Pfarrerausbildung in der Kurve

Der Pfarrberuf ändert sich im Umbruch zur postchristlichen Gesellschaft, in der viele Menschen ihre spirituelle Suche autonom gestalten wollen. Pfr. Thomas Schaufelberger, seit 2010 Beauftragter der Deutschschweizer Kirchen für die Aus- und Weiterbildung der Pfarrer, äussert sich im LKF-Interview zur Bedeutung biblischer Geschichten, zum postmodernen Umfeld, kirchendistanzierten Mitgliedern, Experimenten im Pfarramt und dem aktuellen und künftigen Pfarrermangel. Die Kirchen werben neu für den Beruf.

LKF: Was ändert sich in der postchristlichen Gesellschaft für Pfarrerinnen und Pfarrer?

Thomas Schaufelberger: Die Gesellschaft ist zwar sicher postchristlich, aber sie ist sehr wahrscheinlich auch postsäkular. Die moderne Welt mit ihrer aufklärerischen Trennung von Glaube und Verstand verändert sich. Für Menschen wird die spirituelle Suche –- allerdings jetzt nicht mehr auf christliche Konzepte beschränkt -– wieder eher ein Thema, auch für ganz rational denkende Menschen.

Für Pfarrerinnen und Pfarrer ändern dabei grundsätzliche Dinge. Sie können nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass grundlegende christliche Werte und Geschichten bekannt sind. Sie werden deshalb Mission als zentrales Handlungsfeld ihrer Aufgabe stärker akzentuieren, dies mit viel Unternehmergeist, mit Lust am Experimentellen und mit Kreativität.

Gleichzeitig werden sie sich bewusst, dass Wahrheit im christlichen Sinne nur dort entsteht, wo Menschen miteinander in den Dialog treten. Menschen sind selber mündig –- gerade in spirituellen Dingen. Ihre Aufgabe wird also stärker so aussehen, dass sie Menschen ausrüsten und ermächtigen, ihre spirituelle Suche, gemeinsam mit anderen, aufzunehmen. Ganz viele Pfarrerinnen und Pfarrer tun das bereits mit beeindruckendem Engagement.

Sie haben geäussert, dass Pfarrer künftig anschlussfähiger sein müssen für die Lebenswelten der Menschen. Was meinen Sie damit?

Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer für Menschen Räume eröffnen wollen, damit sie auf ihrer Suche Sinn erfahren und im Christlichen neue, heilsame Handlungsmöglichkeiten, dann funktioniert das nur, wenn eine hohe Kompetenz vorhanden ist, sich auf die Lebenswelt von Menschen einzulassen, von ihnen zu lernen, zunächst einmal zuzuhören. Wer das tut, der merkt, dass nicht für alle Lebensstile und nicht in allen Lebenswelten dasselbe Sinn macht. Was brauchen die Menschen, die da sind, wo ich bin? Das ist eine wichtige Frage. Sie muss mit hoher Wertschätzung für die Lebenswelten und Sinnkonstruktion dieser Menschen gestellt werden. Wer innerlich denkt, er wisse mehr vom Glauben als diese -– vielleicht vom Christentum unerreichten -– spirituellen Suchenden, verpasst das Potential, das in der pfarramtlichen Arbeit steckt.

Wie sollen Pfarrer experimentieren? Der Zürcher Kirchenrat strebt reformiertes Profil verstärkt über wiedererkennbare Formen an.

Sie sollen mit Mut und Risikobereitschaft kreativ werden. Ich finde wichtig, dass die Entwicklungen der Kirche, die sinkenden Zahlen nicht in eine depressive Haltung führen und in Untätigkeit münden aus Angst, noch die letzten Verbleibenden zu verlieren. Die Rede von der Stärkung des reformierten Profils gibt es seit sicher zehn Jahren. Die Strategie hat keinen Erfolg gezeigt. Auch in der verstärkten Betonung von äusserlichen Zeichen wie Talar, Kanzel usw. liegt keine Kraft, auch wenn das im ersten Moment so aussieht.

Was die reformierte Kirche stark macht, ist ihre Offenheit gegenüber Lebenswelten der Menschen. Wir sind nicht gebunden an bestimmte Liturgien und Gemeindeformen, sondern können mit Unternehmergeist immer wieder neue Formen von Kirche erkunden und ausprobieren. Überall wo Bewegung und Veränderung ist, gibt es zwar schwierige Entwicklungen, aber immer auch neue Chancen und Handlungsmöglichkeiten. Diese sollten wir mit Abenteuerlust nutzen.

