Hoffnung in Europas Glaubenskrise

Seit 50 Jahren sehe Europa sterbende Kirchen, sagte Armin Sierszyn in einem Vortrag auf Einladung der reformierten Kirchgemeinde Wetzikon am 29. Januar unter dem Titel «Not-wendiges für eine Erneuerung der Kirche». Er plädierte für ein neues Hören auf Gottes Wort und die Bereitschaft, alles dranzugeben.

Der Zürcher Oberländer Theologe setzte mit der Freude ein, die an Weihnachten verkündet wird, die auch die Jünger nach der Himmelfahrt erfüllt (Lukas 2 – 24). Vor diesem Hintergrund kommentierte er gesellschaftliche Entwicklungen. Seit 50 Jahren sehe Europa sterbende Kirchen, sagte Sierszyn. «Der Protestantismus überaltert rasch» – und das sei gewollt, denn Kinder würden als ein Armutsrisiko und als Hindernis für die Entfaltung gesehen.

Säkulare Megatrends
Zur niedrigen Geburtenrate kommen die Austritte: Im Jubiläumsjahr 2017 kehrten 200‘000 Deutsche der evangelischen Kirche den Rücken. Hinter diesen Zahlen steckt, so Sierszyn, «eine grosse, komplexe Not, welche die Kirche geistlich hinterfragen sollte». Doch würden die Gründe auch hier tabuisiert. Die säkularen Megatrends seien von Menschen allerdings nicht zu stoppen – «nur Gott kann sie wenden». Armin Sierszyn führte vier Problemfelder auf. Das erste: Der Abstieg des Kontinents Europa, Folge einer Glaubenskrise.

Armin Sierszyn bei seinem Vortrag in Wetzikon.

Drei Religionen wollten im neuen Millennium den Gang der Dinge bestimmen: die linksliberale Zivilreligion intellektueller Eliten, der Islam und das Christentum. Die zwei ersten hätten sich in einer Zweckallianz verbunden. Viele Juden zögen die Auswanderung in Erwägung.

«Kirchen verachtet und zertreten»
Von der Euphorie der frühen 1990er Jahre ist nichts geblieben. Sierszyn: «Die protestantischen Kirchen, die dem Mainstream huldigen, werden verachtet und zertreten.» Sie wirkten weithin kraftlos und müde, mit sich selbst beschäftigt. «Europa scheint parat, sich auf ein ungeheures Experiment einzulassen», sagte der Historiker im Blick auf den Glaubensschwund. Man breche mit der bisherigen Kultur in der vermessenen Meinung, eine neue selbst schaffen zu können. Dies laufe kaum spürbar ab – wie eine Kontinentalverschiebung.
 

Christus in der Rosette der Kathedrale von Clermont-Ferrand

Armin Sierszyn erwähnte Nietzsches Rede vom «Tod Gottes». Johannes Paul II. habe als Antwort auf die «Kultur des Todes» eine Neuevangelisierung Europas gefordert. Eine von Michel Houellebecq 2016 zitierte These gebe zu denken: Einzig eine spirituelle Macht, wie das Christentum oder das Judentum, wäre imstande, einer spirituellen Macht wie dem Islam auf Augenhöhe zu begegnen.

Dafür hätten sich die Menschen des Westens in Gekreuzigte zu verwandeln. Sierszyn fragte: «Sind wir bereit, das Geheimnis des Kreuzes von Christus im Glauben neu zu wagen? Oder ist uns der Kirchenbetrieb immer noch zu lieb?»

Verheissung statt Marktlogik
Die deutschen Kirchen, geführt wie Milliarden-Konzerne, blickten gelähmt in die Zukunft, meinte Armin Sierszyn. Er zitierte dagegen die Verheissung von Jesaja 44, dass Gott Wasser auf das Durstige giessen will. «Gottes Wort ist die einzige Grösse, die nicht dem Geld, der Determination und der berechenbaren Wahrscheinlichkeit unterliegt … Gott kann sich unser erbarmen.» Wenn die Kirche Gottes Wort gehorsam sei, sei sie frei – als einzige Grösse der Welt. «Das ist unsere Chance.»
 

Jugendfestival Reformaction Dezember 2017 in Genf.

Der Theologe, der neben seiner Lehrtätigkeit an der STH Basel während Jahrzehnten als Pfarrer in der Zürcher Kirche wirkte, sieht in der jungen Generation ein stärkeres «Heimweh nach der Zukunft». Die Kirche solle darauf mit Gottes Wort antworten. «Nur die Kirche kann das müde Europa wieder munter machen.»

Auf den «Feldern des hirtenlosen Säkularismus», der Ich-Kultur, der Einsamkeit, warte viel Arbeit. Missionarisch und diakonisch könne die Kirche heute einen Kontrapunkt setzen. «Alte Gefässe warten darauf, dass sie mit Heiligem Geist und mit diakonischem Leben neu gefüllt werden.»

Hoffnung gegen Fatalismus
Offensichtlich ging es dem Referenten darum, dem Fatalismus angesichts der Entchristianisierung des Kontinents Hoffnung entgegenzusetzen: Die Bibel sei das Herzstück westlicher Kultur, betonte er. Gottes Wort sei die zureichende Medizin, um dem Westen neue Kraft zu geben.
 

Nachmittag in Taizé

Umso schärfer kritisierte Sierszyn die Kirchen, die «das europäische Christentum selbst liquidieren». Die Einführung von Religionskunde und Ethik anstelle des christlichen Religionsunterrichts und der Wandel der Bestattungskultur zeigten den Verfall des Christentums an. Die neuprotestantische Theologie habe seit zwei Jahrhunderten als Quellort des Kulturwandels und der Säkularisierungsschübe dazu beigetragen.

Das Verdienst der Aufklärung
Armin Sierszyn rief zu einer differenzierten Bewertung der Aufklärung auf und benannte ihr Verdienst: Sie habe ein klares, kritisches Denken gebracht. Und die Freiheit der Rede – von der Kirche vergessen. Vor dem Hintergrund eines «Rücksturzes ins Mythisch-Irreale» in den letzten Jahrzehnten sei zu vermuten, dass die Aufklärung «um den Preis ihrer eigenen Vernichtung über das Christentum gesiegt habe».
 

Christus im Tympanon der Kirche Sainte-Foy von Conques

Die Welt sei zuletzt nicht wissenschaftlicher geworden, äusserte Sierszyn. Scharen von Jugendlichen landeten in neuheidnischen Bewegungen. Bauherren fragten nach «Mondholz». Viele Menschen suchten nach Spiritualität. Das neue irreale postchristliche Denken bemächtige sich auch der Politik. Die Wahrheit trete hinter emotionalen Aspekten zurück. Die Migrationsprobleme seien durch postfaktisches Denken mitbedingt. Der Referent sieht einen neuen, abgehobenen Tugend-Kanon, der um Gleichheit und «Toleranz» kreist.

Nicht vom Menschen reden – zu den Menschen gehen!
Die Not Europas ist für den christlichen Historiker, Verfasser einer 800seitigen Kirchengeschichte, zuinnerst eine Glaubenskrise. Die protestantische Kirche habe sie mitverursacht. Nun sei sie gefordert, wieder vom den ersten Dingen zu reden. «Der Glaube kommt aus dem Hören auf das Wort Gottes.» Konkret riet der pensionierte Pfarrer, das Privileg der offenen Türen gerade von Senioren, einsamen zumal, zu Besuchen zu nutzen. So werde die Kirche wahrgenommen. «Das Wort Gottes macht Kirche neu – gestern, heute, morgen. Glauben wir das?»