Reformation feiern!

Was gibt es 500 Jahre nach Luther und Zwingli zu feiern? Dieser Frage stellte sich der Zürcher Reformationskongress vom Oktober 2013. Der kürzlich erschienene Kongressband zeigt: Was in der Reformation aufbrach und befreiend wirkte, soll für Menschen des 21. Jahrhunderts Bedeutung bekommen. Wird das Reformationsjubiläum den vielfach zersplitterten Evangelischen helfen, gemeinsam Kirche Jesu Christi zu sein? Die Teilnehmenden suchten nach Wegen, das Jubiläum ohne Abgrenzungen und doch mit klarem Profil zu gestalten. Plädoyers und Einblicke, Erwägungen und Kontroversen finden sich im Kongressband: eine Fundgrube für die Vorbereitung der Feierlichkeiten, die hierzulande 2017 nicht enden, sondern erst beginnen.

Die Beiträge des Bandes vom Internationalen Kongress zum Reformationsjubiläum 2017, der von 6.-10. Oktober 2013 in Zürich stattfand, sind von stark unterschiedlichem Gewicht. Sinn und Ziel der Feiern sprechen von Veranstalterseite programmatisch Thies Gundlach und Niklaus Schneider (EKD) und Gottfried Locher (SEK) an. Das kulturgeschichtliche Erbe der Reformation, ihre Impulse fürs Zusammenleben, beleuchtet brillant Rowan Williams. Historische Perspektiven eröffnen vor allem Peter Opitz (Schweizer Reformation), Volker Leppin und Fulvio Ferraio (Reformation und Spätmittelalter) sowie Marianne Carbonnier-Burkard (bisherige Reformationsjubiläen).

Ulrich Körtner verdeutlicht die Grundanliegen der Reformation mit den vier soli. (Dies hat die EKD 2014 ihrerseits in der programmatischen Schrift Rechtfertigung und Freiheit getan.) Olav Fykse Tveit, Johanna Rahner und Kardinal Kurt Koch sowie Erzpriester Viorel Mehedintu blicken von ökumenischer, römisch-katholischer und orthodoxer Warte auf die bevorstehende 500-Jahr-Feier, Walter Fleischmann-Bisten und Hanspeter Jecker vom konfessionskundlichen und täuferischen Standpunkt.

Der fast 400-seitige Kongressband ist vom Wunsch getragen, dass im Rückblick die reformatorische Botschaft der Befreiung neu angeeignet wird, "„indem wir die Bibel neu lesen"“ -– so die Herausgeber in der Einleitung. In diesem Text werden auch die anderen Beiträge kurz erwähnt, um die Aspekte und Schichten des Jubiläums in ihrer Breite anzudeuten.

Über Grenzen hinaus
Im Eröffnungsgottesdienst hielt Michel Müller, Präsident der gastgebenden Zürcher Kirche, die Predigt über Petrus, der nach der Einladung von Cornelius sagte: „"Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können?"“ Gott baut seine Kirche durch seinen Geist. "„Wir müssen hinaus aus unseren alten Mauern. Hinaus in die Welt... wie sie nun einmal ist".“

"Der Mensch kann bestehen in Zeit und Ewigkeit, weil Gott ihn liebt. Das Evangelium soll im Mittelpunkt stehen und gefeiert werden. Das ist die Botschaft der Reformation. Eine befreiende, beglückende Botschaft." Wie Gottfried Locher (SEK) betont Nikolaus Schneider (EKD): "„Wir feiern, dass das Evangelium einen neuen Weg zu den Menschen gefunden hat".“ Luther sei eine ambivalente Persönlichkeit gewesen. Doch die Reformatoren vermittelten die Einsicht, "„dass uns der Christusglaube ein Leben ohne Angst, ohne den inneren Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstüberhöhung schenkt“".

Gemäss Locher gilt es im Reformationsjubiläum für die Zukunft zu erinnern: „"Vermögen die Kirchen Gottes Wort der Versöhnung und Veränderung genügend kräftig zu bezeugen? Wie steht es mit der Klarheit und Verständlichkeit ihrer Verkündigung"?“ Es folgen im Band die drei Bibelarbeiten zu Römer 3,21-31, Matthäus 5,13-16 und Johannes 3,1-15, letztere von Margot Kässmann.

