Kirche in Behandlung
Wie kommt der Patient Kirche auf die Beine? Der deutsche Gemeindeforscher Michael Herbst plädiert für die Stärkung von lokalen Gemeindekernen, für lebendiges, mündiges Christsein und eine Anpassung des Pfarramts an neue Gegebenheiten. Der Beruf des Pfarrers sei unverzichtbar für die Verkündigung, doch könnten andere in der Kirche fast alles andere übernehmen.
Im Gespräch mit dem Gemeindeaufbau-Magazin 3E räumt der Greifswalder Theologieprofessor ein, dass die Landeskirche «in einer grossen Transformationskrise steckt». Was er für Deutschland formuliert, dürfte auch südlich des Rheins zutreffen: «dass wir im Übergang sind von einer Institution, die als Volkskirche die Kultur eines Landes sehr lange geprägt hat, hin zu einer öffentlichen Minderheitenkirche mit missionarischem Auftrag». Die Institution, so Herbst, «muss sich umbauen, aber auch in ihr erweist sich die Kirche als Leib Christi … als sehr vital».
Pastorenkirche geht nicht mehr
Nach der EKD-Synode von 1999, die Mission zum Thema machte, nimmt «die kirchenweite Sympathie für die Glauben weckende Verkündigung» eher wieder ab. Deutlich weniger Theologiestudenten bedeuten zudem, dass die deutschen Landeskirchen das Modell Pastorenkirche hinter sich lassen müssen. Viel mehr zu fördern ist «lebendiges, mündiges Christsein der Getauften vor Ort». Herbst ist überzeugt: «Die Rolle der Pfarrer muss sich wandeln vom örtlichen Hirten und guten Nachbarn hin zum ‹regionalen Bischof› und zum Begleiter gemeindlicher Prozesse.»
«Lokale Gemeindekerne fördern»
In Ostdeutschland sind die Christen vielerorts eine kleine Minderheit. Herbst: «Solange wir Kraft haben, wollen wir umsteuern und die lokalen Gemeindekerne fördern, überall, wo auch nur die leiseste Bereitschaft und Freude in einem Ort … ist.»
Dem EKD-Impulspapier «Kirche der Freiheit» von 2006 hält Michael Herbst zugut, dass es Mut machte, Strukturen zu verändern und neue Ausdrucksformen von Kirche zu wagen. Doch sieht er auch die «Versuchung des Technokratischen»: Handwerk und Mut zur Innovation seien erforderlich; zugleich aber hätten Christen zu beten, im Wissen, «dass nicht wir die Kirche bauen, sondern dass es das Werk des Geistes ist und dass wir ihm (nur) zur Hand gehen».
Zuständigkeiten verteilen
Der Pfarrerberuf ist für die Kirche unverzichtbar. Seine Schlüsselstellung habe ihren Grund in der Entscheidung der Reformatoren, «die öffentliche regelmässige Verkündigung des Evangeliums (und die Sakramente) an eine besondere Ausbildung und Berufung zu binden». Doch, so Herbst, gibt es andere mit derselben Berufung, etwa Prädikanten, «und für vieles, wenn nicht nahezu alles andere, können auch andere in der Kirche zuständig sein».
Der Theologe rät nach Epheser 4, den Pfarrberuf auf die öffentliche Wortverkündigung und die Zurüstung der Gemeinde, seine ursprüngliche Aufgabe, zu konzentrieren. Not tut weiter «eine Mentalitätsveränderung auf allen Ebenen weg von der Pfarrerzentrierung hin zu einem mündigen, lebendigen Christsein vor Ort». Das Pfarramt werde in ländlichen Gebieten zunehmend regional werden.
Kasualien und missionarische Vorstösse
Ihren distanzierten Mitgliedern soll die Kirche «so freundlich und einladend wie möglich zeigen, was sie verpassen, wenn sie nicht intensiver in Kontakt mit dem Evangelium und der der Gemeinde kommen». Liberale sollten Mission nicht geringschätzen, missionarisch Gesinnte Kasualien nicht. Und alle bei Kontakten im Umfeld von (sorgfältig gestalteten) Kasualien aufmerksam sein, ob für mehr von Kirche Offenheit besteht – «dass wir als Gemeinde eine Sehnsucht bekommen, dass die Menschen, die doch getauft sind, auch das ausschöpfen, was ihnen mit der Taufe gegeben ist».
Komm- und Geh-Strukturen
Aus Greifswald, wo Michael Herbst vor 15 Jahren einen Sucher-orientierten niederschwelligen Gottesdienst mitinitiierte, berichtet er, man habe seither 50 Menschen getauft, Hauskreise gebildet, Glaubenskurse angeboten «und irgendwann mit einem regelmässigen Sonntagsgottesdienst angefangen». Zudem sind im Plattenbaugebiet 13 WGs entstanden mit jungen Christen, die ihren Nachbarn dienen. Kirche brauche beides, sagt Herbst: Veranstaltungen (Komm-Struktur) und Beziehungen. «Veranstaltungen verhungern ohne Beziehungen, Beziehungen überfordern sich, wenn sie alles auf dem Weg zum Glauben (und in die Gemeinde) allein leisten sollen.»