Wie soll die theologische Ausbildung hinführen auf den Umgang mit kirchendistanzierten Menschen, heute die Mehrheit der Mitglieder?

Das Geheimnis liegt in den sogenannten Soft Skills oder den überfachlichen Kompetenzen wie Kommunikations-, Konflikt- und Teamfähigkeit. Theologisch fundiert ist auch ein Akzent bei der Fähigkeit, Menschen wertzuschätzen, wo immer sie stehen und was immer sie glauben und denken. Die hohe Wertschätzung gegenüber Menschen und die daraus abgeleitete Möglichkeit, Menschen zu ermächtigen, selber ihre Sinnsuche zu gestalten und zu Antworten zu kommen. Schliesslich ist auch die radikale Kontextsensibilität schon bei Jesus abgebildet. Er hat je nach Mensch, der ihm begegnet ist, unterschiedlich gesprochen, gehandelt, reagiert. Immer als einer, der eine Botschaft anzubieten hat, immer aber wertschätzend und barmherzig. Die Hauptsache liegt in der Fähigkeit, mit Menschen in eine Beziehung zu treten. Jede Form von Kirche funktioniert, wenn Pfarrer und Pfarrerinnen das können.

Der Reformierten Presse haben Sie gesagt: „"Künftige Pfarrer sollen ein Gespür dafür entwickeln, dass jeder Mensch sein Leben und seinen Glauben selbst organisiert".“ Wollen Sie auch die Fähigkeit bilden, Menschen auf der Höhe ihres Lebens, die sich autonom verstehen, zu treffen und anzusprechen?

Es ist klar, dass Pfarrerinnen und Pfarrer immer auch Botschafter des Evangeliums sind und bleiben. Nur funktioniert das nicht mehr bei allen Menschen, wenn nicht die Sprache und die Form ihrer Lebenswelt angepasst sind. Als einer, der Menschen ermächtigt und ermutigt, ihre Sinnsuche wieder aufzunehmen und darauf zu vertrauen, dass Antworten im Innern dieser Menschen schlummern, wird der Pfarrer oder die Pfarrerin wichtig als eine Person, welche aus der Tradition, aus biblischen Geschichten Impulse und Anregung geben kann und muss. Es geht letztlich darum, die beste Botschaft der Welt weiter zu geben. Pfarrerinnen und Pfarrer haben da viel beizutragen.

Der Konstruktivismus geht davon aus, dass kein Mensch zu etwas gebracht werden kann, wenn er oder sie nicht will -– das gilt besonders für Glaubensfragen. Dogmatische Bekehrungsversuche nützen nichts. Die Methode, Menschen zu bekehren und vom Christentum zu begeistern, ist Anstoss und Irritation mit den Inhalten, die im Christentum zentral sind für das Leben.

Sie streben an, dass Theologiestudium und kirchliche Ausbildung mehr ineinander greifen. Was heisst das? Mehr praxisorientierte Kurse und Praktika während des Studiums?

Es geht darum, die Inhalte der akademischen und der kirchlichen Ausbildung besser aufeinander abzustimmen. Das duale System (Staat/Kirche) hat noch Potential, wenn es besser in einem Gesamtcurriculum koordiniert ist. Wir haben einen grösseren Veränderungsprozess "Gesamtcurriculum" gestartet, der solche curriculare Fragen thematisiert.

Viele angehende Pfarrer sind nicht in der Kirche beheimatet. Wie gross ist ihr Anteil an den Theologiestudierenden in der Deutschschweiz?

Momentan schätze ich die Zahl auf etwa die Hälfte bis zwei Drittel, die nicht in der reformierten Kirche sozialisiert sind. Sie sind in einer anderen Konfession oder gar nicht kirchlich sozialisiert.

Wie beheben Sie das Manko? Inwiefern gehört der persönliche, überzeugte Glaube an Christus zu dem, was Sie erwarten?

Das Lernvikariat und das Ekklesiologisch-praktische Semester schon während des Studiums (das die Kirche anbietet) führen dazu, dass eine Verbindung zur reformierten Kirche entsteht. Eineinhalb Jahre sind zwar nicht viel, aber doch nicht nichts. Durch engagierte Vikariatsleitende erhalten Studierende im Lernvikariat schnell Einblick in alle grundlegenden Handlungsfelder der reformierten Kirche.

