Die grossen Wörter der Reformation für heute

Sünde, Gnade, Glaube und Werke: Die laufende Ringvorlesung der Universität Bern stellt die Reformationszeit und das Heute anhand ihrer grossen Themen gegenüber. Dabei erweist sich die Aktualität der alten Wörter, das Erhellende ihres biblischen Grundes. Und die Frage kommt auf: Wie schaffen es Theologen, in säkularen Kontexten wieder so einfach und eindringlich zu reden, dass man sie hören will?

Sünde

Am 20. März sprach Hans-Martin Rieger von der Universität Jena über Sünde. Sie ist in der Bibel prominent. Wenn heute bei den Reformierten das befreiende Potenzial des Evangeliums kaum mehr auf eine Sündennot bezogen wird, was ist gewonnen? Martin Luther ging es, so Rieger, in seiner Theologie um den sündigen Menschen und den rechtfertigenden, ihn rettenden Gott. «Der Mensch wird menschlich, indem er sich als Sünder bekennt.»

Ohne Sünde besser dran?
Doch seine «Sünde gross» mochte der Mensch in der Aufklärung nicht mehr beweinen. Diese schaffte den Teufel ab, mutete so dem Menschen zu, selbst der Urheber des Bösen zu sein – und bemühte dann das Schicksal, um ihn zu entlasten! Seit Nietzsche ist Sünde entwürdigend. Heute hat der Mensch die «Verantwortung, alles gut zu machen» (Odo Marquard). Mit dem «Gottwerdungsdruck» offenbart sich die Krise des Selbstbesserungsdenkens.

Besserungsdruck ohne Vergebung: gnadenlos
Martin Rieger beleuchtete Luthers Zuspitzung «Jedes gute Werk ist», die heute höchst negativ wirkt, im Horizont biblischer Aussagen (Psalm 51, Römer 5) und Augustins. Es zeigt sich eine Zweipoligkeit: Sünde als Tat – Sünde im Sein, eigene Verantwortung – und «schicksalhafte Schuldverfallenheit». Augustin verschob bekanntlich die Gewichte zum zweiten Pol: Aufgrund der Erbsünde können schon die Neugeborenen nicht nicht sündigen; der Verlust der Gerechtigkeit Adams zeigt sich dann in Selbstliebe und Begierde. Im Mittelalter galten die Tatsünden als Früchte der Erbsünde.

Gefährdeter und verantwortlicher Mensch: Hans-Martin Rieger

Martin Luther reagierte auf den scholastischen Theologen Gabriel Biel, für den der Menschen durch gutes Tun zum Empfang der Gnade beitragen konnte, und auf den Trend, Sünde nur in den Werken zu sehen. Der Wittenberger Reformator fand, dass der Mensch selbst Gott sein will – er kann von Natur nicht wollen, dass Gott Gott ist, und sucht auch in seinem moralischen Handeln sich selbst. Die falsche Grundausrichtung, willentlich vollzogen, ist eine Macht, von der er sich nicht distanzieren kann.

Gefährdet, verstrickt – und doch verantwortlich
Heute, äusserte Hans-Martin Rieger, tun wir gut daran, diesen theologischen Kern, die Verkehrung im Verhältnis zu Gott, festzuhalten – auch um dem flachen Moralisieren zu entgehen. Den Reformatoren ging es um den Zusammenhang von Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis. Laut Rieger bedeutet die Lehre von der Sünde keine Herabwürdigung, sondern «eine Würdigung des Menschen – als eines angewiesenen, gefährdeten, verstrickten und zugleich für seine Mitwelt verantwortlichen Menschen. Nur wenn Gott Gott bleibt, bleibt der Mensch Mensch und die Mitwelt Mitwelt.»

Dies hilft auch zu unterscheiden: Sünde bedarf der Vergebung – das Übel muss bekämpft werden! Die Kirche hat angesichts all der Übel, die der moderne Mensch verursacht (Verkehrstote, Klima!), um Unterscheidungsvermögen und eine klare Sprache zu ringen.
 

Reformationsdenkmal in Genf


Gnade

Magdalene Frettlöh, Professorin für systematische Theologie in Bern, hielt am 6. März ein «Plädoyer für die Wiederentdeckung der verlorenen Anmut der Gnade». Sie ist vielleicht «das grösste unter den unverstandenen Wörtern». Mit ihr assoziiert werden die Befreiung vom Zwang, sich selbst herstellen zu müssen, der Mut zur Endlichkeit (F. Steffensky), das Annehmen des Lebens als Gabe, das Eingeständnis von Bedürftigkeit – zu einer Zeit, da das Wort «gnadenlos“ auch in der Werbung auftaucht und Wörter wie Gnadenstoss negativ klingen. «Für Leistungsorientierte ist Gnade zum Unwort geworden.» Was die Frage aufkommen lässt, so Frettlöh, ob auch unsere Gnadenlehren dazu beigetragen haben, dass Gnade in Verruf gekommen ist …

Keine Schwamm-drüber-Mentalität
Magdalene Frettlöh brachte Einsichten eines Gefängnisseelsorgers zu Gehör: Gnade macht die Taten nicht einfach ungeschehen, indes legt sie den Täter nicht fest auf einmal Begangenes oder Versäumtes. Sie soll nicht zudecken, was einer getan hat, sondern ermöglicht, dass er trotz allem neu anfangen kann.