Grandioses Erbe
„"Die wahre christliche Herausforderung besteht darin, die Menschheit für das zu lieben und zu verehren, was sie ist -– sterblich und verletzlich und doch unermesslich glorreich, weil Gott sie als Ort der göttlichen Offenbarung und Wirkung geschaffen hat".“ Der anglikanische Alt-Erzbischof Rowan Williams spürt in einem weitgespannten Vortrag dem reichen, mehrdeutigen Erbe der Reformation in der christlichen Kultur nach. Zentral für die "„theologische Gesundheit der christlichen Gemeinschaft"“ sind drei Punkte, welche die Reformatoren herausstellten: Gott ist souverän; zwischen seinem unendlichen Handeln und dem seiner Geschöpfe ist absolut zu unterscheiden; sie sehen auch nicht im Wettbewerb miteinander. Die Schrift ist nicht nur Quelle der Lehre, sondern auch kritische Präsenz in der Kirche. Kirchliche Gnadenmittel kommen von Gott; die Kirche ist "„keine Versammlung von Herrschern und Untertanen, sondern in erster Linie eines Volks"“.

Allerdings führte die Reformation laut Williams auch zu problematischen modernen Entwicklungen, durch die Öffnung zum Rationalismus und Individualismus, durch eine halbherzige Theologie der Kirche und ein verfehltes Emanzipationsdenken. Das Positive überwiegt, etwa die „"Idee einer (säkularen und kirchlichen) Gesellschaft...…, die sich selbst hinterfragt und die auf die vorausgehende Bekräftigung von Gottes Handeln vertraut, so dass Angst und Konkurrenzkampf entfallen..."
Resumé von Rowan Williams'‘ Hauptvortrag

Den geistlichen Kern freilegen
Die reformatorischen Kirchen Deutschlands bereiten, wie Thies Gundlach, Vizepräsident des EKD-Kirchenamts anmerkt, das Jubiläum mit Themenjahren seit 2008 vor. Er sieht Sinn und Ziel des Reformationsjubiläums auf drei Ebenen: theologisch-existentiell, historisch –- und erinnerungskulturell. Denn "„die Grundfragen der Existenz werden in Erinnerungsfeiern bearbeitet"“. Gundlach mahnt: „"Die Kirchen werden gegen den Sog zum Tourismus und zur Banalisierung des Datums nur durch eine starke inhaltliche Orientierung des Reformationsjubiläums bestehen können".“ Den säkularen Mitbürgern sei zu erklären, warum die Reformation „"eine Zentralzäsur in der Geschichte des westlichen Abendlandes"“ war.

Dafür gelte es den geistlichen Kern des reformatorischen Aufbruchs freizulegen; dann könnten auch "„die Impulse zur Freiheit, zur Bildung für alle, zur Weltaufwertung und Berufsvorstellung, zur Nächstenliebe und zur Modernisierung des Geschlechterverhältnisses"“ vermittelt werden. Der EKD-Vertreter fordert klare und verständliche Kommunikation der Inhalte, damit Menschen 500 Jahre nach Luther und Zwingli verstehen, was sie glaubten und wollten. „"Es geht in der Erinnerung an die Reformation um eine Entängstigung der Seele von heutigen, aktuellen Ängsten".“ Aber wie soll "„Auszug aus der Angst -– Einkehr bei Gott –- Aufbruch in die Welt"“ geschehen? Gundlach nimmt kein Blatt vor den Mund: "„Weil wir eine ausserordentlich schwache Sündenlehre haben, versteht kaum noch jemand unsere Erlösungslehre".“

Exklusiver Glaube
Der Wiener Systematiker Ulrich Körtner sieht Rechtfertigung als Botschaft fürs 21. Jahrhundert. Zwar seien frühere Glaubensvorstellungen, Ängste und Fragen verblasst, doch Rechtfertigung sei eine Botschaft für den Menschen, der „"modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft"“, weil er um seine Bedeutungslosigkeit fürchte.