In der Ausbildung wird der persönlichen Spiritualität Beachtung geschenkt. Eine Kurswoche zum Thema findet bei Don Camillo in Montmirail statt. Dazu kommen tägliche Andachten in den Vikariatskursen und die persönliche Praxis, zu dem jeder Vikar, jede Vikarin ermutigt wird. Eines der vier zentralen Ziele des Lernvikariats ist, die eigene Spiritualität weiter zu entwickeln. Denn einen persönlichen, erkennbaren Standpunkt im Glauben muss ein Pfarrer, eine Pfarrerin haben.

Sie setzen auf biblische Geschichten als Mittel gegen den Traditionsabbruch. Warum?

Geschichten haben ein paar Eigenschaften, welche rein rationalen Kommunikationsformen überlegen sind. Sie schaffen Identifikation und deshalb Sinn, manchmal auch unbewusst. Eine Geschichte verändert Zuhörende, ein theoretischer Text nicht. Ich glaube, die postsäkulare Welt ist eine Welt, in der Geschichten nach wie vor geliebt werden. Ausserdem hat auch Jesus Geschichten erzählt, um die zentralen Botschaften des Glaubens zu übermitteln. Offenbar ist das Gottesreich, ist Gott selber, ähnlich wie diese Geschichten. Geschichten erreichen ausserdem auch solche, welche die institutionalisierte Sprache nicht mehr verstehen. Eine Geschichte aus dem Neuen Testament verstehen alle.

Lernen angehende Pfarrer, mit Glaubenskursen zu arbeiten?

Im Bereich 'Bildung', der ein zentrales Handlungsfeld des Pfarramts darstellt, wird nebst dem Religionsunterricht auch die Erwachsenenbildung und die Elternbildung thematisiert. Dabei werden auch Glaubenskurse diskutiert und vorgestellt, zum Beispiel Glauben12. Auf der Studienreise besuchen wir ausserdem in London die HTB-Gemeinde, die Heimat der Alphakurse. In den Gemeinden erleben die VikarInnen sehr unterschiedliche Modelle von Glaubenskursen und gestalten sie teilweise selber mit.

Sie haben der Reformierten Presse gesagt, "„dass sich die Attraktivität von evangelikalen Formen, aber auch die des theologischen Liberalismus verbraucht hat"“. Wie meinen Sie das? Was hat sich verbraucht -– und was hat Zukunft?

Die Zeit ist definitiv vorbei, in Lagern zu denken. Das ist moderne Denkweise. In einer postmodernen Welt gibt es keine Lager mehr. In einer postsäkularen Gesellschaft ist die Idee, im pfarramtlichen Handeln möglichst wenig direkt von Gott zu reden und Gott gewissermassen verschwinden zu lassen im Leben, genauso überholt wie die Idee, die ganze Wahrheit zu haben und diese nun für alle Menschen in gleicher Weise und Inhalt weiter zu geben.

Jede Art von ausschliessender Haltung gegenüber Menschen, die den Glauben für sich etwas anders formulieren, ist nicht erfolgreich. Zur Überwindung dieser Lager führt eine Betonung der Mitte. Jesus Christus steht in der Mitte unseres Glaubens. Als Pfarrerinnen und Pfarrer erzählen wir immer wieder von dieser Mitte. Das genügt. Es ist nicht an uns, die Grenze zu definieren, bis wohin jemand dazu gehört, der sich um diese Mitte sammelt.

Wie viele Pfarrerinnen und Pfarrer werden in der Deutschschweiz nach 2020 fehlen, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten?

Es fehlen jährlich etwa 30 Pfarrerinnen und Pfarrer. Momentan etwa zwei bis drei Jahre lang, danach wieder ab 2017, wenn geburtenstarke Jahrgänge pensioniert werden.

Viele Dutzend Absolventen der STH Basel arbeiten in Deutschschweizer Kirchen. Seit 2010 müssen Studierende sie zusätzlich zu den STH-Kursen 132 Credits (mehr als vier Semester) in Basel oder Zürich erwerben, wenn sie ins Pfarramt wollen. Dies schreckt ab. Werden Sie angesichts des Pfarrmangels auf die STH zugehen?

