Michael Herbst zur Zukunft der Kirche
Was Gemeinden anpacken und was Kirchenleitungen tun, muss zusammengehen. Der führende deutsche Gemeindeforscher Prof. Michael Herbst wünscht einen Mix von traditionellen Kirchgemeinden – mit guter Erreichbarkeit – und neuen, auch unkonventionellen Formen kirchlicher Arbeit. «Hier lernen Menschen beten. Hier wird nachgedacht. Hier werden Gaben entdeckt und Menschen ermutigt, in ihren Grenzen mit ihren Gaben etwas zu wagen.»
LKF: Sie haben in einem Vortrag gesagt: "Die Kirche Jesu hat Zukunft, aber nicht jede Kirche hat Zukunft". Welche Kennzeichen hat eine zukunftsfähige Kirche?
Michael Herbst: Sie wird zum einen die Kennzeichen haben, die vitale Gemeinden immer gehabt haben: Inspiriert vom Evangelium Jesu werden Gemeinden sich profilieren: in der Anbetung Gottes, in tragender Gemeinschaft nach innen, in engagiertem Dienst und Zeugnis nach aussen. Aber es kommt etwas hinzu: der Mut, flexibel, innovativ, auch riskant mit Strukturen umzugehen und neuen Formen gemeindlichen Lebens Raum zu geben.
In welche Richtung sollen sich die herkömmlichen Volkskirchen verändern?
Ich finde vorbildlich, was der ehemalige Anglikanische Erzbischof Rowan Williams sagte. Er spricht von einer "mixed economy" aus traditionellen Kirchengemeinden, die ihre Stärkung in der guten Erreichbarkeit und der verlässlichen Dienstleistung haben, verwurzelt in einem bestimmten "Kiez", und aus neuen, auch unkonventionellen Formen kirchlicher Arbeit, die sich weit hinauswagen und in Kontexten, für die traditionelle Arbeit nicht mehr sichtbar ist, das Evangelium bezeugen.
Welche evangelischen Traditionen sind erhaltenswert?
Eine Menge! Zum Beispiel dass wir Bildung wichtig finden, eine ernsthafte Auseinandersetzung im Nachdenken über den Glauben und im Bedenken der Zeitfragen, aber auch die grundlegende Ausrichtung unserer Gottesdienste auf das Wort und die Antwort im Gebet und Gesang. Und unsere grundlegende Mission, nicht nur für wenige Fromme, sondern für alle da sein zu sollen.
Bei welchen Veränderungen sollen einzelne Gemeinden vorangehen, und in welchen Bereichen sollten die Kirchenleitungen handeln?
Ich habe gelernt, dass das zusammenspielen muss. Von "oben" kann wenig angeordnet oder einfach "gemacht" werden, was am Ende wirklich lebendig sein soll. Von "unten" kann viel initiiert werden, was dann aber auch Unterstützung und kritisch-loyale Begleitung von "oben" braucht. Ich glaube, es wäre viel gewonnen, wenn sich Kirchenleitungen noch stärker als Ermöglicher und Ermutiger verstünden, die in die kirchliche Landschaft rufen: Wo sind die, die etwas Neues wagen; wir sind da, um Euch zu unterstützen!
Welches Klima braucht eine Gemeinde, wenn sie gesund bleiben will?
Im Kern braucht es ein Klima, in dem Glaube an Jesus froh, stark, nachdenklich und mutig werden kann. Hier lernen Menschen beten. Hier wird nachgedacht. Hier werden Gaben entdeckt und Menschen ermutigt, in ihren Grenzen mit ihren Gaben etwas zu wagen. Hier herrscht Freude an Gott, die sich im Loben und Singen äussert. Hier ist jeder willkommen, auch der, der sein "Päckchen" zu tragen hat oder der anders ist als der gute Durchschnitt.
Was bringt der Glaube an eine unsichtbare Kirche, wenn sichtbare kirchliche Strukturen auseinander brechen?
Für mich die Gewissheit, dass wir zwar durch eine tiefgreifenden und zum Teil auch schmerzhaften Prozess gehen, in dem viel vertrautes Kirchenleben abstirbt, dass aber die Kirche Jesu Christi besteht, neue Formen findet, denn: Auch die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.
Welches sind die wichtigsten Stakeholder eines vitalen volkskirchlichen Gemeindelebens?
Ich glaube, das sind erstens die vielen allgemeinen Priester, zu denen auch die Pastorinnen und Pastoren gehören, dann zweitens die Fernstehenden, die gar nicht wissen, was sie verpassen, und drittens die an den Rand Gedrückten, Flüchtlinge, Armen, Gescheiterten, Gefährdeten, alleingelassenen Kinder - alle, die Christus doch zu sich ruft!
Prof. Dr. theol. Michael Herbst leitet das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung IEEG an der Universität Greifswald.
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