«Miteinander für Europa» in der Öffentlichkeit
Bei Wertedebatten in der säkularen Gesellschaft finden sich Evangelikale und Vertreter der katholischen Kirche regelmässig auf derselben Seite. Nach einer Analyse des deutschen Theologen Reinhard Hempelmann nehmen sie einander neu wahr. Das Netzwerk «Miteinander für Europa» verbindet evangelische und katholische Bewegungen.
Das Netzwerk setzt am Samstag, 12. Mai 2012, in zahlreichen Städten Europas öffentliche Zeichen für Versöhnung, Frieden und ein Miteinander über alte Grenzen hinweg. Die lokalen Veranstaltungen sind per Internet miteinander vernetzt. Ab 17 Uhr wird per Satellit eine Feier in Brüssel übertragen, in der Vertreter der Bewegungen und des öffentlichen Lebens im EU-Raum sich treffen. Das Netzwerk "Miteinander für Europa", seit der Jahrtausendwende entstanden, kristallisierte sich in zwei Kongressen in Stuttgart 2004 und 2007. Es ist inspiriert von der Erfahrung des einen Herrn Jesus Christus und seines Geistes, wie der Koordinator Gerhard Pross am 5. November 2011 an der Schweizer Tagung in Baar darlegte.
Aufbrüche
"Miteinander für Europa" zeigt unübersehbar an, wie viel sich nach dem Zerfall der konfessionellen Milieus in Westeuropa seit 1960 geändert hat. Die römisch-katholische Kirche brach im Zweiten Vatikanischen Konzil 1962-65 auf. Die bibelorientierten, evangelistisch aktiven Protestanten (im angelsächsischen Raum 'Evangelicals') fanden mit der von Billy Graham mitinitiierten Lausanner Bewegung eine gemeinsame Plattform (Lausanner Verpflichtung 1974). Sie bildeten ein weltumspannendes Netzwerk, dessen Schwerpunkt sich rasch aus den westlichen Ländern nach Osten und Süden verschob. Heute stellen sie den dynamischen Teil des globalen Protestantismus dar, wie die siebte Ausgabe des Gebetshandbuchs Operation World eindrücklich belegt.
"Gesinnungsökumene"
Obwohl sich Evangelikale und Katholiken im Kirchenverständnis und vielen Aspekten der Theologie und Spiritualität weiterhin voneinander abgrenzen, kommt es zu Annäherungen, Begegnungen und gemeinsamen Initiativen. Der deutsche Theologe Reinhard Hempelmann verzeichnet in einem Beitrag für die Herder Korrespondenz die Gespräche zwischen dem Vatikan und der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) und spricht von der "Herausbildung einer transkonfessionell orientierten Gesinnungsökumene".
Vielfältige evangelikale Bewegung
Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) für neue religiöse und geistliche Bewegungen in Berlin, geht auf die Vielfalt und je nach Kontinent verschiedenen Profile der Evangelikalen ein. "Die Pluralität des Protestantismus (lutherisch, reformiert, methodistisch, baptistisch, mennonitisch...) spiegelt sich auch in der evangelikalen Bewegung, die in den Ausdrucksformen der Frömmigkeit in mancher Hinsicht vergleichbar ist mit neuen geistlichen Bewegungen, den 'Movimenti', auf römisch-katholischer Seite: Es geht um ganzheitliche Glaubenserfahrung, um religiöse Vergewisserung und Gemeinschaftsbildung in der Pflege flexibler Strukturen
... Die Verantwortung der Laien wird besonders hervorgehoben".
Gemeinsame Anliegen
Für Westeuropa sieht Hempelmann einen "durchaus grundlegenden Wandel" in der gegenseitigen Wahrnehmung. Dieser hängt damit zusammen, dass in der säkularen Gesellschaft die Frage in den Vordergrund getreten ist, "wofür evangelische und katholische Christen gemeinsam öffentlich eintreten können". Sie haben laut Hempelmann "zahlreiche gemeinsame Anliegen entdeckt...: in ethischen Orientierungen, etwa zu den Themen Ehe und Familie, Homosexualität, Lebensschutz am Anfang und Ende des Lebens. Vor allem die Evangelisierung Europas wird als zentrale Aufgabe beiderseits unterstrichen".
Die Bibel miteinander lesen
Dazu kommt ein geistliches Verständnis von Gemeinschaft über Kirchengrenzen hinweg: Während Kontakte von protestantischen und katholischen Kirchenführern fortbestehende Unterschiede deutlich machen, geschieht an der Basis in den Worten von Kardinal Walter Kasper "eine Ökumene des gemeinsamen Lesens und betenden Bedenkens der Bibel als Wort Gottes und als Wegweisung Gottes für unser Leben".
Neue Allianzen und Abbau von Vorurteilen
Der erfahrene Beobachter Hempelmann verschweigt nicht, dass Annäherungen und Koalitionen "in anderen protestantischen und katholischen Milieus Irritationen hervorrufen". Die Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch bestünden "selbstverständlich" weiter. Doch "es ergeben sich neue Allianzen. Die Grenzen der Konfessionen werden relativiert, sie werden durchlässiger. Pauschale Urteile über den stilistisch anders Glaubenden werden korrigiert".