vorbehalte oder Ablehnung zu den ERG-Kompetenzen; von den religiösen Organisationen stimmte ihnen nur der Schweizerische Rat der Religionen zu. (Pikantes Detail: Als einzige kirchliche Institution war er von der D-EDK zur Konsultation eingeladen worden!) Die Bischofskonferenz lehnte die Kompetenzen rundweg ab. Der Lehrerverband LCH schrieb, im Verhältnis zu ICT (Kommunikationstechnologien) sei Religion zu stark gewichtet. Diese sei Teil der Geschichte. ERG könne daher gestrichen werden.

Die Freidenker wünschten, dass ganz auf die Nennung von bestimmten Religionen verzichtet und "„Humanismus, freies Denken, Religionskritik und Aufklärung"“ genannt würden. Auch der Kanton Zürich regte eine stärkere Berücksichtigung von säkularen "„Weltsichten"“ an. Wie andere Kantone und mehrere Parteien forderte dagegen die Schweizerische Evangelische Allianz in ERG die vorrangige Berücksichtigung christlicher Werte. Diese hätten das Schweizer Wertegefüge geprägt. Zusammen mit biblischen Inhalten müssten sie vermittelt werden, um die Heterogenität der Gesellschaft aufzufangen und den sozialen Zusammenhalt zu bewahren.

Sex und Gender
Zur Sexualkunde gingen bei der D-EDK weniger Stellungnahmen ein als zu weltanschaulichen Fragen (wohl auch deswegen, weil das Thema 2011 bereits entschärft wurde). Immerhin hat die scharfe Kritik dazu geführt, dass die Erziehungsdirektoren einige Kanten abschleifen lassen. So wird der Reizbegriff '‚Gender'‘ gestrichen. Geschlechterrollen sollen jedoch in der Schule Thema sein. Die Auswertung zeigt, dass linke und alternative Kreise in der Konsultation die konservativen Stimmen um ein Vielfaches toppten. Bemerkenswert: Auch die Kommission Bildung und Migration der EDK forderte, offenbar im Einklang mit den Freidenkern, dass Fragen der sexuellen Orientierung in der Oberstufe behandelt werden. Die Schule müsse „"über (sexuelle) Heterogenität informieren und allfälligen Diskriminierungen vorbeugen“".

Der Entwurf verlangt von Primarschülern etwa, dass sie "„vielfältige, auch unkonventionelle Geschlechterrollen...… beschreiben“" und „"Geschlechterstereotypen (Merkmale, Rollen und Verhalten) beschreiben und hinterfragen sowie Vorurteile und Klischees in Alltag und Medien erkennen können"“ (NMG 1.6). Von Oberstufenschülern wird erwartet, dass sie „"sexuelle Orientierungen (Hetero- und Homosexualität) nicht diskriminierend benennen sowie Partnerschaft und Sexualität mit Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung verbinden können"“ (ERG 1.3.c).

Es wird sich zeigen, ob die Fachleute den Lehrplan in der Überarbeitung sinnvoll verschlanken sowie den lebensbejahenden Inhalten und gemeinschaftsfördernden Werten der jüdisch-christlichen Tradition Raum geben. Die Kantone haben es mit der Bildungshoheit in der Hand, der religiösen Bildung in der Primarschule angemessen Raum zu geben -– weiterhin mit einem eigenen Fach.

Auswertungsbericht der Konsultation zum Lehrplan 21

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Die SEA zum Lehrplan 21

Die Schweizerische Evangelische Allianz SEA betonte in der Vernehmlassung zum Lehrplan die Bedeutung christlicher Werte und Einstellungen für die multikulturelle Gesellschaft. Auszüge:

Religiöse und Sinnfragen gehen näher, sie berühren die Identität der Schülerinnen und Schüler tiefer als andere Themen und können nicht so sachlich und distanziert behandelt werden wie jene. Daher ist der religionskundliche Ansatz, der allein auf Kenntnisse und Kompetenzen zielt, unzureichend. Lernprozesse dürfen nicht allein kognitiv verlaufen, sondern sollen emotional vertieft und gestärkt werden.

Wir sind überzeugt, dass die gemeinschaftsfördernden Gehalte und Werte des Christentums für die Förderung der Beziehungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler und ihr soziales Lernen wesentlich sind.

Die kulturelle Identität, die gemäss HarmoS-Konkordat zu entwickeln ist, hat einen religiösen Kern. Nur wenn die Schule dies berücksichtigt, befähigt sie die Heranwachsenden zur angstfreien Teilhabe an der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft und ihrer Gestaltung.

Wir begrüssen, dass die Schule mit den Eltern zusammenarbeitet und die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag unterstützt. Mit dem elterlichen Erziehungsauftrag ist der Schule zugleich eine Grenze gezogen, die namentlich bei der religiösen Bildung beachtet werden muss.