Die vier soli der Reformation sind laut Körtner unvermindert aktuell: Christus allein -– es geht "„beim christlichen Glauben nicht um Religion oder Spiritualität, sondern um Gott"“. Allein aus Gnade -– Evangelium als Zusage bedingungsloser Liebe. "„Ohne den Gedanken des richtenden Gottes verliert auch derjenige des gnädigen Gottes seine Plausibilität".“ Allein die Schrift -– „die Einheit der Schrift... …entsteht immer wieder neu durch fortgesetzte Lektüre"“. Allein durch den Glauben –- der bei allem Tun keine eigenmächtige Tat, sondern eine Gabe Gottes ist.

Einflussreiche Schweizer Reformation
Der Zürcher Kirchenhistoriker Peter Opitz legt -– besonders aufschlussreich für die auf Luthers überragende Gestalt fokussierten Kongressteilnehmer –- die Modernität der Schweizer Reformation dar, welche auf den Beschluss des Rats von Zürich 1523 folgte. Der weltweite reformierte Protestantismus wurzelt in den Umbrüchen in der Schweiz, die „"wesentlich als Städtereformation oder Gemeindereformation"“ zu sehen sind. Bestimmend war ihre enge Verknüpfung mit dem europäischen Humanismus. Zwingli habe für die Gemeinschaft gedacht, um ihre Wiederherstellung gerungen und darum in seiner Beschreibung des Evangeliums nicht den Rechtfertigungsbegriff ins Zentrum gestellt. "„Sondern (er) spricht von Versöhnung und vom göttlichen Willen, die beide in Christus zu finden sind"“.

Als Schweizer Beiträge zu reformatorischer Identität nennt Peter Opitz weiter Kirche als Gemeinschaft des Lernens (Bibelübersetzung im Team), der Versöhnung und des Rechts und des dankbaren Bekennens. Aber die Reformatoren waren Kinder ihrer Zeit; das Jubiläum sollte laut Opitz auch dazu genutzt werden, sich von ihnen respektvoll-kritisch dort zu distanzieren, "„wo sie dem, was sie sich zu sagen beauftragt sahen, in ihrem Reden und Handeln nicht gerecht wurden"“.

Obrigkeitliche gegen radikale Reformation
Der Bensheimer Konfessionskundler Walter Fleischmann-Bisten schildert die Wendung der Reformatoren, namentlich Luthers, gegen radikale Kräfte. Seine Toleranz gegen andere Glaubensauffassungen nahm ab, "„wo soziale und politische Forderungen unter dem Titel des Evangeliums vorgebracht"“ wurden. 1529 beanspruchten die evangelisch gewordenen Reichsstände in Speyer Glaubens- und Gewissensfreiheit; andererseits verfügte der Reichstag für alle sogenannten Wiedertäufer die Todesstrafe.

Noch im Westfälischen Frieden von 1648 blieb den Nonkonformisten und Täufern die Toleranz versagt. Erst 1919 habe das "„Unverhältnis von Landes- und Freikirchen"“ in Deutschland geendet. „"Christliche Intoleranz vergangener Jahrhunderte hat viel dazu beigetragen, dass eine Reihe geradezu revolutionärer Potenziale der Reformation erst nach Jahrhunderten Früchte bringen konnten".“ So fordert Fleischmann fürs bevorstehende Jubiläum, die Kirchen und Konfessionen hätten Zeichen von Versöhnung zu suchen. "„Für die meisten Freikirchen ist nämlich trotz aller Demütigung nicht vergessen, dass auch sie Kinder der unvollendeten Reformation sind".“

Unter den fünf Feedbacks bzw. auswertenden Beiträgen des Bandes finden sich Überlegungen des Schweizer Täuferhistorikers Hanspeter Jecker und Statements, die der Hannoveraner Baptistenpastor Frank Fornaçon von freikirchlichen Teilnehmern zusammengetragen hat. Jecker ist überzeugt, dass Freikirchler und namentlich die pazifistischen Täufer mithelfen können, das Evangelium glaubwürdiger im 21. Jahrhundert zu verkündigen und Vorbehalte (Glaubenskriege, Intoleranz) aufzuweichen. Im Nachwort hält Martin Schindehütte (EKD) unter den ungelösten und unerledigten Themen als erstes fest: Reformation und Gewalt, als zweites: Reformation und Subjektivismus.
Einschätzungen von Freikirchenvertretern: Text unten

