Reformierter Gottesdienst – Herkunft und Zukunft
Fünf Besucher singen kräftig mit dem betagten Prädikanten, der mangels Organist die Lieder selbst anstimmt und in ihre Mitte eine mit Bibelworten gespickte, formal und inhaltlich eigenwillige Predigt stellt: Der Gottesdienst in der Kapelle des Walliser Ferienorts ist sehr reformiert! – Ein neues Buch zeigt, was reformierten Gottesdienst ausmacht, wie er sich entwickelt hat, was ihn auszeichnet, was zu seiner Krise beiträgt und was der Pflege bedarf.
Im Juni ist «Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung und Perspektiven» im TVZ erschienen, ein Kompendium mit einem Schatz von Material, das Ursprünge, Entwicklungen und Prägungen erhellt und Perspektiven diskutiert. Ob es dazu beiträgt, dass reformierter Gottesdienst wieder mehr Menschen ergreift, auf Gott ausrichtet und zurüstet? «An keinem anderen Ort des kirchlichen Engagements ist die Diskrepanz zwischen theologischer Bedeutung, institutionellem Aufwand und geringem Ertrag so frappant» (Christian Walti).
Die acht Teile des 550seitigen Paperbacks behandeln den reformierten Gottesdienst unter den Aspekten von Geschichte, Erfahrung, Theologie, «Grundformen und Wegschritten», Ästhetik und Performanz, Funktionen und Dimensionen, exemplarischen Konkretionen und «Brennpunkten der Praxis». Unter den letzten Titeln stehen Beiträge zu Zielgruppen- und Milieuorientierung, Angeboten für Distanzierte, Partizipation, «Gastfreundschaft und Prophetie», Charismatik und «Segnen und Salben».
Grundlagen
Zur Lektüre empfehlen sich vorweg die grundlegenden Beiträge der ersten Buchhälfte, die historisch (CH, F, D, NL) einführen und Predigt, Sakramente, Gebet und Kasualien systematisch darlegen. «Die Verkündigung des Evangeliums ist die Mitte des Gottesdienstes, weil durch Wort und Sakrament Gott seine Kirche begründet, erhält und erneuert», schreibt Matthias Zeindler.
In seiner Ekklesiologie des Gottesdienstes ist Gott das primäre Subjekt, die christliche Gemeinde (nicht der Einzelne) das sekundäre. Sie feiert die «Befreiung, die Christus durch seinen Heiligen Geist gewährt», auf inklusive Weise, mit Bezug zur Welt. Christiane Tietz legt präzise und gut verständlich dar, welcher Schatz der Kirche mit Taufe und Abendmahl nach reformiertem Verständnis geschenkt ist.
Andacht und Anmutung
Wenn im Grunde klar ist, was reformierten Gottesdienst ausmacht, wie reformiert soll er sein? Laut Ralph Kunz ist die Zeit des in trotziger Selbstbehauptung verteidigten konfessionellen Profils vorbei. Er bezieht die «Andacht» des Betens und die «Anmutung» der Predigt aufeinander, um Festcharakter und Alltagsbezug des Gottesdienstes zu erläutern. Dem Umgang mit ihm ist hierzulande heute noch abzuspüren, dass er schon bei Zwingli «zum Disziplinierungsinstrumentarium des christlichen Staates» wurde – was der Moderne zuwider ist. Doch der Gottesdienst soll den Weg weisen. «Was nützt eine Predigt, die der Gemeinde nicht sagt, was sie tun soll?»
Alle an Christus Glaubenden sind Priester
Das Priestertum aller an Christus Glaubenden – eines der Hauptpostulate der Reformation – ist im reformierten Gottesdienst zum Ausdruck zu bringen. Laut David Plüss besteht durch die Dominanz des Pfarrers das Problem, dass der Gottesdienst diesen Grundsatz «verdunkelt oder ihm sogar widerspricht» – und «als Schulstunde und One-Man-Show» erlebt wird. Neueren Alternativen blieb in der Breite (bisher) der Erfolg versagt; der Kanzel-Monolog bleibt daher für Plüss der Normalfall. Der Prediger und die Predigerin soll sich einer dem allgemeinen Priestertum entsprechenden Haltung befleissigen und «rezeptionsoffen» verkündigen.
