Reise in die eigene Vergangenheit

Wie lastet die Schuld von Vorfahren auf einer Familie?
Am 29. Januar fand die Schweizer Premiere von Lukas Zünds Film
«Die dritte und vierte Generation» statt. Im dreimal vollen
Chesselhuus in Pfäffikon ZH liess sich ein interessiertes
Publikum auf eine besondere Reise mitnehmen.
– Eine Rezension von Bruno Waldvogel-Frei.

Es gibt ihn noch, den stillen und intensiven Dokumentarfilm, der Zeit hat und sich zusammen mit dem Zuschauer behutsam seinem Gegenstand nähert. Der Gegenstand dieser Annäherung ist eine faszinierende Person: Silvia Hess-Pauli, langjährige Diakonisse in Riehen und Enkelin von Johannes Pauli, seines Zeichens Lagerleiter des Nazi-KZ in Bisingen.

Scham und Schweigen
Der etwas sperrige Titel erklärt sich gleich zu Beginn des Films: «Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.» So ist es in Exodus 20,5 im Alten Testament zu lesen.

Eine Diakonisse die erkennen muss, dass ihr Grossvater ein mörderisches System als Täter mitgetragen und eine Familie hinterlassen hat, die – wie so viele ihrer Generation – von einem schamhaften Schweigen geprägt ist. Eindrücklich die Schilderung einer der Söhne, dem die Pein dieses Erbes auch im hohen Alter immer noch abzuspüren ist.

Fluch und Segen
Wie ist es denn nun mit diesem Segen und Fluch? Wie macht er sich bemerkbar? Was bedeutet Vergebung, Abgrenzung und Bewältigung? Und welche Aufgaben obliegen der dritten und vierten Generation? Wo fängt es an, und wo hört es auf? Hinsehen oder wegsehen? Diesen und anderen Fragen geht der Film Schritt für Schritt nach. Bis nach Israel, wo Schwester Silvia Paulis Brief in einer kleinen Wohnung in Tel Aviv landet. Der Filmemacher Lukas Zünd, auch reformierter Pfarrer, durchleuchtet diesen emotionalen Spagat bis an die Grenze des Unsagbaren.

Die Kamera von  Arjun Talwar verfolgt den Weg der Protagonistin. Nahe, aber immer mit wohltuender Zurückhaltung. Emotionale Effekthascherei, wie man es aus gängigen Produktionen kennt, wäre bei diesem Thema einfach zu erreichen. Aber genau dies vermeidet der Film bewusst. Dabei gelingen ihm fast ikonische Momente. Eine tanzende Diakonisse in der Tracht auf einem Betonklotz im grünen friedlichen Wald. Der Wald, von dem sich herausstellt, dass er vor Jahrzehnten ein Nazi-KZ gewesen ist, in dem ihr Grossvater durchaus aus Überzeugung seinen Dienst versehen hat.

Sr. Silvia Pauli im KZ Bisingen

Schmerz und Tanz
Silvia Hess-Pauli tanzt. Schon ihr ganzes Leben lang. Hinter den eleganten Bewegungen in rauschender Tracht lauert eine Traurigkeit. Auch sie ist ein Opfer, wie sich im Verlauf der Geschichte zeigt. Wo im Film Worte allein nicht mehr möglich sind, verschmilzt der Schmerz mit der Bewegung.

In einem besonders intimen Moment unterstützt sie die Tänzerin und Choreographin Astrid Künzler. Bis es dann Urgewalt aus der Diakonisse herausbricht: «Ich konnte nichts dagegen tun!» Drei Jahre lang begleitet das Team ihre Reise. Sie beginnt mit monochron-karg und endet in leuchtenden Farben mit einer Frau, die so ganz anders einen neuen Weg begeht.

«Die dritte und vierte Generation» geht sparsam mit den Mitteln des Mediums um. Ruhige und persönlich gehaltene Kommentare des Filmemachers Zünd im Off und dazwischen improvisierte Klänge aus der E-Gitarre von Dan Büschlen, die nie banal wirken. Zünd taucht schliesslich auch in Persona neben seiner Protagonistin auf und wird dabei als «Mitreisender» sichtbar. Nach 58 Minuten wird der Zuschauer nachdenklich entlassen.

Ein stiller, ruhiger und doch sehr emotionaler Film, der wichtige Fragen stellt. Er verdient ein breites Publikum und eine grosse Leinwand.

An der Première im Chesselhuus in Pfäffikon wurde der Film dreimal gezeigt, vor insgesamt 340 Besuchern. Sie verdankten das Werk mit Applaus und verfolgten gespannt den anschliessenden Film-Talk.

Der Film kann für private Zwecke gemietet oder gekauft werden auf
Vimeo on Demand. Siehe die Website des Films

Für die Rechte öffentlicher Vorführungen bitte Lukas Zünd kontaktieren.
Er stellt seinen Film gern in Ihrer Kirchgemeinde vor.

Lukas Zünd: «Die dritte und vierte Generation». Kamera: Arjun Talwar.
Ton: Louis S. Golay. Musik : Dan Büschlen. Postproduktion Ton : Irena Suska.
Color Grading : Jarek Sterczewski. Artwork: Joa Schmid.
Schweizerdeutsch, Deutsch. 58 Min.