Reformbemühungen, Fegefeuer, Ablass
Wie kam es zur Reformation? Der Waldenser-Dogmatiker Fulvio Ferraio aus Rom stellt die Reformatoren auf den Schultern ihrer Vorläufer dar; zu ihnen zählt er nicht nur Valdes, Hus und Wycliffe, sondern auch Arnold von Brescia und Girolamo Savonarola. Bei Hus habe Luther angeknüpft, um die Apostolizität der Kirche zu bestimmen. Ferraio verweist zudem auf den Unterschied zwischen den evangelischen Volkskirchen West- und Nordeuropas und den Diaspora- und Minderheitenkirchen, welche im Kontrast zur Mehrheitskultur existieren. "„Kann in einer nachkonstantinischen Zeit das Erbe der nicht-konstantinischen ‚'ersten‘' Reformation fruchtbar sein"?“

Volker Leppin aus Tübingen geht auf das Verhältnis von Reformation und Spätmittelalter ein. "Unter dem Dach der einen Kirche fanden sich hier vielfältige, gelegentlich einander nahezu ausschliessende, jedenfalls polar gegenüber stehende Strömungen".“ Er nennt einerseits die Dezentralisierungsbestrebungen des 15. Jahrhunderts, andererseits die innerliche Frömmigkeit Luthers und Zwinglis und das Priestertum der Glaubenden, bei dem Zürich 1523 Wittenberg voranging. Insgesamt lasse sich der Anfang der Reformation „"als Zuspitzung und Radikalisierung der Polaritäten des späten Mittelalters verstehen"“.

Wolfgang Thönissen, Ökumenik-Professor in Paderborn, beleuchtet im Kontext der spätmittelalterlichen Kritik am Ablass (Lehre und Praxis) eingehend, wie Martin Luther 1517/18 mit seinen Kontrahenten übers Fegefeuer stritt. Um 1500 rangen nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Städte um Heiligkeit. Der in Wittenberg lehrende (noch katholische) Theologieprofessor hielt dafür, der Papst mit seinem Schlüsselamt verfüge nicht über das Fegefeuer, und sprach sich für die Vollmacht aller Geistlichen zu beten und Fürsprache einzulegen aus. So wollte er das Sakrament der Busse integral bewahrt haben.
Streit um Wahrheit, Ringen um Freiheit: Mehr zu den Wirkungen der Reformation in der Neuzeit im Text unten

Die Reformation vollenden?
„"Es gibt keine Kirche ohne Credo"“: Der Amsterdamer Reformationshistoriker Erik A. de Boer zeichnet die konfessionellen Verhärtungen der frühen Neuzeit nach. Die Reformation habe zu neuem Bekennen geführt; die Lehrsätze markierten dann aber bald Abgrenzungen, auch innerprotestantisch. In de Boers Kirche werden die reformierten Bekenntnisschriften hochgeschätzt; sie führten auch heute zurück zu den Büchern der Heiligen Schrift. „"Dass Credo der Kirche wird im Hören des Wortes Gottes aufs Neue geboren und will zum Bekennen führen und verführen".“

Martin Hirzel, der Ökumenebeauftragte des SEK, beleuchtet das Verhältnis des Pietismus zur Reformation. Vom holländischen Pfarrer Jodocus van Lodenstein (1620-1677) stammt das Motto "„Ecclesia semper reformanda"“. Pietisten wie Spener suchten mit der Sammlung von Gläubigen in Kreisen die ganze Gemeinde zu beleben, denn es "„muss die Reformation... vollendet werden“". Laut Hirzel nahm der Pietismus Kernanliegen der Reformation auf: Glaube als persönliches Vertrauensverhältnis zu Gott, im Alltag praktiziert, Priestertum aller Gläubigen, Lesen der Bibel in Gemeinschaft. Zugleich bewirkte der Pietismus einen Individualisierungsschub, der sich im Verein mit Kräften der Aufklärung säkularisierend auswirkte.

Feiern im Zeichen ihrer Epoche
Die Pariser Kirchenhistorikerin Marianne Carbonnier-Burkard zeichnet in einem instruktiven Gang vom 17. ins 20. Jahrhundert die Zeitgebundenheit und konfessionalistische und nationalistische Verzweckung der Reformationsfeiern in Deutschland nach. Durch die Bezeichnung ‚'Jubiläum‘' stellten die Protestanten ihre Feiern den katholischen Heiligen Jahren (seit 1300, Sonderablass auch noch 2000) gegenüber. In der Schweiz folgten Städte dem deutschen Vorbild (erstes Zwinglijubiläum 1719, Bern folgte 1728, Genf 1735, Zwinglidenkmal und Mur des Réformateurs zum 400. Geburtstag der Reformatoren 1885 und 1909).