Martin Luther betonte: Die Liebe Gottes findet Liebenswertes nicht vor – sie schafft es. Er hegte eine verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade. Sie tritt für die Reformatoren nicht in Gegensatz zu göttlichem Recht und Gerechtigkeit: Gerechtigkeit als Gnade – nicht Gnade statt Gerechtigkeit. Gnade wird gewährt vor jeder Leistung. Doch wirkt der Mensch bei ihrem Empfang mit?

Anmut der Gnade wieder entdecken: Magdalene Frettlöh.

Ermächtigung zum Leben
Bei Augustin geriet Gnade in den Schatten der Erbsünde. Er hielt dafür, erst durch die Taufe werde Gnade eingestiftet. Magdalene Frettlöh referierte die feinen Unterscheidungen von Thomas von Aquin. Sie schloss mit dem Appell, Gnade «aus dem Zwangskorsett der Sündentheologie und Prädestinationslehre zu befreien». Auf den Begriff sei nicht zu verzichten, sondern (mit Hilfe der alttestamentlichen Wörter) sein Bedeutungsreichtum einzuholen. «Nicht nur Befreiung von Sünde, sondern auch Ermächtigung zum Leben ist Gnade.»
 

In der Berner Altstadt


Glaube und Werke

Am 13. März sprach Jürgen Werbick, emeritierter katholischer Systematiker in Münster, über Glaube und Werke. Katholiken und Lutheraner haben in der Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 festgehalten, dass gute Werke der Rechtfertigung folgen und sie nicht begründen. Werbick widmete sich angesichts dieser Übereinstimmung dem Hintergrundproblem: wie das von Luther akzentuierte «Ohne Verdienst» zusammengedacht werden kann damit, dass der Glaubende Subjekt wird. Wie findet der Sünder in den Glauben hinein?

«Glauben und Handeln zur Nachfolge verschränkt»
Im Neuen Testament sieht der Referent beides: Während Paulus das «Ohne» betonte (Römer 3), warb Jesus «um die glaubend handelnde Nachfolge, in der Menschen sich von Gottes Herrschaft in Anspruch nehmen lassen». Jesus habe die Menschen herausfordernd angesprochen, sie bedrängt – aber nicht zum Objekt seiner Botschaft gemacht. Er habe Bundesgehorsam gelebt und gewollt. «Glauben und Handeln scheinen ineinander verschränkt, zur Nachfolge verschränkt.»

Logik der Bekehrung: Jürgen Werbick.

Augustinus betonte nach Paulus, dass die Gnade den Werken vorausgeht. Er wollte damit «die Werke nicht wertlos machen, sondern zeigen, dass sie nicht Voraussetzung, sondern Folge der Gnade sind». Von da zog Jürgen Werbick die Linie weiter zu Luther aus. Von den «freien, nebenabsichtslosen Werken» zugunsten des Nächsten, die der Reformator vor Augen hatte, nährte sich Kants Gesinnungsethik.

Glaube ist Wagnis
Das Pathos dieser Ethik ist heute verbraucht – Werbick verwies auf Jürgen Habermas‘ Klage über den «Defaitismus der praktischen Vernunft». Der Theologe fand, dass nach Kant die Logik der Neuorientierung im Glauben «theologisch zu verdeutlichen ist: als Logik der Christus-Nachfolge»: nicht zuerst der Glaube und dann die Werke, sondern «der Glaube realisiert sich in dem Wagnis, mein Leben mit Gott in seine Zukunft hineinzuleben».

Jürgen Werbick fragte: «Ist das Kreuz Jesu nicht die klare Scheidung von Vorher und Nachher, weil es die Situation des Menschen grundlegend verändert, ihm ermöglicht, was ihm vorher unmöglich war?» Gott wollte den Menschen aus der «Zukunftslosigkeit der Sünde» retten und tat dies durch Jesus. Nur so können die Menschen in Gott – unter seiner Herrschaft – «Leben in Fülle erlangen und ihm in einem Leben der Nachfolge schon auf der Spur sein».



Die Ringvorlesung «Unsere grossen Wörter – Reformatorische ReVisionen» wird vom Institut für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern zusammen mit dem Kirchenbund und den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn durchgeführt. Die Vorträge montags, 18.15 Uhr, in der UniS, Raum A022 sind öffentlich. Im April und Mai sind acht weitere Vorträge geplant.