Kirche unterwegs zu Lebenswelten
Soll das Evangelium die Menschen treffen, so muss die Kirche ihre diversen Lebenswelten ernst nehmen. Je nach Milieu haben Schweizer unterschiedliche Zugänge zum Glauben, unterschiedliche Erwartungen auch an die Kirche. Die Zürcher Landeskirche gibt der Sinusstudie zur Vielfalt der Milieus im Kanton eine Orientierungshilfe bei. Die beiden Bände wurden am 4. Oktober in Zürich den Kirchgemeinden und Landeskirchen übergeben.
Die Befunde der Milieustudie, die die Zürcher Landeskirche und der Verband der Stadtzürcher Kirchgemeinden 2011 erstellen liessen, sollen den Kirchgemeinden helfen, bei den Leuten zu sein. Die reformierte Kirche sei nur in zwei von zehn Milieus wirksam präsent, fanden die Marktforscher des Sinus-Instituts. Wie hoch man den Erkenntniswert der erstellten Studie und ihren Nutzen für kirchliche Gemeindearbeit auch einstuft – klar ist, dass mit Säkularisierung und Individualisierung stärker unterschiedene Lebenswelten mit sinnstiftender Eigendynamik entstanden sind.
"Kirche für alle" - das war einmal
Die Menschen in jedem dieser Milieus ähneln einander in Lebensstil, Einstellungen und Religiosität mehr, als sie meinen – und sie heben sich von anderen Milieus zu stark ab, als dass die Volkskirche einfach wie bisher als „Kirche für alle“ weiter machen könnte. „Näher, profilierter, vielfältiger“ – so der Slogan der beiden Bände – soll die Kirche werden. Mit dem neuen Druck auf die Kirchgemeinden, sich zusammenzuschliessen, will die Zürcher Landeskirche weitere Anreize schaffen, Milieus durch Profilierung anzusprechen.
Fundgrube für die Gemeindeentwicklung
Die 200-seitige grossformatige „Orientierungshilfe“ leitet zur Verwendung der Studie an, die bald ein Jahr nach ihrer Präsentation endlich in Buchform erscheint. Der Begleitband leistet aber einiges mehr, indem er sie unterlegt mit Zusammenfassungen und diversen ergänzenden Informationen, theologischen Überlegungen und Milieuschilderungen.
Mitherausgeber Matthias Krieg (Bild), theologischer Sekretär der Zürcher Landeskirche, empfiehlt, Studie wie Begleitband gezielt wie ein Lexikon zu lesen – etwa bezogen auf ein oder zwei Milieus. Jede Kirchgemeinde habe bestimmte Milieus, denen sie Aufmerksamkeit schenken sollte, um bei den Leuten sein. Der übersichtliche Aufbau der Orientierungshilfe mit zahlreichen Querverweisen erleichtert die spezifische Lektüre. (Interview mit Matthias Krieg zu den Lebenswelten und wie sie die Kirche herausfordern)
"Grenzen zum Mitmenschen überschreiten"
Den Rahmen des Begleitbands setzen Michel Müller und Gottfried Locher, die Präsidenten des Zürcher Kirchenrats und des Schweizer Kirchenbunds, mit theologischen Erwägungen. Müller schreibt: „Kirche wird erst dann zur Gemeinschaft, zum Leib Christi, wenn sie die Menschen in ihrer je eigenen Lebenswelt anspricht und sie motiviert, ihre Grenzen zum Mitmenschen zu überschreiten und die Erfahrung der Liebe zu machen.“
Die Studie leite Verantwortliche an, sich in die Wohnzimmer und an die Lebensorte der Mitglieder zu begeben, um mit ihnen gemeinsam nach dem Evangelium zu fragen. Sie helfe, „Grenzen zu erkennen, um sie zu überschreiten“.
Für Müller ist klar: „Auch wenn eine Lebensweltperspektive zu mutigen, überraschenden und auch neuartigen Formen von kirchlicher Gemeinschaft führen kann und soll, so muss die Verbindung zur Kirche als ganzer hergestellt werden oder gewahrt bleiben.“ Gemeinschaften, die sich aus einer Lebenswelt ergäben, müssten sich „aufgrund des Wortes Gottes gegenseitig befragen und verantworten lassen“.
"Vielfalt entfaltet das Eine"
Gottfried Locher unterstreicht im Interview, das den Begleitband abrundet, für die Kirche zähle künftig vermehrt die Substanz. „Vom Evangelium hängt unsere Glaubwürdigkeit ab. Und von der Glaubwürdigkeit unsere Zukunft.“ Zum Titel der Bände „Näher, vielfältiger, profilierter“ gibt der SEK-Präsident zu bedenken, dass viele Schweizer heute nicht mehr die Nähe suchen. Sie „fahren weiter weg in den Gottesdienst, eben dorthin, wo sie sich wohlfühlen“.