Die Frauen der Reformation
Neben geistlichen Weichenstellungen und Verhärtungen kamen am Zürcher Kongress soziale Wirkungen der Reformation zur Sprache. Im Kongressband schildert Anne-Marie Heitz-Muller die Besserstellung der Frauen in Strassburg infolge der Reformation. Mädchenschulen wurden eingerichtet und die Stadt übernahm die Lehrerlöhne. Während die Humanisten antike griechische Texte, welche die Frau herabsetzten, einbrachten, was zum Ausschluss von Frauen von guten Arbeitsstellen beitrug, werteten die Reformatoren ihr Wirken im Sozial- und Gesundheitswesen auf. 1547 ordnete die Stadt Strassburg an, den Kranken sei zu dienen „"und allwegen denken, was wir den notturftigen thun, dasselb Christo selbs thun"“. Die Frauen von evangelischen Pfarrern prägten die offene Atmosphäre der Stadt mit -– unerhört.

...und die katholische Kirche?
Wie geht die Kirche, die sich immer noch die kat-holische (allgemeine) nennt, mit dem Grundfaktum der Trennung um? Der Kongressband verzeichnet zwei Antworten: die offizielle, vom päpstlichen Einheitsbeauftragten Kardinal Kurt Koch an der Abschlussveranstaltung vorgetragen, und Gedanken von Johanna Rahner. Die Kasseler Systematikerin bedauert die katholische Verhärtung zur Gegenreformation, lobt das Zweite Vatikanum und fragt, wie viel Kontinuität und wie viel Bruch sein müsse, damit die Kirche in der sich wandelnden Welt ihrer Sendung treu sein könne. Kurt Koch sagt Nein zu einer „"Jubelfeier"“. Die Protestanten hätten sich vom herkömmlichen Kirche-Sein (Eucharistie, apostolische Sukzession) verabschiedet. Die Kirchenspaltung erfordere, solle das „"Reformationsgedenken“" gemeinsam erfolgen, zuerst Busse und Umkehr.
Divergierende katholische Sichtweisen: mehr unten

Reformation und Ökumene
Olav Fykse Tveit, der Generalsekretär des ÖRK, sieht in der Hochschätzung der Bibel und der gleichberechtigten eucharistischen Gemeinschaft aller das Vermächtnis der Reformation. Im Nachdenken übers 16. Jahrhundert sei eine "„ökumenische Hermeneutik gegenseitiger Rechenschaft“" geboten. Die Ereignisse um 1517 seien "„im Rahmen von breiteren geschichtlichen und ökumenischen Perspektiven"“ zu sehen, zu beurteilen und zu feiern.
Alle miteinander am Tisch des Herrn: mehr unten

Ähnlich plädiert Michael Bünker von der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa für "„protestantische Vielstimmigkeit"“; Anne Burghardt vom Lutherischen Weltbund sieht deren Kirchen in der ökumenischen Begegnung zur Selbstkritik herausgefordert. „"Ohne die zentralen Überzeugungen und Errungenschaften der Reformation zu vernachlässigen, sollten wir uns selbst fragen, was wir von anderen Mitgliedern der christlichen Kirchenfamilien lernen können, z.B. in der Seelsorge oder in der Spiritualität".“

Protestanten in China und Korea
In der Volksrepublik China sind viele Intellektuelle neuerdings fasziniert von Calvin, Knox und dem Puritanismus, während Luther und die anderen Reformatoren noch kaum bekannt sind. In einer bemerkenswert vielschichtigen Skizze konstatiert Aiming Wang (Nanjing) ein starkes Wachstum der evangelischen Kirchen (registrierte und illegale Gemeinden mit zusammen 68-105 Millionen Mitgliedern, je nach Quelle); zugleich benennt er Probleme der Gemeinden (Gurukult auf dem Land, Synkretismus in den Städten) und wünscht eine Forschungsplattform zum reformatorischen Erbe. „"Im chinesischen Sprachgebrauch bleibt das den christlichen Sprachgebrauch artikulierende Vokabular recht begrenzt und oberflächlich“" im Vergleich mit jenem der alten ostasiatischen Religionen und des Marxismus-Leninismus.