Die Handreichung für STH-Studierende von 2010 ist ein grosser Fortschritt im Vergleich zu einer früheren Situation. Sie ermöglicht ein transparentes, verbindliches Vorgehen für Studierende, welche in den Dienst der reformierten Kirche einsteigen wollen. Wir verlangen von allen Personen, welche in einer anderen konfessionellen Tradition studieren, solche Nachstudien. Dies deshalb weil uns eine solide Grundlage in reformierter Theologie äusserst wichtig ist. (vgl. Leserreaktion unten; Red.)

Wird das Magazin Level 10, das Junge zum Theologiestudium animieren sollte, weiter erscheinen? Was versprechen Sie sich von der Sommerakademie für Gymnasiasten 2013 in Kappel?

Level 10 haben wir eingestellt. Der (finanzielle) Streuverlust ist zu gross. Es lohnt sich bei Gymnasiasten nicht, breite Werbeaktionen durchzuführen. Besser wenden wir uns an jene, die im Bereich der Kirche bereits irgendwo aktiv und engagiert sind (Cevi, Jungleiter, Nachkonf-Projekte, Jugendarbeit, usw.).

Die Sommerakademie für Gymnasiasten ‚'Campus Kappel 2013'‘ verfolgt genau diese Idee. Durch das Aufnahmeprozedere, das eine Empfehlung einer Pfarrperson oder eines Jugendarbeiters beinhaltet, stellen wir sicher, dass 40 Leute aus der gesamten Deutschen Schweiz zusammen kommen werden, die alle bereits eine Affinität zu Kirche und Glauben haben. Sie treffen auf Gleichgesinnte und haben eine Woche lang Gelegenheit zu diskutieren und auszutauschen. Dabei lernen sie hochkarätige Dozenten aus Theologie und Kirche kennen und kommen mit ihnen ins Gespräch. Das Modell habe ich in Atlanta kennen gelernt, als ich dort studiert habe. Die Zahlen aus Atlanta zeigen, dass durch eine solche Form junge Menschen auf das Theologiestudium aufmerksam gemacht werden können. Wir glauben, dass das auch in der Schweiz geschieht.

Pfr. Thomas Schaufelberger (43) leitet seit Sommer 2010 die Aus- und Weiterbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen für die Deutschschweizer reformierten Landeskirchen. Diese haben zu dem Zweck ein Konkordat abgeschlossen. Schaufelberger studierte Theologie in Zürich und Atlanta auf dem zweiten Bildungsweg und war während 10 Jahren Gemeindepfarrer in Stäfa am Zürichsee. Er hat in dieser Zeit ein Nachdiplomstudium in Change Management absolviert und arbeitet auch als Gemeindeberater.

 

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Pfr. Dr. Martin Hohl, 4493 Wenslingen, pensionierter Pfarrer der Evangelisch-reformierten Kirche Baselland und Mitglied des Kuratoriums der STH Basel, hat dem LKF den folgenden Leserbrief zukommen lassen:

Mit Interesse habe ich das LKF-Interview mit Thomas Schaufelberger, dem Beauftragten der Deutschschweizer Kirchen für die Aus- und Weiterbildung der Pfarrer, gelesen. Seine Antwort auf die Frage nach der Zulassung von STH-Absolventen befremdet mich sehr.

- Die ‚'Handreichung für STH-Studierende'‘ von 2010 stellt aus der Sicht der Studierenden eine massive Verschlechterung gegenüber früher dar. Sie als '‚Fortschritt'‘ zu bezeichnen ist zynisch.
- Schaufelberger begründet die Ausgrenzung/Benachteiligung der STH mit der Behauptung, sie stehe „"in einer anderen konfessionellen Tradition"“. Das ist schlicht nicht wahr. Der Gründer war evangelisch-reformierter Pfarrer. Viele Professoren und Studierende sind reformiert. Dutzende von Absolventen arbeiten in den reformierten Landeskirchen. Wahr ist, dass an der STH eine denominationelle Vielfalt besteht: Neben Reformierten unterrichten und studieren auch Lutheraner und Mitglieder verschiedener Freikirchen. Ich habe dies, obwohl selbst aus Überzeugung reformiert, als eine grosse Bereicherung erfahren.

Es wäre meines Erachtens an der Zeit, alte Feindbilder zu überwinden und die STH als vollwertige Ausbildung für die evangelisch-reformierten Landeskirchen anzuerkennen. Setzt sich das Landeskirchen-Forum dafür ein?