Kirchenaustritt ohne Aufgabe der Konfession

Wer aus der staatlich verfassten römisch-katholischen Kirche austritt, muss nicht den Verzicht auf seine Konfession erklären. Dies hat das Bundesgericht in Lausanne am 9. Juli entschieden, mit Berufung auf die Religionsfreiheit des Einzelnen. Das Urteil ist über den Raum der durchs Kirchenrecht bestimmten römisch-katholischen Kirche hinaus bedeutsam, indem es deutlich macht, wie im säkularen Staat die Justiz zwischen Gläubige und Kirche tritt.

Das Gericht gab einer Frau aus Luzern recht, die aus der staatskirchenrechtlichen Körperschaft austreten und gleichzeitig katholisch bleiben wollte. Das Luzerner Verwaltungsgericht hatte im April 2011 geurteilt, der Austritt allein aus der staatlich verfassten Kirche könne verweigert werden, wenn die austretende Person weiterhin der römisch-katholischen Glaubensgemeinschaft, der Weltkirche, angehören wolle.

Umbruch in der Rechtsprechung
Dem widersprechen die Lausanner Richter, nach einem gegensätzlichen Entscheid noch im Jahr 2002, und heben das Luzerner Urteil auf. Sie halten fest, vom Austrittswilligen dürfe "„nicht ein negatives Bekenntnis zur Religionsgemeinschaft, die er verlassen will, verlangt werden"“ -– denn der damit geforderte „"bekenntnishafte Akt"“ verletze das Grundrecht der Religionsfreiheit. Diese Argumentation hatten die Bundesrichter 2007 bereits angeführt.

Zugehörigkeit zur unsichtbaren Kirche für Staat irrelevant
Im neuen Urteil heisst es, wer aus der Kirche austrete, entledige sich damit der Rechte und Pflichten, "„die er nach staatlichem Recht gegenüber der Kirche hat"“. Ob der Betreffende „"weiterhin einer unsichtbaren oder einer rein nach geistlichem Recht verfassten Kirche"“ angehöre, sei aus staatlicher Sicht nicht relevant. Im Kanton Luzern genüge es, "„wenn sich eine Austrittserklärung auf diese staatskirchenrechtliche Organisation als weltliches Kleid der römisch-katholischen Kirche bezieht"“.

Staatliches Recht nicht nach kirchlichen Vorgaben
Das Lausanner Gericht lehnt das Argument führender katholischer Juristen (Cavelti, Hangartner, Nay) ab, wegen des Ineinanders der geistlichen und staatskirchenrechtlichen Dimension der römisch-katholischen Kirche müsse sich die staatliche Austrittsregelung nach der kirchlichen richten. "„Die Religionsfreiheit garantiert die Austrittsmöglichkeit aus der staatskirchenrechtlichen Organisation -– im Unterschied zum Eintritt –- aus beliebigen Gründen und unabhängig von der innerkirchlichen Ordnung".“

Grenze für kirchliches Selbstbestimmungsrecht
Das römische Kirchenrecht kenne einen Austritt gar nicht, merken die Richter an. So "„steht die Religionsfreiheit der Übernahme der innerkirchlichen Unauslöschlichkeit der Mitgliedschaft entgegen und setzt damit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht notwendigerweise eine Schranke"“. Die Verweigerung des Austritts aus der Staatskirche würde zu einer verfassungswidrigen Zwangsmitgliedschaft für Katholiken führen, die "„möglicherweise auch aus Glaubensgründen"“ diese weltliche Organisation der katholischen Kirche ablehnten.

Beweislast bei Kirche
Ein Austritt ist auch dann zulässig, so die obersten Richter, wenn er allein mit dem Ziel erfolgt, Steuern zu sparen. Das Recht missbrauche jener, der austritt und trotzdem „"die von der Landeskirche finanzierten Leistungen weiterhin uneingeschränkt beansprucht"“. Dies muss aber, so das Urteil, von den kirchlichen Behörden bewiesen werden: „"Sie haben ein Verhalten zu belegen, das auf eine dauernde Absicht des Ausgetretenen schliessen lässt".“

Unterschiede von Kanton zu Kanton
Nach dem Urteil müssen die Schweizer Bistümer mögliche Folgen für die Kirchenmitgliedschaft prüfen. Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) selbst werde zu der Entscheidung keine Stellungnahme abgeben, sagte ihr Sprecher Walter Müller der Presseagentur Kipa. Grund sei die unterschiedliche Rechtslage in den einzelnen Kantonen und Bistümern. „"Was das neueste Urteil jetzt im Detail bedeutet, muss jedes Bistum für sich genauer analysieren".“

Im Kirchenrecht verankerte Pflicht
2009 nahmen die Schweizer Bischöfe vom damaligen SBK-Generalsekretär und heutigen Basler Bischof Felix Gmür ausgearbeitete Empfehlungen zur Kenntnis. Die "„Empfehlungen zum Umgang mit Personen, die aus der staatskirchenrechtlichen Körperschaft austreten und erklären, dennoch katholische Gläubige bleiben zu wollen"“ betonen, dass die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche nicht nur ein spirituelles Geschehen ist, sondern stets auch eine materielle Seite hat. Sie rufen die im Kirchenrecht (Art. 222.1) verankerte Pflicht der Gläubigen in Erinnerung, "„für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten"“. Der Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Institution entbinde nicht davon, „"die Kirche auch weiterhin materiell zu unterstützen"“.

Die römisch-katholische Kirche weist eine Doppelstruktur auf: Die Weltkirche wird nach kanonischem Recht geleitet vom Papst und den Bischöfen; in der Schweiz geniesst die katholische Kirche Anerkennung nach kantonalem Staatskirchenrecht, mit demokratischen Regelungen. Die evangelischen Kirchen kennen diese Doppelung nicht.