Zugleich betont Wang die aktuelle Suche chinesischer Studenten „"nach letzten Wahrheiten, universal gültigen Werten und nach einer authentischen Frömmigkeit aufgrund eines ausgeprägten Verantwortungs- und Pflichtbewusstseins gegenüber der säkularisierten Welt"“. Die Suchenden studieren dafür calvinistische Ansätze. Jong Wha Park (Seoul) skizziert die Geschichte der von protestantischen Missionaren gegründeten Kirchen, die bisher „"getrennt vorwärts marschieren"“. Dem ungezügelten Wettbewerb im Gründen neuer Kirchen müsse ein Ende bereitet werden; Mission und Diakonie sollten konfessionsübergreifend abgestimmt werden.

In Angst -– oder frei?
Im knapp 400-seitigen Kongressband ist auffällig oft von Angst die Rede. William Bouwsma hat 1987 in seinem gelehrten Calvin-Portrait den Ängsten des umbrüchigen 16. Jahrhunderts nachgespürt, welchen der sensible Genfer Reformator zu wehren versuchte. In Zürich im Oktober 2013 –- Monate vor dem Ausgreifen der Dschihadisten und dem Ausbruch von Ebola –- sprachen mehrere Referenten postmoderne Befindlichkeiten an: die Angst vor Bedeutungslosigkeit, vor Überforderung. Was Gottfried Locher 2012 als Motto fürs Reformationsjubiläum vorschlug, dürfte sich als zentral herausstellen –- und anspruchsvoller und schwieriger zu vermitteln sein: „"Wer glaubt, ist frei“".

 

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen
Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017
vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich
Hg. von Serge Fornerod, Gottfried Wilhelm Locher, Thies Gundlach, Petra Bosse-Huber
Theologischer Verlag Zürich, 2014, ISBN 978-3-290-17765-2
388 Seiten, Paperback, CHF 32.80 - EUR 22.80

 

---------------------

Freikirchen einbeziehen für ein glaubwürdiges Jubiläum

Hanspeter Jecker von der Konferenz der Mennoniten der Schweiz schreibt, dass die „Erben der Radikalen Reformation“ – trotz grundsätzlicher Offenheit – in die Organisation des Zürcher Kongresses kaum einbezogen wurden. Er fragt, ob täuferische Kirchen an den Vorbereitungen von nun an beteiligt werden. Wenn sich heute viele nicht mit Glaube und Kirche befassen wollten und auf deren Gewaltgeschichte verwiesen, sei es angebracht, „ausgeübtes Unrecht zu benennen und zu bekennen. Damit werden Stolpersteine aus dem Weg geräumt, die von zahlreichen Zeitgenossen als Haupthindernisse zum Glauben bezeichnet werden, und dies eröffnet neue Perspektiven für die Proklamation des Evangeliums in unserer Zeit.“

Die Mitwirkung von Täufern und anderen Freikirchlern könne helfen, im Jubiläum die Freiwilligkeit des Glaubens und die Frieden stiftende Wirkung des Evangeliums zu betonen und zu reden von der „konkreten Lebenstransformation, die sich aus authentischen Gottesbegegnungen ergeben kann und die auch Bereiche wie Armut und Reichtum oder Krankheit und Heilung einschliesst“.

Für Jecker ist es Zeit, dass „das oft spannungsvolle Verhältnis zwischen Landes- und Freikirchen“ zur Sprache kommt – und der Umgang der Grosskirchen mit ihren pietistischen Flügeln. Da gebe es noch „gegenseitige pauschale Verunglimpfungen“. Der Täuferhistoriker wird deutlich: „Die innerchristliche Zersplitterung und Uneinigkeit ist ein weiterer bedeutender Stolperstein für nicht wenige Zeitgenossen, wenn es darum geht, ihnen das Evangelium verständlich zu machen.“

Laut Frank Fornaçon (Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland) wurde an einem informellen Treffen von Freikirchlern während des Kongresses gefordert, dass nicht nur Historisches wie die Täuferverfolgung ernst genommen wird, „sondern auch die gegenwärtigen Spannungsfelder zwischen Landes- und Freikirchen thematisiert werden“. Fornaçon konstatiert, im deutschen Bildungswesen würden Freikirchler und ihre Schulen heute diskriminiert; die grossen Kirchen wollten ihre Macht erhalten.

