Werte der Reformation – vergessen und verloren?

Die Reformation hat Westeuropa tiefgreifend geprägt. Werte wie Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit waren grundlegend für die kulturelle und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. An einem Podium des Kirchenbunds am 7. November in Bern beklagte der Clariant-Chef Rudolf Wehrli den Werteverfall und forderte die Reformierten auf, für Ethik zu sorgen.

Mit Rudolf Wehrli bestritten Isabelle Chassot (Bundesamt für Kultur) und der Basler Regierungspräsident Guy Morin das Podium, das sich um die sogenannten Thesen für das Evangelium drehte. In der Runde sassen auch Laurent Schlumberger, Präsident der französischen Protestanten, Christina Aus der Au vom Zürcher Zentrum für Kirchenentwicklung und die Berner Münsterpfarrerin Esther Schläpfer.

Der Gast aus Frankreich hob die Modernität reformierter Spiritualität hervor, nicht ohne Vorbehalte gegen die Überhöhung des Ego («ce qui compte c’est moi») anzumelden. Widerstand sei gut – doch gelte es, in der gesellschaftlichen Polarisierung vermehrt Zustimmung auszudrücken. Die Freiburgerin Isabelle Chassot fragte, wie sich der Protestantismus gegenüber den Megatrends des 21. Jahrhundert (Urbanisierung, Migranten …) positioniere. Wenn Religionsfreiheit 1848 bedeutet habe, die Rechte Nicht- und Andersgläubiger zu sichern, stelle sich heute die Frage, wie der Staat Glaubende schützt.

Glaubensfreiheit und Religionsfrieden
Guy Morin verdeutlichte dies; die Basler Regierung müsse – angesichts von Islamisten – immer mehr religiöse Fragen regeln. Er wünsche kirchliche Stellungnahmen zur Streitfrage, ob der verweigerte Gruss mit der Hand als Folge islamischer Frömmigkeit einzuschätzen und zu schützen sei.

Rudolf Wehrli verneinte die Relevanz der Thesen für Gesellschaft und Wirtschaft: Er sehe keine Anknüpfungspunkte. Der Reformation des 16. Jahrhunderts habe der Westen «unglaublich viel zu verdanken». Sie habe Weltbild, Kultur und Wirtschaft massgeblich geprägt. «Doch diese Werte entschwinden, erodieren, lösen sich zu einem guten Teil auf.» Wehrli vermisst namentlich Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Weil Treu und Glauben heute auf der Strecke blieben, behelfe man sich mit einer «grotesken Verrechtlichung».

Protestantisches Ethos: Rudolf Wehrli.

Leben Werte ohne Glauben fort?
So fragte der Spitzenmanager: «Wie bringen wir es fertig, in einer zunehmend glaubenslosen Welt solche Werte aufrechtzuerhalten?» Die Reformierten hätten da viel beizutragen. Doch in den Thesen würden die enormen Herausforderungen nicht angenommen. Der liberale Staat könne seine Voraussetzungen selbst nicht schaffen, zitierte Wehrli den deutschen Verfassungsjuristen Böckenförde.

Christina Aus der Au meinte, die Schweizer Reformierten positionierten sich durchaus in politischen Debatten, etwa zum Asyl, und lösten damit regelmässig Kontroversen aus. Andererseits konstatierten auch Chassot und Morin in der pluralistischen Schweiz einen Verlust der Wertebindung und ethischen Verankerung, der repères. Dies erfordere die «Suche nach dem, was uns zusammenleben lässt».

Von Christus zeugen
Darauf reagierte der Gesprächsleiter Simon Weber mit der Frage, was die Reformierten falsch machen. Der Gast aus dem scharf laizistischen Frankreich gab zu bedenken: «Die Rolle der Christen ist nicht, der Gesellschaft Werte zu geben, sondern von Jesus Christus zu zeugen.» Auch Zeitgenossen, die gar nichts auf Tradition gäben, seien bereit, auf Zeugen zu hören. Dieses Zeugnis beeinflusse die Gesellschaft und stärke den Zusammenhalt. Darauf sollten die Christen fokussieren.

Christen reden in wirtschaftsethischen Fragen mit: Christina Aus der Au.

Der grüne Politiker Morin vermutet, dass die Reformierten wie seine eigene Partei zu lange auf Schlagwörter gesetzt haben (Gerechtigkeit, Friede, Bewahrung der Schöpfung). Mittlerweile abgegriffen, seien sie in Bezug zu aktuellen Problemen zu setzen. «Sich zurückziehen auf sich selber kann für mich nicht reformierte Haltung sein.»

Bild oben: Das SEK-Podium mit (von links) Rudolf Wehrli, Guy Morin, Isabelle Chassot, Gesprächsleiter Simon Weber, Laurent Schlumberger, Esther Schläpfer und Christina Aus der Au.
(Bilder: Thomas Flügge, SEK)