Hoffnungsvoller Blick aufs gute Leben
Für ihre Erneuerung bedarf die Theologie einer klaren Vision des «guten Lebens», die einladend vorgestellt wird. Die Bibel spannt den Bogen vom Garten des Friedens zur vollendeten Stadt, vom Paradies zum neuen Jerusalem, in dem Gott selbst bei den Seinen wohnt. Wie die Theologie in diesem Rahmen kraftvoll betrieben und für Kirche und Gesellschaft relevant werden kann, legte Miroslav Volf an den Freiburger Studientagen vom 12. bis 14. Juni dar. Er befragte auch die Resonanz-Theorie, die Hartmut Rosa vorstellte.
Prof. Miroslav Volf von der Universität Yale wurde seiner Reputation als Theologe, der die grossen Fragen auf den Punkt bringt, in seinen Vorträgen erneut gerecht – auch wenn es diesmal, anders als 2015, nicht so sehr um den Auftritt im öffentlichen Raum ging. Die Erneuerung der Theologie ist das Ziel eines Buchs, das er zusammen mit Matthew Croasmun, Mitarbeiter an seinem Yale Center for Religion and Culture, geschrieben hat.
Die deutsche Übersetzung «Für das Leben der Welt» wurde am 12. Juni als «Manifest zur Erneuerung der Theologie» vorgestellt.* In seinen Vorträgen nannte Miroslav Volf Symptome des Verfalls der Theologie und skizzierte die Ratlosigkeit in säkularen Gesellschaften. Als Weg zu einem Neuanfang der Theologie und zur Wiedergewinnung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung schlug er die Konzentration auf das «gute Leben» vor.
Warum Theologen nicht mehr gehört werden
Die Theologie hätte «Visionen des erfüllten Lebens im Lichte der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus» zu erkennen, zu artikulieren und zu verbreiten, schreiben Volf und Croasmun. Doch sie habe sich verirrt und sei weithin unfähig, normative Fragen anzugehen. Erfülltes, «flourishing» Leben sei unter drei Aspekten theologisch zu erkunden: «was es bedeutet, dass unser Leben gut verläuft, dass wir es richtig führen und dass es sich richtig anfühlt» (agency, circumstances, emotions).
Diese Vision gründet laut Volf darin, dass Gott die Welt zu seiner Wohnung machen und bei seinen Geschöpfen sein will. So gehörten die Frage nach Gott und jene nach dem erfüllten Leben zusammen: «Die Welt hat ihre wahre Erfüllung gefunden, weil sie Gottes Wohnung geworden ist» (Buch Seite 79).
Im Wettstreit selbstbewusst und freundlich auftreten
Auch für die Konkurrenz mit anderen Weltsichten hatte Miroslav Volf eine griffige Formel: Es gehe darum, den Wettstreit mit den anderen «partikularen Universalismen» gediegen und fair zu führen. Einen ganzen Vortrag widmete er dem Lebensstil der Theologinnen und Theologen: Sie hätten sich um Übereinstimmung ihrer Lebensführung mit der Lehre zu bemühen. «Wir studieren etwas, von dem wir vorab gerufen sind.» In den Gesprächsrunden mit Schweizer Universitätsdozenten, die seine Thesen hinterfragten, gab sich Volf dementsprechend persönlich.
Moderne: Steigerung und Entfremdung
Am letzten der drei Tage stellte der in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa seine Resonanz-Theorie vor. Sie konstatiert, dass die Moderne eine krisenhafte Form der Weltbeziehung entwickelt hat. Für Rosa ermöglicht die Religion eine Alternative.
Der Soziologe erläuterte zuerst seinen Ansatz, der die Beziehungen der Menschen zu Mitmenschen, zur Umgebung und zum Weltganzen miteinander in den Blick nimmt. Statt sich darauf ganzheitlich einzulassen, gehen moderne Menschen nach Rosa aggressiv, zupackend und mit dem Ziel zu beherrschen vor. «Wirklichkeit wird etwas, das man bewältigen muss.»
