Schweizer Reformationen

Wie gelingt es, den Gehalt und die Wirkungen der Schweizer Reformation zu würdigen und für heute aufzunehmen? Dass die geistlichen Impulse der frühen 1520er Jahre bald von politischen Bestrebungen überlagert wurden, erschwert das Übertragen. Dies verdeutlichte das Podium zur Vernissage des Handbuchs «Die schweizerische Reformation» am 20. November im Käfigturm in Bern.
 

So eigenständig die Orte der Eidgenossenschaft, so vielfältig waren die Reformationen, die sie durchliefen. Dies unterstrich als Vertreter des Kirchenbundes, der das Handbuch initiierte, sein Vizepräsident Peter Schmid. Mit Artikeln zu den Orten (ZH, BE, BS, SH, SG/AR, GR, Romandie) stellt der Band die je eigenen Abläufe und Dynamiken heraus. Artikel zum Täufertum und über gescheiterte Reformationen runden den Hauptteil des «ausgezeichneten Nachschlagewerks» (Schmid) ab, das den aktuellen Stand der Forschung spiegelt.

Emidio Campi, Herausgeber des schon 2016 erschienenen «Companion to the Swiss Reformation», dankte Frank Mathwig und Martin Hirzel vom SEK für die (Rück-)Übersetzung und Bearbeitung der teils jenseits des Atlantiks verfassten Artikel.

Auf 700 Seiten wird der Bogen gespannt von Ansätzen im Spätmittelalter über die Reformationen in den Orten zu den gesellschaftlichen Langzeit-Wirkungen, einer eigenständig reformierten Kultur – laut Campi ein viel weiteres Blickfeld als der Fokus der früheren Zwingliforschung (Jahre um 1523). Bei allen Eigenheiten habe die Schweizer Reformation deutlich mehr mit der Bewegung in Europa gemeinsam gehabt, als ihre Protagonisten zugeben wollten.

Geistliche Ziele – mit Gewalt angestrebt
In einem von Frank Mathwig schwungvoll und pointiert geleiteten Podium wunderte sich der Berner Geschichtsprofessor André Holenstein darüber, was der Reformation im Jubiläumsjahr – etwa in der NZZ – «alles in die Schuhe geschoben» werde. Als wären ihr alle Errungenschaften der Moderne zu verdanken. In der Schweizer Reformation – dass Zwingli im Bestreben, evangelische Predigt in der Innerschweiz zu ermöglichen, zum «Kriegstreiber» wurde – seien Parallelen zu heutiger Intoleranz und zur Gewaltbereitschaft von religiösen Fundamentalisten zu erkennen.

Christina Aus der Au verwies auf die Umstände jener Zeit, ohne die römischen Unterdrückungsmechanismen und Habsburg zu erwähnen. Urs Leu von der Zentralbibliothek Zürich stimmte zu, dass nach 1525 die Reformation in Zürich zunehmend intolerant vorangetrieben worden sei. In den ersten Jahren nach 1519 habe sich Zwingli – Gegner der Solddienste – gegen den Einsatz von Gewalt ausgesprochen.

Heute lassen sich protestantische Ethiker viel weniger von reformatorischen als von täuferischen Konzepten inspirieren, wie Frank Mathwig bemerkte. Laut Aus der Au hängt auch das damit zusammen, dass die Reformatoren die unverdiente Gnade Gottes über alles stellten; die Ethik sei dagegen sekundär gewesen.

Unverdiente Gnade Gottes: Christina Aus der Au und Urs Leu

Reformiert ohne Bibel?
Wie stellen sich die Reformierten heute zur Bibel und zum im Bekenntnis gefassten Glauben der Reformatoren? Mathwig erwähnte die Beobachtung von Ulrich Luz, die Bibel habe in ihrem Alltag kaum mehr Bedeutung. «Was wird aus der Reformation, wenn die Bibel hinten rüber fällt?»

Dass wieder um die Bibel gestritten werde, sei gut und nötig, antwortete Christina aus der Au. Laut Urs Leu ist der persönliche, direkte Zugang des Menschen zu Gott und seine gnädige Zuwendung, von den Reformatoren in der Bibel (wieder) entdeckt, absolut zentral für den reformierten Protestantismus.

Positiv wertete André Holenstein, der sich als Agnostiker outete, den Zweiten Landfrieden von Kappel 1531. Damals hätten die Eidgenossen die Wahrheitsfrage ausgeklammert, um einen modus vivendi zu finden. Sie hätten auch ein Verfahren für Konfliktbewältigung vereinbart. Dies sei bis heute für pluralistische Gesellschaften grundlegend.

Laut Urs Leu nahmen die Bündner den Landfrieden 1526 in den Ilanzer Artikeln vorweg. Christina aus der Au stellte angesichts islamischer Minderheiten Holensteins Devise in Frage, die Religion solle bloss privat gelebt werden.

Licht und Schatten bei Zwingli: André Holenstein im Podium

Am Ende diskutierte das Podium über Grenzen der Reformation und über die Parallelität zwischen der apokalyptischen Zukunftserwartung der Reformatoren und heutigen Ängsten. Erneut wurde auf die inspirierenden frühen Schriften von Luther und Zwingli verwiesen.