Mission: «Sei der Wandel, den du sehen willst»

Integrale Mission zielt auf Gemeinschaft – auf ein von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erfülltes Zusammenleben. Die fünfte globale Konsultation des Micah Network fand vom 9.-14. September in Thun statt. 330 Vertreter von Hilfswerken, Missionen und Kirchen diskutierten, wie Mission im Zeichen der Herrschaft von Jesus über die Schöpfung in verschiedenen Kontexten zu gestalten ist. Den roten Faden der Woche bildete der Appell, das Evangelium nicht nur verantwortlich weiterzusagen, sondern auch durchgängig und glaubhaft auszuleben.

Die Thuner Schlusserklärung des 2001 gegründeten Netzwerks zeugt vom Bemühen, Mission umfassend zu begründen und mit irdischer Bodenhaftung zu versehen: „Alle örtlichen Gemeinden sind gerufen, mit Gott in der Transformation der Welt zusammenzuarbeiten durch die Proklamation und Demonstration des Evangeliums.“ Statt von Evangelisation ist vom Prozess die Rede, durch den Menschen aus allen Völkern Jünger von Jesus werden. Die Identität der Jünger ist durch den Tod und die Auferstehung von Jesus bestimmt und sie „lernen den Gehorsam des Glaubens in allen Belangen des Lebens“. Durch die Kraft von Gottes Geist stellt die Kirche den „Beginn einer neuen Menschheit“ dar. Jesus bezeugt sie in ihrem Sein, Tun und Reden.

Gott liebt und fordert Gerechtigkeit. Laut der Erklärung provoziert das Unrecht in der Welt Gottes gerechten Zorn. Gerechtigkeit fordert Handeln auf persönlicher und auf struktureller Ebene. Der schreiende Gegensatz zwischen Armut von Millionen und extremem Luxus und Verschwendung weniger wird beklagt und Busse über „unserem unentschuldbarem Schweigen“ gefordert. Doch sollen Christen nicht aus Schuldbewusstsein, Zwang oder Wut handeln – was zu oft geschehe. „Wir sehnen uns danach, in der Erkenntnis unseres liebenden und barmherzigen Vaters zu wachsen, so dass unser Leben und Dienst aus Gottes Barmherzigkeit herauswächst und sie spiegelt.“

Das Netzwerk unterstreicht die Bedeutung des gegenseitigen Zuhörens und Lernens und des Teilens von Ressourcen. Beziehungen sind über Projekterfolg und Effizienz zu stellen. Die Micah-Leute kritisieren die theologische Ausbildung westlichen Zuschnitts im Ansatz. Sie müsse Herz und Willen ebenso wie den Intellekt einbeziehen, alle Menschen Gottes als Gemeinschaft zum Lernen führen, alltagsbezogen und auf konkrete Umstände ausgerichtet sein.

„Würden wir gehorchen, sähe die Welt anders aus“
In der Anlage und Moderation der Konsultation, die alle drei Jahre auf einem anderen Kontinent stattfindet, war keine westliche Dominanz festzustellen. Keine Gruppe drückte den Sitzungen allein den Stempel auf. Redner aus dem globalen Süden setzten die Akzente. Der indische Theologe CB Samuel, einer der Väter des Netzwerks, brachte am 14. September die Micah-Stossrichtung auf den Punkt. „Unser Problem ist nicht, dass wir nicht wissen, sondern dass wir nicht gehorchen. Wenn wir auch nur wenig wüssten und gehorchten, sähe die Welt anders aus.“

Wenn die Christen täten, was Gott wolle, lernten sie seine Absichten besser verstehen. Jesus sei bei seiner Verkündigung vom Sehnen der Menschen nach einem Eingreifen Gottes ausgegangen. „Unser Evangelium ist nicht mit den Hoffnungen und Träumen der Menschen verbunden.“ Wenn so vieles im Argen liegt, dann deshalb, „weil wir Christen der Welt Gottes Charakter nicht kundgetan haben“. Gott fordere Gerechtigkeit – die Christen müssten fähig werden, dies öffentlich zu artikulieren, sagte Samuel. Oft würden sie als Humanisten verstanden, weil sie sich scheuten, Gottes Anspruch zu vermitteln. Botschaften in den vier Wänden der Kirche genügten nicht. “Die Welt muss wissen, dass wir einen Gott haben, der sich kümmert.“