Halleluja! und Relevanz
Neben diesem Dilemma sind in den Beiträgen auch andere Aspekte der Krise des reformierten Gottesdienstes angesprochen. Andreas Marti schliesst seinen historisch grundierten, bezugsreichen Text zur Musik mit Empfehlungen zur Liedauswahl; das Spannungsfeld der Populärmusik wird knapp erwähnt.
Kirsten Jäger fragt, «wie eine reformierte Ästhetik und Sinnlichkeit aussehen könnte, die andere Stile nicht einfach kopiert oder imitiert, sondern aus den eigenen Stärken schöpft». Öffentlich bedeutsam wirkt der Gottesdienst «angesichts des medialen und durchökonomisierten Aufmerksamkeitserregungsmarktes» nicht mehr ohne weiteres, meint Thomas Schlag. Er rät, «wider alle Hoffnung auf Hoffnung hin zu glauben, entsprechend zu verkündigen und zu handeln».
Botschaft glaubwürdig ausdrücken
Dörte Gebhard führt aus, wie Gott und Menschen einander im Gottesdienst «gegenwärtig und gegenwährend» werden (nach M. Buber). Alex Kurz schildert am Beispiel seiner Kirchgemeinde, wie eine aus missionalen Erwägungen umgestaltete Taufpraxis in neuen liturgischen Formen und Formulierungen fruchtet. Damit die Kontextualisierung des evangelischen Zeugnisses gelingt, ist zuerst der «eigene Glaube an das Evangelium» und dann die Fähigkeit gefordert, die Botschaft «nachvollziehbar und glaubwürdig auszudrücken». Er bemerkt: «Vereinfachtes wirkt oft langweilig, Neues veraltet rasch. Reformierte Kirche wird dort spannend, wo sie ihre Tradition spannend zu entfalten vermag.»
Wie viel Schwelle darf es, soll es sein? Für Lisbeth Zogg Hohn ist auch der klassische Gottesdienst am Sonntagmorgen auf eine Zielgruppe ausgerichtet, da er nicht alle anspricht. Aus der Frage «Wie ticken die anvisierten Menschen?» ergeben sich fruchtbare Überlegungen, doch der Anspruch des Evangeliums an alle gerät aus dem Blick. Zogg Hohn plädiert für «die Vielfalt gleichwertiger Feierformate» – eine Überforderung auch für die meisten Pfarrteams.
Charismatik als Spiegel
In einem anschaulichen, dichten und träfen Beitrag macht Heinz M. Fäh deutlich, warum und wie pfingstliche und charismatische Gottesdienste heute Menschen anziehen. Der Flug über die Schweizer Charismatik zeigt «das inklusive und partizipative Moment“, mit dem solche Gottesdienste punkten. Fäh landet beim Wunsch, dass sich die semper reformanda-Kirche dem überraschenden Wirken des Geistes öffne. «Der Geist weht, wo er will»: Zum zitierten Johannes-Wort (3,8) wäre 1. Thessalonicher 5,19 zu stellen: «Den Geist löscht nicht aus!»
Thomas Schaufelberger meint, dass Erfahrungen aus Gottesdiensten für Kirchendistanzierte Impulse für die Erneuerung traditioneller Gottesdienste hergeben. Er räumt ein: «Der Elan für alternative Gottesdienstformen ist eher abgeklungen.» Doch für die Partizipation, die Pfarrerrolle und die Zielgruppen-Fokussierung sei von ihnen zu lernen. Und es zeige sich, «dass die Ausrichtung auf die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht zu einer Verflachung im Sinne einer Eventkultur führen muss».
«Gott segne dich!»
Segnungsgottesdienste haben laut Manuela Liechti-Genge seit 1980 erstaunlich breite Resonanz gefunden. Sie ermutigt zum Salben mit Öl und gibt Hinweise zur Gestaltung von Segnungen. Vom Aaronitischen Segen her grenzt sie das Segnen von Fürbitte, gutem Wunsch und Zuspruch ab.
Für die meisten Leser relevanter dürften Burghard Fischers Überlegungen zum Spannungsfeld von Leitung und Beteiligung sein. Durch Partizipation könnten der Gegenwartsbezug, die Verständlichkeit und die Relevanz gottesdienstlicher Feiern verstärkt werden – für die Gemeindeentwicklung massgeblich. Fischers Plädoyer für Beteiligung mündet in hilfreiche Hinweise.
