Heilsamer Lebensraum
Im Gemeinschaftshaus Moosrain in Riehen bieten Christen seit 2012 Zimmer und Wohnungen an. Sie stehen auch Menschen offen, die Begleitung und Stützung, aber nicht den Rahmen eines Heims brauchen. Während der Single-Kult in der Gesellschaft immer mehr Seelen vereinsamen lässt, setzen die Moosrainer um Thomas und Irene Widmer ein starkes Zeichen für gemeinschaftliches Leben.
Das Diakonissenhaus Riehen betrieb am Moosrain ein Pflegeheim; nun leben gegen 40 Personen in 13 Wohnungen im ruhig und sonnig gelegenen Gebäude, das der Verein Lebensgemeinschaft Moosrain im Baurecht übernehmen konnte. Die Wohnungen auf jeder der vier Etagen sind zu Gemeinschaften zusammengefasst, die von Ehepaaren geleitet werden.
Wie entsteht «heilsamer Lebensraum» – und für wen? Thomas und Irene Widmer-Huber erläutern im Gespräch ihren diakonischen Ansatz. Neben Einzelpersonen und Ehepaaren, die keine Begleitung brauchen, leben im Moosrain vier Männer und Frauen mit Begleitung; dazu steht eine Zwei-Zimmer-Wohnung für Menschen zur Verfügung, die vorübergehend in einer Notlage sind.
Begleitung heisst: wöchentlich ein Gespräch («Alltags-Coaching“) und unter der Woche mehrere gemeinsame Mahlzeiten als Teil der Tagesstruktur, alle zwei Wochen Teilnahme am Gemeinschaftsabend, eine Ansprechperson für Krisenzeiten. «Wir können nur Leute nehmen, die im Alltag für sich sorgen können», erläutert Thomas Widmer, der auch als Spitalpfarrer arbeitet. Das Angebot gilt Personen, die mehr Kontakt und Struktur brauchen, als ein Sozialarbeiter bieten kann, der wöchentlich vorbeischaut, die aber kein Heim mit intensiver Betreuung brauchen.
Geschwächt, doch auf eigenen Füssen
Das fürsorgliche Moosrain-Ambiente kommt Menschen entgegen, die psychisch beeinträchtigt oder lärm- und stressgeplagt, entmutigt oder vom Alltag überfordert sind. Auch IV-Bezügern mit einem geschützten Arbeitsplatz. «Sie dürfen nicht die ganze Zeit hier herumhängen, sondern müssen etwas zu tun haben», sagt Widmer. Für die Bewohner ist es ein Erfolg, es in dieser Wohnform über lange Zeit zu schaffen und nicht in einem klassischen Sozialheim zu leben.
Andere bleiben zwei oder drei Jahre – bis sie ihr Entwicklungsziel erreicht haben. Die Gemeinschaft hat einer leicht depressiven Frau gut getan. «Wir konnten sie stabilisieren; nun wohnt sie wieder allein und kommt noch einmal in der Woche zum Essen.» Das Haus Moosrain nimmt auch Menschen in Krisen oder schweren Übergängen auf. «Ein Arbeitsloser wäre zu schwach für eine unbegleitete WG gewesen. Nach einigen Monaten bei uns kann er es schaffen.» Narzissten und Menschen mit starken Essstörungen werden hingegen nicht aufgenommen.
Auf den vier Etagen des weitläufigen, sorgfältig (mit vielen Vorgaben der Denkmalpflege) renovierten Hauses leben – ohne Begleitung – vier Ehepaare mit elf Kindern, ein Ehepaar, zwei allein erziehende Frauen mit drei Kindern und sieben Singles. Bei ihnen setzen die Verantwortlichen eine christliche Einstellung voraus. Thomas Widmer: «Mit einem eindeutigen Lebensstil sind wir für die Mitbewohner, die Begleitung brauchen, als Gemeinschaft tragfähiger.»
Ort des herzhaften Helfens
In Riehen, zwischen Basel und Lörrach gelegen, markiert das Diakonissenhaus seit 1852 diakonische Präsenz. Der Verein «Offene Tür», dessen Initianten schon zehn Jahre vor der Gründung 1954 in Gelterkinden pionierhaft Strafentlassenen ein Daheim geboten hatten, war jahrzehntelang in der Gefängnisarbeit tätig. Er betrieb 1984-2000 in Riehen das «Fischerhus», eine Lebens- und Therapiegemeinschaft für Drogenabhängige.
