Reformationsjubiläum – und dann?
Was haben die evangelischen Kirchen im deutschen Sprachraum in der 500-Jahr-Feier der Reformation von ihr zum Leuchten gebracht – und was sagen die Feiern über ihren eigenen Zustand aus? Der Wiener Theologieprofessor Ulrich Körtner stellte am 10. November in einem Vortrag in Bern überraschende Bezüge her. Im Bemühen um Versöhnung leiste ein undifferenziertes Reden von Schuld der Moralisierung der Theologie Vorschub.
Das aktuelle Jubiläum ist das erste im Zeitalter der Ökumene. Obwohl das Ringen ums Verständnis der Lehraussagen des II. Vatikanischen Konzils andauert und die Erwartungen an den Ökumenischen Rat der Kirchen 70 Jahre nach seiner Gründung geschrumpft sind, gilt die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 zur Rechtfertigungslehre als Meilenstein (die Reformierte Weltgemeinschaft hat ihr 2017 mit Vorbehalten zugestimmt).
Das Konzept des «differenzierten Konsenses», das diese Übereinkünfte ermöglicht, sollte laut Körtner die Hauptfrage nicht in den Hintergrund drängen: was die Christenheit der Reformation bis heute zu verdanken hat – und «welche Impulse vom Erbe der Reformation für den ökumenischen Weg der Zukunft ausgehen».
Reformation fortführen?
Das Feld absteckend, erwähnte der Professor aus Wien zwei Pole des Umgangs mit der Reformation: Einerseits werde der Graben der Geschichte – durch den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte vertieft – betont und vor Geschichtsklitterei gewarnt (Thomas Kaufmann, Heinz Schilling); andererseits wollten manche die Reformation fortsetzen bzw. Europa einer neuen Reformation entgegenführen.
«Semper reformanda» sei heute auch der Wahlspruch eines an der Aufklärung orientierten Kulturprotestantismus, bemerkte Körtner und zitierte Jörg Lausters Anspruch einer «Religion für freie Geister». Untersuchungen zeigten indes, dass Christsein ohne Kirchenbindung sich verliere. Theologisch könne gefragt werden, inwiefern die Reformation des 16. Jahrhundert von Gott bewerkstelligt wurde. In ihrem Licht, so Körtner, deutet das aktuelle Jubiläum eher eine Orientierungskrise an, als dass es einen Aufbruch markiert.
Schleichende Katholisierung des Protestantismus?
Im Vortrag vor dem Evangelisch-Theologischen Pfarrverein referierte Ulrich Körtner an der Nägeligasse in Bern zudem die These von Volker Reinhardt («Luther der Ketzer»): Das Kreisen des Wittenberger Reformators um die Sünde, auch die sperrige lutherische Rechtfertigungslehre würden heute ins Gegenteil verkehrt, wenn jedem das Paradies verheissen werde. «Das Luthertum hat sich katholischen Vorstellungen stillschweigend angenähert.»
Körtner stellte die Frage, ob man von einer Katholisierung protestantischer Kirchen sprechen müsse. Er verwies auf Benjamin Hasselhorn, der das Ende des Luthertums (charakterisiert durch Gottvertrauen, Gewissensernst, Hoffnung auf Gnade und Mut zum Bekenntnis) heraufziehen sieht und die Krise des Evangelischen überhaupt beklagt.
«Erinnerung heilen»
In der Perspektive des Wiener Systematikers hat der unbedingte Wille zur ökumenischen Ausrichtung des deutschen Reformationsjubiläums «fragwürdige Entwicklungen gefördert». Der Referent liess die lutherisch-katholischen Papiere, Stellungnahmen und Feiern der letzten Jahre Revue passieren («Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen» 2016, Gottesdienst in Hildesheim, März 2017).
Im Bestreben, Reformation und Gegenreformation (römischerseits als «katholische Reform» bezeichnet) zusammenzusehen, sei Luthers Theologie abgeschwächt worden. Man beklage nun Missverständnisse – «als hätte ein gescheiter Mediator die Reformation überflüssig gemacht». Dabei gelte es immer noch nach dem theologischen Gehalt der Reformation zu fragen, der auch ökumenisch zur Geltung zu bringen wäre.
In Hildesheim hätten der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedform-Strohm und Kardinal Reinhard Marx «undifferenziert von Schuld gesprochen», befand Ulrich Körtner, aus dem Wunsch heraus, durch den Blick in die Geschichte den Weg der Versöhnung zu finden. Wenn alle irgendwie Opfer und Täter zugleich sein sollten, leiste dies der Moralisierung der ökumenischen Theologie Vorschub.
Reformatorisch heisst selbstkritisch
Abschliessend setzte Ulrich Körtner Marken für die Zeit nach dem Jubiläum. Er sagte, reformatorische Theologie – mit der Rechtfertigung im Zentrum – könne nur selbstkritisch betrieben werden. «Als der ganz Andere nimmt uns Gott an, damit wir nicht bleiben, wie wir sind, sondern Andere werden.»
Gerade im 21. Jahrhundert sei von Gott zu reden, «nicht von meinen Vorstellungen und Gedanken über Gott». Das Freiheitsverständnis der Moderne knüpfe an die Reformation an. Glaube habe mit Erfahrung und Bekennen zu tun. «Letztlich haben alle Glaubensaussagen Bekenntnischarakter.» Christen sollen – statt sich mit Vielfältigkeit der Religion zu befassen – die Frage nach Gott erneut stellen.