Bisher erscheine christliche Hilfs- und Entwicklungsarbeit in säkularer Fachliteratur nicht einmal in den Fussnoten, bemerkte Samuel selbstkritisch. „Wir reden so, dass man unsere wahre Identität übersieht.“ Mutter Teresa nannte der indische Sozialaktivist eine grandiose Ausnahme. Sie habe keinen Zweifel an ihrer von Jesus gegebenen Motivation gelassen. Für die Theologie, wie sie im Westen gelehrt und geübt wird, hatte CB Samuel kein gutes Wort: Er erneuerte seine Forderung nach einem Moratorium.

„Ethische Evangelisation“
Als wegweisend erachteten Teilnehmende die Thesen über ethische Evangelisation, die Elmer J. Thiessen vorlegte – ein heisses Eisen, da missionarischen Christen oft unterstellt wird, Empfänger von Hilfe mit Druck „bekehren“ zu wollen. Das Verhältnis zwischen Evangelisation einerseits und Entwicklungshilfe und Sozialarbeit andererseits beschäftigt das Micah Network seit seiner Gründung 2001. Die Grundsatzerklärung band damals die beiden Aspekte zusammen: „In der integralen Mission hat unsere Proklamation (des Evangeliums; Red.) soziale Konsequenzen, indem wir Menschen zur Liebe und zur Umkehr in allen Lebensbereichen aufrufen. Und unser sozialer Einsatz hat evangelistische Konsequenzen, indem wir von der verwandelnden Kraft von Jesus Christus Zeugnis ablegen.“

Thiessen hielt in Thun fest, die Verbindung von Evangelisation und sozialem Engagement stelle das Ideal dar und die beiden durchwirkten sich gegenseitig. Doch könnten sie im Kern getrennt werden; umso wichtiger sei die Balance, welche Christen „insgesamt und auf lange Sicht“ zwischen den beiden Aspekten ihrer Mission halten müssten. Ein (einseitiges) Engagement für soziale Gerechtigkeit sei im Auftrag von Jesus begründet, die Armen zu speisen und gegen Armut und Ausbeutung zu kämpfen. Und wenn nur dies geschehe, sagte Thiessen, trage es doch mittelbar zur Evangelisation bei, denn die Hilfsempfänger würden irgendwann die christliche Motivation erfassen. „Christliche Hilfsorganisationen leisten nicht Hilfe an Bedürftigen, damit sie evangelisieren können, sondern weil es ihre christliche Berufung ist, ihnen unter die Arme zu greifen.“

Thiessen bedauerte, dass Christen im Lauf der Kirchen- und Missionsgeschichte gegen christliche Grundsätze verstossen haben, und formulierte Leitlinien für ethische Evangelisation. Einige Punkte:
- Die Würde von Hilfsempfängern ist zu wahren, auch ihre gemeinschaftliche Identität ist zu achten.
- Das Evangelium ist in ganzheitlicher Sorge für den Menschen zu vermitteln. Es genügt nicht, nur seine Seele im Blick zu haben.
- Im Bild Gottes geschaffene Menschen sind frei, auf das Evangelium einzugehen oder es abzulehnen. Evangelisation hat ohne psychologische Manipulation zu geschehen. Sind Menschen schwach oder verletzlich, ist besondere Zurückhaltung geboten.
- Demut sollte den Evangelisten oder Helfer auszeichnen. Er darf seine starke Stellung nicht ausnutzen, um Ziele mit Drängen zu erreichen.
- Hilfsempfängern soll klar gemacht werden, dass sie Hilfe bekommen, auch wenn sie eine Entscheidung für Christen ablehnen.
- Missionare und Helfer haben die Wahrheit zu sagen, ihre Motive offenzulegen und Täuschung zu vermeiden.
- Andere religiöse Gruppen haben dasselbe Recht zu evangelisieren und Hilfe zu leisten. Niemand soll in einem der beiden Bereiche das Monopol anstreben.