Thomas und Irene Widmer, die bei der Offenen Tür ab 1995 mitarbeiteten, bauten in der Folge die diakonische Gemeinschaft «Ensemble» auf. Parallel dazu entstand im Jahr 2010 eine Lebensgemeinschaft. «Mit einem zweiten Ehepaar und einer langjährigen Freundin beschlossen wir, zusammen alt zu werden», sagt er.
Die Lebensgemeinschaft feiert am Freitagabend zusammen mit Mitbewohnern, Freunden und Interessierten aus Riehen und der Region in der geschmackvoll gestalteten Hauskapelle Gottesdienst. Sie gestaltet vierzehntäglich den Gemeinschaftsabend – bewusst unter der Woche, weil die meisten Mitbewohner in eine Gemeinde integriert sind. Widmers gehören zur reformierten Dorfkirche Riehen, Irene Widmer ist Synodale der Basler Kirche.
Wohnmodell mit Gesundheitspreis ausgezeichnet
Unter dem Dach der «Offenen Tür» bieten neben dem Haus Moosrain drei weitere Häuser in Riehen begleitetes Wohnen an. Zwei weitere Hausgemeinschaften sind ebenfalls diakonisch ausgerichtet. Sie gewannen 2012 in Kassel den Christlichen Gesundheitspreis; ausgezeichnet wurde ihr innovatives Wohnmodell: tragfähige christliche Gemeinschaften mit Integration von Menschen mit psychischen Leiden.
Irene Widmer hat erlebt, dass Beziehungen sich als heilsam erweisen können, «wenn wir Menschen mit Lebenswunden aufnehmen und integrieren». Die Gemeindediakonin betont: «Jemand mit einer inneren Wunde ist nicht zuerst ein zu Betreuender. Er kommt als Mensch auf Augenhöhe, mit seinen Möglichkeiten, seinen Gaben und Handicaps. Ich lebe mit ihm zusammen mit meinen Möglichkeiten, Gaben und Handicaps.» Im Moosrain macht jede, was sie kann, jeder, was ihm entspricht. «Wir gehen natürlich miteinander um. Es macht mich glücklich, wenn ein Bewohner ohne Begleitung lange nicht merkt, dass sein Mitbewohner begleitet wird.»
Da sein, wenn es brennt
Irene Widmer weiss, worauf es ankommt: dass sie da ist, wenn es brennt. «Bei denen, die schon lange mit uns leben, sehen wir genau hin, um zu verstehen, wie stabil sie sind und was sie brauchen. Da brennt es recht selten – je nach Phase.» Und wenn es brennt, helfen die Begleitenden, «Jesus zu vertrauen und an seine Ressourcen zu glauben: dass er helfen wird, nachdem er schon eingegriffen hat. Wir machen Mut: Freue dich an dem, was dir heute gelingt! – So stützen wir unsere Bewohner.» Die Gemeinschaft gibt einen Boden, sagt Thomas Widmer. «Wir bieten eine Plattform. Jesus ist es, der wirkt und heilt. Ein heilsamer Lebensraum mit Christus in der Mitte. ‹Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind …› Am Tisch, im Alltag, zwischen Tür und Angel ist er da.»
Wenn die Seele den Trend nicht mehr mitmacht …
Für ihr Modell (Hausgemeinschaften mit einzelnen Wohnungen) konstatieren Widmers zunehmendes Interesse. Weil oder obwohl es dem Trend der Individualisierung zuwiderläuft? Laut Irene Widmer ist es derzeit in, allein zu leben. «Der moderne Single hat eine schöne Drei-Zimmer-Wohnung. Vordergründig will man unabhängig sein. Doch es zeigt sich, dass das Allein-Sein in eine Einsamkeit kippen kann, die der Gesundheit schadet. Die Seele macht den Trend Individualismus irgendwann nicht mehr mit.»
Die Riehener Gemeinschaftleute nehmen in der Gesellschaft eine Vereinsamungs-Epidemie wahr. Dabei zeigt sich: «Wenn du lang allein gelebt hast, suchst du die Gemeinschaft – und gleichzeitig fürchtest du sie!»
Widmers beobachten, dass der Preis der Gemeinschaft manchen Singles als zu hoch erscheint und sie sich nicht mehr darauf einlassen. «Gemeinschaft wird erträumt, ersehnt, aber wenn es konkret wird, weiss keiner, wie sie realisiert werden soll. Dass zwölf Leute zusammenleben, die nicht schon immer Familie waren, dass sie zusammen wohnen und essen, ist für viele unvorstellbar.»
Websites: www.moosrain.net | www.offenetuer.ch