Die deutsche EMK-Bischöfin Rosemarie Wenner fordert die kleineren Kirchen auf, „unsere Geschichte und unsere spezifischen Anliegen in den Feierlichkeiten zu Gehör zu bringen“. Die Freikirchen hätten zur geistlichen „Erneuerung aufgrund der Entdeckung der reformatorischen Grundanliegen“ viel beizutragen.

Der Herrnhuter Bischof Theodor Clemens betont, die Reformation gehöre „nicht nur den lutherischen und reformierten Kirchen, sondern der ökumenischen Bewegung. Alle Kirchen sind durch den Geist, der zur Reformation geführt hat, beeinflusst und geprägt, ja auch verändert worden.“ Es gehe um einen Erneuerungsprozess, der die Welt verändert habe. Damit gehöre die Reformation auch nicht nur den Kirchen. Und „wir sollten uns auch als Freikirchen kritisch fragen und fragen lassen, was wir zur Einheit der Christen beitragen können“.

----------------

Streit um Wahrheit, Ringen um Freiheit: Reformation und Neuzeit

Der Basler Kirchenhistoriker Martin Wallraff beleuchtet den Wert des Buchdrucks (namentlich des griechischen Neuen Testaments 1516) für die Reformation. Athina Lexutt aus Giessen zeichnet nach, wie in der „Wendezeit Europas“ um 1500 Fürsten in deutschen Landen geistlichen Impulsen und politischen Nutzerwägungen folgten und die Reformation obrigkeitlich gestalteten, während in Ungarn Grossgrundbesitzer, in Zürich, Genf und den Niederlanden städtische Räte und Bevölkerungen den Ausschlag gaben.

Fréderic Elsig behandelt ausgehend von einer Genfer Ausstellung Satire und Karikatur in der frühen Neuzeit, als Mittel um die andere Konfession lächerlich zu machen. Tübinger Theologen korrespondierten nach 1570 mit dem Patriarchen von Konstantinopel; an ihren Akzenten verdeutlicht der Stuttgarter rumänisch-orthodoxe Erzpriester Viorel Mehedintu die juristische Schlagseite der Rechtfertigungslehre.

Zurückhaltend äussert sich der Berner Kirchenhistoriker Martin Sallmann zu den Zusammenhängen zwischen Reformation und Demokratie, Subsidiarität und allgemeinem Priestertum. Unbestritten sei, „dass die reformatorische Tradition insgesamt und die reformierte Theologie besonders im vielfältigen Puritanismus einen Einfluss auf den Werdegang der modernen Gesellschaft hatten“. Seine Basler Kollegin Christine Christ-von Wedel legt dar, wie im 18. Jahrhundert Johann Salomo Semler und andere Gelehrte der Aufklärung mit der Reformationszeit umgingen und bei den Humanisten wie Erasmus anknüpften.

Der Genfer Systematiker Christophe Chalamet zitiert Rousseaus individualistische Umdeutung der Kirche und wendet sich gegen den Denkansatz, der die Säkularisierung seit 1800 als unvorhergesehene Folge der Reformation ansieht. Sein Kollege François Dermange diskutiert Max Webers These zur Wirkung der calvinistischen Ethik im frühen Kapitalismus. Douwe Visser von der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen fragt nach der prophetischen Qualität protestantischer Kirchen und dem Widerstandsrecht.

-------------------

Reform vs. Reformation – Jubiläum oder Gedenken?