Praxisbezogener Austausch
Sheryl Haw, Direktorin des Micah Network, zog eine positive Bilanz der Thuner Konferenz. Der globale Austausch sei praxisbezogen verlaufen und habe aufs Handeln gezielt. „Wenn wir wissen, ohne zu handeln, betrügen wir uns selbst. Was ist Gottes Herz für Gerechtigkeit, für Mitmenschlichkeit – und welchen Gehorsam erwartet er von uns als Antwort auf seinen Ruf?“ Sheryl Haw hofft, dass die inspirierenden Tage in Thun ein Handeln bewirken. „Du kannst überzeugt sein – aber dann kommt es darauf an, dass du dich entscheidest etwas zu tun!“ Haw verwies auf die Schlusserklärung, welche die Teilnehmenden und die christliche Öffentlichkeit mit präzisen Fragen zum Handeln auffordert. „Be the change you want to see”, hiess es auf einem Banner: “Sei der Wandel, den du sehen willst.”

Die in Simbabwe aufgewachsene Tagungsleiterin dankte den Schweizern Gastgebern. 90 Familien nahmen Gäste auf, was die Kosten ermässigte. Manche Teilnehmende aus Übersee sprachen in Gemeinden, einige trafen Parlamentsabgeordnete. Haw: „Wir wollten nicht herkommen und gleich wieder abreisen (hit and run), sondern die Schweiz spüren lassen, was wir empfinden.“

Unangenehme Facetten der Korruption
Joel Edwards, Leiter der mit dem Netzwerk verbundenen Micah Challenge-Kampagne, lobte den Spirit der integralen Mission, der in Thun spürbar gewesen sei. Micah Challenge – in der Schweiz StopArmut 2015 – ruft Christen zum Einsatz zugunsten der Armen auf. Im Oktober 2013 will man weltweit Korruption anprangern und Auswege aufzeigen. In Thun konnte Edwards die Kampagne vorstellen.

Mission und Verantwortung für die Schöpfung
Der gebürtige Argentinier René Padilla gehört seit der historischen Konferenz in Lausanne 1974, in der sich missionarische Christen aus der ganzen Welt verbanden, zu den prägnanten Köpfen der evangelikalen Bewegung. Der beinahe 80-jährige Theologe wird nicht müde zu betonen, „dass das bisherige Verhalten der reichen Länder und die Armut im Rest der Welt zusammenhangen“. Evangelische Christen hätten sich zu lange auf die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen konzentriert – doch bräuchten diese „auch Essen, Wasser und ein Dach über dem Kopf und Weiteres“. In den bald 40 Jahren seit der Konferenz (die Lausanner Verpflichtung von 1974 hielt im 5. Artikel die soziale Verantwortung der Christen fest) hat sich, so Padilla, Grundlegendes verändert. „Unsere Mission ist ganzheitlich. Das Reich Gottes schliesst die gesamte Schöpfung ein, alles Leben, und zielt auf Gerechtigkeit und Frieden.“

Dank und Kritik an der Schweiz
Die Schweizer Veranstalter mussten sich wegen der Ungerechtigkeiten im globalen Finanzsystem einiges anhören. Marc Jost von der Evangelischen Allianz: „Es war unmöglich, nicht darüber zu reden. Was haben wir Christen unternommen, um ungerechte Strukturen zu korrigieren?“ Jost will die Anliegen des Netzwerks vermehrt in die Schweizer Kirchenlandschaft tragen. Markus Dubach, Schweizer Leiter der Überseeischen Missionsgemeinschaft ÜMG, schätzte den globalen Austausch unter Leitern von Kirchen, Missionen und Hilfswerken. „Wir hörten bewegende Berichte von dem, was Gott auf anderen Kontinenten tut.“

Die Verkündigung des Evangeliums zielt auf Gerechtigkeit – dies ist gemäss Dubach auch in Politik und Gesellschaft zu vertreten. „Wir setzen uns für Gerechtigkeit ein, aber nicht allein um ihrer selbst willen, sondern weil Gott so ist und sie zu unserem Wesen gehört. Wir sind Vertreter eines Gottes, der gerecht, liebevoll und barmherzig ist – und dies in Demut.“ Die Stossrichtung der Konsultation fasste der ÜMG-Leiter zusammen: „Seid mutiger im Evangelisieren – und habt die Augen offen für Nöte um euch herum. Und kombiniert das.“

Papers der globalen Micah-Konsultation in Thun
Referate der Konsultation in MP3 (Download-Bereich rechts)