«Alltags-Bewältigungs-Verzweiflungs-Modus»
Damit verbunden ist die Beschleunigung des Lebens: «Die Moderne ist die erste Gesellschaft, die wachsen, beschleunigen muss, damit alles so bleiben kann, wie es ist.» So werde Wachstum gefordert, «obwohl die Kaufhäuser überquellen». Hartmut Rosa sieht die Menschen des Westens im «Alltags-Bewältigungs-Verzweiflungs-Modus» fühlen und handeln. Denn die verfügbar gemachte Welt «wird uns fremd, entzieht sich uns und wird bedrohlich. Als gesteigerte Täter werden wir ohnmächtige Opfer.»
Um Entfremdung aufzuheben, plädiert Rosa für eine Lebensweise, die Resonanzen ermöglicht, Erfahrungen mit dem Unverfügbaren, auf das man sich einlässt, von dem man sich anrufen lässt. Bei Entfremdung «steht uns die Welt starr, stumm, fern gegenüber. Sie spricht nicht.» Resonanz dagegen sei konstitutiv ergebnisoffen und riskant. «Es bedeutet, sich verwundbar zu machen.» Resonanz ist möglich in einem Kontext, der auf Hören und Antworten angelegt ist.
Resonanz und Religion
Religion sieht Hartmut Rosa als «existentielle Sphäre von Resonanz». Er nahm in Freiburg mehrmals Bezug auf den (am Vorabend gezeigten) Film von Wim Wenders, in dem Papst Franziskus sich zur Weltlage äussert. Mit Verweis auf Luther bezeichnete er Sünde als Resonanz-Verlust in allen Dimensionen, sozial, material, und existential.
Der Soziologe sagte, Menschen brauchten einen Sinn dafür, wie sie zur letzten Wirklichkeit stehen (William James). «Religionen eröffnen eine Erfahrungssphäre, dass da am letzten Wirklichkeitsgrund meiner Existenz ein Antwort-Geschehen, ein Resonanz-Geschehen ist.»
Umfassend daheim
Er sei nicht christlich aufgewachsen, äusserte Rosa; nun aber bedeuteten ihm Kirchenlieder viel: «Sie geben alles, was das Leben braucht.» Religion beziehe ihre Kraft daraus, «dass sie die drei Resonanz-Achsen – die Beziehung zu mir selber, zu meiner Umwelt und zum grossen Ganzen – zusammenlaufen lassen kann in einer existentiellen Grunderfahrung.» Allerdings sei eine zweite, radikale Reformation vonnöten, wenn das Christentum die Menschen wieder tragen solle.
Miroslav Volf antwortete auf Hartmut Rosas Vorträge mit höchst differenzierten Ausführungen über Daheim-Sein, Heimat und Geborgenheit – in eschatologischer Perspektive. «Im besten Daheim können wir einen Vorgeschmack der künftigen Welt haben.» Dieser verliere sich aber, wenn nur fürs irdische Daheim und Heimat gesorgt werde; und wer sich nicht mehr nach der Vollendung sehne, werde im Irdischen auch heimatlos.
Volf und Rosa diskutierten anschliessend über diese Zusammenhänge, über Liebe und Verlässlichkeit und das Verflechten der Resonanz-Theorie mit dem Konzept des flourishing life.
Das Leben gestalten
Gutes Leben ist nicht zuletzt ein Selbstverhältnis, getragen von Hoffnung. Barbara Hallensleben, Dogmatikprofessorin in Freiburg, griff in ihrem Workshop auf Aristoteles zurück. Dieser habe das blosse Leben (zän) vom guten, gemeinschaftlich gestalteten Leben (eu zän) unterschieden. «In der Differenz zwischen dem Leben und dem guten Leben liegt die unabgeschlossene Aufgabe – Freiheit.»
Die Hedonisten der Antike suchten das Glück im Bewahren des blossen Lebens, in der Vermeidung von Leiden. Thomas von Aquin hingegen habe die von Aristoteles gesehene Spannung nochmals kühn gesteigert: Das gute Leben vollendet sich in der Überwindung des Todes, im neuen Jerusalem.