Prägnant, in elf Thesen, schlägt die Kasseler Systematikerin Johanna Rahner den Bogen vom Mittelalter zum II. Vatikanischen Konzil. Dieses habe die Einseitigkeit des Trienter Konzils und – in seiner Spur – des I. Vaticanums aufgebrochen. Die Versammlungen in Trient (1545-1563) führten zu einer Zementierung der konfessionellen Unterschiede, zur Gegenreformation, „da sich die innerkatholische Reform von nun an explizit antireformatorisch inszeniert“. Was im Mittelalter an Vielfalt möglich war, wurde „im konfessionellen Zeitalter zu einer Einheitsidentität und -ideologie reduziert, und zwar beidseits der Konfessionsgrenzen. Die Konkurrenz der Konfessionen im gleichen geografischen Raum zwingt dazu, das Eigene exklusiv zu bestimmen, es zu normieren und zu uniformieren.“

Damit waren getrennte Wege und Unverständnis für Jahrhunderte vorgegeben. Rahner zitiert aber auch die Dokumente des II. Vaticanums, welche im Zeichen von aggiornamento und ressourcement (Rückbesinnung) die stetige Erneuerung der Kirche zum Programm erheben und ihr eine offene Identität zuschreiben. Sie schliesst mit der Frage, die alle Kirchen angeht: „Wie viel Kontinuität kann sein und wie viel Bruch muss sein, um in seiner sich verändernden Welt seiner Sendung und damit sich selbst wirklich treu bleiben zu können?“

Kardinal Kurt Koch, für die Abschlussveranstaltung eingeladen, spricht gleich eingangs die „Spaltung der westlichen Christenheit“ an, welche statt Feiern ein gemeinsames „Reformationsgedenken“ fordere. Die Reformation sei nicht die einzige Antwort auf die Reformbedürftigkeit der Kirche: Der radikalste Reformer der Kirche, Franz von Assisi, habe sie „keineswegs ohne oder gegen den Papst reformiert …, sondern nur in Gemeinschaft mit ihm“. Das Reformationsgedenken müsse auch Schuldbekenntnis und Umkehr einschliessen. Denn die Kirchenspaltung, die Luther nicht wollte, sei nicht nur ein Versagen Roms, sondern „auch ein Nichtgelingen der Reformation selbst“.

Eine Reform könne nicht das Wesen des zu Reformierenden betreffen. Die Protestanten seien aber andere Typen von Kirchen: Noch mehr als die Lutheraner hätten sich die Reformierten von der „sakramental-eucharistischen und … episkopalen Grundstruktur“ der Kirche, die seit dem 2. Jahrhundert bestehe, verabschiedet.

Der protestantischen Forderung „der gegenseitigen Anerkennung aller vorhandenen kirchlichen Wirklichkeiten als Kirchen und damit als Teile der einen Kirche Jesu Christi“ erteilt der Schweizer Kardinal eine Absage. In der Reformation sei nicht die „Kirche der Freiheit“ geboren worden. „Wir haben vielmehr auf beiden Seiten allen Grund, Klage zu erheben und Busse für die Missverständnisse, Böswilligkeiten und Verletzungen zu tun, die wir uns in den vergangenen 500 Jahren angetan haben.“ Das gemeinsame Reformationsgedenken müsse mit einem solchen öffentlichen Bussakt beginnen.

---------------

«Überwältigende eucharistische Gemeinschaft»

Olav Fykse Tveit zitiert ausgiebig aus ÖRK-Dokumenten der letzten Jahrzehnte. Er betont als eines der grössten Vermächtnisse des 16. Jahrhunderts, dass die Reformatoren „die Bibel zur lebendigen Autorität in den Kirchen“ gemacht hätten. Die Reformation habe auch Vielfalt in kulturellen Kontexten ermöglicht. Zudem ruft Tveit – ohne die Trauer über den erst 1973 auf dem Leuenberg gekitteten Bruch in der Abendmahlsfrage auszublenden – die „überwältigende Vision der Kirche als eucharistische Gemeinschaft“ in Erinnerung: Laien konnten mit den Geistlichen wöchentlich das Abendmahl nehmen (vorher nur jährlich das Brot).

Der Generalsekretär des Ökumenischen Rats, in dem auch die meisten orthodoxen Kirchen mitwirken, bringt deren prinzipielles Nein zu „Reformation“ zur Sprache. Der Leib Christi sei aber zu erneuern. Tveit schliesst mit dem frommen Wunsch: „Das ökumenische Gedenkjahr 2017 sollte demütig, aufrichtig und hoffnungsvoll sein – es sollte fragen, wie das Evangelium uns als Kirchen erneuern und gleichzeitig vereinen kann, und dafür beten, dass dies auch tatsächlich geschieht.“