Allerdings sei Profil ohne Einheit schlecht vermittelbar. „Es geht in der Kirche nicht nur um Vielfalt, sondern um Vielfalt in Einheit … Vielfalt entfaltet das Eine. Dieses Eine gilt es neu zu entdecken.“ Menschen seien uneins, hätten ihre eigenen Ziele. „Nicht so als Kirche: hier sind wir eins – eins in Christus, wie die Bibel das nennt. Einheit wird dann erkennbar, wenn der eine Christus in unserer Vielfalt erkennbar wird.“
Glaubwürdigkeit hängt nicht mehr an Autoritäten
Matthias Krieg, der die Arbeiten zum Band koordiniert hat, steuert zur theologischen Fundierung „50 lebensweltliche Sätze“ bei, die der „traditionsgeleiteten Institution“ Kirche den Perspektivenwechsel erleichtern sollen. Auszugehen ist von vier Grundtatsachen der Postmoderne: dass Glaubwürdigkeit nicht mehr an Autoritäten hängt, sondern an Netzwerken, dass Informationen und Kontakte (fast) allen offenstehen, dass Mobilität „vielen zugänglich macht, was einst nur wenige erreichen konnten“, und dass viertens die Autonomie „Lebenssinn und Lebensführung ganz dem Einzelnen zuweist“. Die Kirche „ist, ob sie es will oder nicht, längst am Markt“.
Matthias Krieg bezieht diese Grundtatsachen auf die vier Handlungsfelder der Zürcher Kirche und fordert: „Die erlebbare Kirche, die kommt, kann nicht die erlebbare Kirche sein, die geht!“ Ralph Kunz, der an der Uni Zürich Gemeindebau lehrt, schliesst ekklesiologische Überlegungen an, während Thomas Schlag, Mitherausgeber der Orientierungshilfe, eine praktisch-theologische Grundlegung und praxisnahe Checklisten liefert.
Eigene Lebenswelten – nicht nur in Zürich
Wer den Befunden der qualitativen Sinus-Studie, die aus Interviews mit 100 ZürcherInnen schöpft, nicht vollen Glauben schenken mag, kann sich in die Steckbriefe der zehn Milieus vertiefen. Krieg hat aus anderen Sinusstudien ergänzende Informationen zusammengetragen (nach CH und D aufgeschlüsselt). Da findet sich pro Lebenswelt eine Fülle von Angaben: zu Grunddaten, zum Lebensstil (beginnend mit dem ‚Hausaltar‘) und zur Religion. Weiter bietet der Band die Milieu-Grafik der Metropolitanräume Basel, Bern und Zürich und der Zürcher Bezirke sowie mehrerer Nachbarländer – zur Verortung der Schweiz im europäischen Kontext.
Gemeindeentwicklung regional abstimmen…
Schritte der Gemeindeentwicklung erörtert der Mitherausgeber Roland Diethelm. „Regional muss koordiniert werden, was sich lokal entwickeln soll“, fordert der Pfarrer und neue Gottesdienstbeauftragte der Landeskirche. „Nicht der episkopale Solist, sondern das Team in episkopaler Verantwortung und der Lebenswelt-Angehörige in seiner Mitte bilden die Avantgarde der Entwicklung.“ Diethelm sieht voraus, dass „Territorialität an Bedeutung verlieren und Vitalität an Bedeutung gewinnen“ wird. Die Kirche solle sich mit „Lebensstilexperten“ versehen. Diese seien ein Schlüssel zu milieusensibler Gemeindeentwicklung.
Die Sinus-Milieus berücksichtigt auch das öffentlich-rechtliche Schweizer Fernsehen. Die SF-Frau Irmtraud Oelschläger ordnet seine Sendungen lebensweltlich zu. Im selben Kapitel lädt der Band dazu ein, Lebenswelten in Zürichs Restaurants und auf Plätzen der Stadt zu studieren. Marcel Cavallo: „Auf dem Idaplatz treffen sich Experimentalisten, Moderne Performer und Eskapisten.“ Lustvoll provoziert Matthias Krieg mit Bibelstellen für jedes Milieu: Er nennt je drei, die ihm entgegenkommen, und eine, die es ärgert.
...aus Erfahrungen anderswo lernen...
In der Praxis werden Kirchenpflegen auch die „Leitfragen für eine gelingende Projektentwicklung“ studieren wollen. Sie finden anschliessend Adressen von Beratern und Verzeichnisse von Büchern und Websites. Den Band runden Lebenswelt-Blicke über die Grenze (u.a. Dörfer im Bistum Basel, katholisches Luzern), Überlegungen zu milieusensibler Jugendarbeit (Andrea Meier), Gedanken zur Erwachsenenbildung in mittelständischen Lebenswelten (Christian Randegger) und Stadtzürcher Perspektiven für Stadtakademie und Kulturkirche ab. Last but not least schildert Sabrina Müller Besuche bei sechs „fresh expressions“ in der Church of England. Fazit: „Auch eine traditionelle Volkskirche ist imstande, mehr als nur zwei bis drei Lebenswelten anzusprechen, sofern sie das Neue, manchmal ebenso Freche wie Frische zulässt.“
…und Neues mit den Menschen angehen
Matthias Krieg und die Mitautoren der Orientierungshilfe haben keine Mühe gescheut, um den Reformierten hierzulande das Eingehen auf die Milieus schmackhaft zu machen. Er hofft, dass sich die Kirchenpflegen mit dem Arbeitsinstrument ausrüsten und es langfristig einsetzen. „Wir haben praktische Hinweise gegeben – aber vor Ort muss mit den Menschen und nicht für sie die Lösung entwickelt werden. Die Gemeinde steht vor der Aufgabe, mit den Leuten unterwegs zu sein. Das kann dauern.“
Interview mit Matthias Krieg zu den Lebenswelten und wie sie die Kirche herausfordern
Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft
Näher, vielfältiger, profilierter
Band 1: Sinusstudie
Band 2: Orientierungshilfe
Hrsg: Matthias Krieg, Roland Diethelm, Thomas Schlag
TVZ, Zürich 2012
IBSN 978-3-290-17646-4
Preis für beide Bände: 90 Franken