Im letzten Teil des Kompendiums kommen Gastfreundschaft und Prophetie (Andreas Nufer), Milieuorientierung und Inklusion (Matthias Krieg) zur Sprache. Tania Oldenhage fragt, wie feministische und gendersensible Liturgien aussehen könnten. «Was bedeutet es, einen Jungen zu taufen, im Unterschied zu einem Mädchen?» Schwer nachvollziehbar ist das Verständnis von Taufwasser «als Ort, an dem Geschlechteridentitäten aufgelöst, quasi weggewaschen werden – zumindest für einen Moment».
Wie weiter?
Das Kompendium wurde Mitte Juni in Bern vorgestellt, zwei Tage vor der Feier, die der Kirchenbund zu «500 Jahre Reformation» veranstaltete. Damit drängt sich die Frage auf, wie evangelischer Gottesdienst, der anders als der katholische und orthodoxe nicht durch eine feste Liturgie gehalten wird, weiter entwickelt wird für die nächsten Generationen. Wie er Formen annehmen kann, die ihn als evangelisch ausweisen, die das Herkommen erkennen lassen und dem reformierten Verständnis von Glauben und geistlicher Gemeinschaft entsprechen – und die zugleich auf die Kommunikationsweisen und musikalischen Ausdrucksformen des 21. Jahrhunderts bezogen sind.
Pfrn. Sabine Brändlin vom Rat des Kirchenbundes stellte an der Vernissage die Bedeutung der Liturgie für die Kirchenentwicklung heraus. Die Frage: Wie nähren und stärken Gottesdienste die Gemeinde? werde durch die Christologie beantwortet. Brändlin zitierte Papst Franziskus: «Christsein und Christwerden wächst aus einer Begegnung mit Jesus Christus.»
Die Situation von Gemeinden verschlechtere sich, weil sie nicht von Jesus redeten. Gemeinde sei mehr als Vergemeinschaftung, meinte Sabine Brändlin und nannte es entscheidend, «dass die Liturgie Raum schafft für die Begegnung mit dem lebendigen Gott».
Selbstsäkularisierung
An der Vernissage ging der Zürcher Liturgiewissenschaftler (und Nicht-Autor) Luca Baschera auf zwei in mehreren Beiträgen gemachte Beobachtungen ein: die «Selbstsäkularisierung des reformierten Gottesdienstes» und die «Vernachlässigung geprägter liturgischer Formen». Diese zwei bedrohlichen Tendenzen sind nach Einschätzung Bascheras miteinander verbunden. Er verwies darauf (was im Band kritisiert wird), dass der Gottesdienst vielerorts nur noch einen Teil des Gemeindelebens unter anderen darstellt.
Baschera nahm zudem die Bemerkung von David Plüss auf, dass Gemeinden «stimmige, gediegene und sich wiederholende Formen» brauchen, um dem allgemeinen Priestertum gemäss zu feiern. Daher tue sowohl «eine erneute, bewusste Verpflichtung auf die geprägte Form» wie auch «die Pflege eines bestimmten Verständnisses von Sinn und Geist der Liturgie» Not.
Gottesdienst als Rüststätte
Die Stossrichtung mehrerer Beiträge fasste Luca Baschera in der Bemerkung zusammen: «Im Gottesdienst setzt sich die Gemeinde und jeder Einzelne in ihr der re-orientierenden Wirkung Gottes in Gebet, Wort und Sakrament aus, um so ausgerüstet zu werden für den Lebensgottesdienst.» Er fragte, ob der Gottesdienst statt als zu füllendes Gerüst viel eher als Gefüge gesehen werden sollte – als Gefüge, das «nicht nach Gestaltung, sondern nach behutsamer Förderung seines eigenen Gedeihens» ruft.
David Plüss, Katrin Kusmierz, Matthias Zeindler, Ralph Kunz (Hg.)
Gottesdienst in der reformierten Kirche
Einführung und Perspektiven
Praktische Theologie im reformierten Kontext, Band 15
TVZ Zürich, 2017, 552 Seiten, Paperback, 978-3-290-17853-6