In der Wohlstandsgesellschaft sei die Versuchung da, «das Leben zu verwalten, wie es ist, die grossen Visionen zu lassen». Der Kirche soll unterscheiden helfen; sie hat laut Barbara Hallensleben die elementare Vision des guten Lebens wachzuhalten. «Höre ich noch Gottes Stimme, die mir hilft, den Einflüsterungen zu widerstehen?»
Ziele für die theologische Ausbildung
Ein Podium unter Leitung von Walter Dürr, Direktor des Studenzentrums, beleuchtete die Perspektiven für theologische Ausbildung. Volfs Co-Autor Matthew Croasmun befand, sie solle zurüsten für den «lebenslangen Prozess, das gute Leben zu erkennen». Graham Tomlin, Leiter der grössten Theologenschule Englands (St Mellitus College, London), plädierte für eine Ausbildung, die nicht nur Kenntnisse und Techniken vermittelt, sondern Weisheit stiftet. Theologie und Gebet gehörten zusammen.
Kenda Creasy Dean (Princeton) wünschte den intensiven Austausch mit Jungen (der Knabe Samuel bei Eli). Thomas Schaufelberger (Deutschschweizer Konkordat für die Pfarrerausbildung) wünschte dienende Leiter, die andere ermächtigen – und eine «Kultur der Innovation». Tomlin bemerkte, dass Theologen gern die Kirchen dekonstruieren. Sie sollten eher die Götzen der Gesellschaft entlarven und dekonstruieren.
Zuhören, diskutieren, feiern, beten
Die Freiburger Studientage 2019 waren mit zwei Hauptreferenten einfacher strukturiert als in den Vorjahren. Ihre aufbauende, erfrischende Atmosphäre verdanken sie der mehrtägigen intensiven Hörgemeinschaft in der Weite der Aula magna und den Pausenkontakten, den Diskussionsmöglichkeiten in über 20 Workshops, der ökumenischen Vielfalt der Teilnehmenden – von jungen Studentinnen bis zu 80-jährigen Veteranen –, den ruhigen Morgenandachten und, in diesem Jahr, den virtuosen Einlagen des Percussionisten Jonas Rösch. Heiter und präzis, in drei Sprachen, moderierte die aus Bern stammende Theologin Silvianne Aspray-Bürki die Plenen.
Den Fokus auf Kreativität unterstrich der Besuch von Wim Wenders, der am 13. Juni über den «liebenden Blick» sprach. Nach der Vorführung des Films über Papst Franziskus befragte Prof. Joachim Negel den Star-Regisseur.
Den ersten Tag rundete ein Gebetsgottesdienst in der Kathedrale St-Nicolas ab. Graham Tomlin, anglikanischer Bischof von Kensington (London), predigte über Jesus, das Brot des Lebens. Nehmen wir – in Ländern, die das Evangelium vor über tausend Jahren hörten – das Wunder Jesu noch wahr? Oder meinen wir ihn zu kennen?
Forschungsgemeinschaft lanciert
Die Studientage hatten an den drei Tagen nach Angaben der Veranstalter insgesamt 550 Besucher. Unter ihnen waren viele Theologiestudierende und Dutzende Doktoranden der Schweizer Fakultäten, von denen Professoren in Freiburg referierten. Zur Erneuerung der Theologie soll auch das «Collegium Emmaus» (CE) beitragen.
Die ökumenische Forschungsgemeinschaft mit hochkarätigem Beirat (N.T. Wright, M. Herbst, M. Volf u.a.) startete am 12. Juni in Freiburg. Ihr Fokus ist «Gott und das gute Leben». Eingeladen sind Theologinnen und Theologen, die doktorieren oder postdoc-Studien treiben und sich zur Teilnahme an den Aktivitäten verpflichten.
* Miroslav Volf und Matthew Croasmun: Für das Leben der Welt. Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie. Mit einem Vorwort von Walter Dürr und Barbara Hallensleben. Aschendorff, Münster, 2019, 978-3-402-12227-3
Website: www.glaubeundgesellschaft.ch Bilder: Studienzentrum; PS