Gottesdienst als Raum des Höchsten
Wie haben die Reformierten seit ihren Anfängen Gottesdienst gefeiert? Wo stehen sie heute? Die Geschichte reformierter Liturgie in der Deutschschweiz durchleuchtete der Theologe Luca Baschera an einem Vortrag in Bern. Er rief zur Reform auf - damit Gott in der Versammlung von Menschen Raum gegeben werde.
In den Deutschschweizer reformierten Kirchen ist die Pfarrerin frei in der Gestaltung des Gottesdienstes. An Vorgaben und Handbücher braucht sich der Pfarrer nicht zu halten. So ist nicht bloss die Form unbestimmt, sondern das Verständnis von Gottesdienst überhaupt ist starken Veränderungen unterworfen. Das war früher nicht so.
Sorgfalt der Reformatoren
Um den Umbruch im Verständnis von Gottesdienst und Liturgie darzulegen, ging Dr. Luca Baschera in seinem Vortrag vor dem Evangelisch-Theologischen Pfarrverein am 25. Januar zurück zu den Reformatoren. Für sie war die Reform des Gottesdienstes zentral; sie führten sie mit grösster Sorgfalt durch. Während Zwingli für Ostern 1525 eine Abendmahlsliturgie mit Anklängen an die Messe schuf, war in Bern 1528 das Vorbild des Prädikantengottesdienstes massgebend. Laut Baschera, Privatdozent für praktische Theologie in Zürich, wollten die Reformatoren, auf die geistliche Bildung des Volks bedacht, «die Diskrepanz zwischen überkommener Liturgie und evangelischer Botschaft aufheben».
Gebunden, dann entfesselt
So gab es eine geprägte und bindende Form des Gebets der Gemeinde. Abgesehen von der Predigt waren alle Texte in der Volkssprache dem Pfarrer vorgegeben - eine «ungeheure Veränderung im Vergleich zum späten Mittelalter», als der Priester die Messe lateinisch gesprochen oder gemurmelt hatte. Laut Baschera hat die Reformation die Agende im modernen Sinn eigentlich erfunden. Die Formulare blieben bis nach 1850 verbindlich.
Erst 1868, bei der Aufgabe des Apostolikums als des verbindlichen Bekenntnisses, erliess die Zürcher Synode ein Doppelformular; der Pfarrer hatte die Wahl zu treffen. In den folgenden Jahrzehnten wurden in den Deutschschweizer Landeskirchen die Formulare weiter vermehrt: «Aus der Agende war eine Anthologie geworden, aus der Liturgie eine liturgische Materialsammlung.»
Wirkung entfaltete schon im 19. Jahrhundert und erst recht seit den 1960er Jahren die Gottesdienstlehre Friedrich Schleiermachers (1768-1834). Danach bringt der «Kultus» religiöses Selbstbewusstsein zum Ausdruck, ist wesentlich menschliches und darstellendes Handeln, in Aktualisierung jener religiösen Anlage, die im Menschen präsent ist.
Vom Heiligen geformt werden
Luca Baschera stellte dieser Gestaltungslehre Schleiermachers die Impulse von liturgischen Erneuerungsbewegungen im 20. Jahrhundert gegenüber. Ihren Vertretern ging es um die Wiederentdeckung des altkirchlichen und reformatorischen «liturgischen Realismus»: «Wir kommen im Gottesdienst mit geistlichen Wirklichkeiten und Kräften in Berührung und werden von ihnen berührt.»
Gottesdienst ist zu erfahren, in der Gegenwart Christi, als Gemeinschaft mit dem dreieinen Gott. Baschera betonte, dass dieses Verständnis von Gottesdienst weder neu noch konfessionsspezifisch ist. Es verbinde die Gläubigen quer durch die Konfessionen und sei in allen Kirchen zu finden bzw. wiederzugewinnen. Gott formt; der Mensch lässt sich formen: So ereignet sich Begegnung mit dem, der die Welt übersteigt, wie der Referent mit Peter Brunner formulierte: «Dass Gott selbst an Menschen handelt in Handlungen, die Menschen vollziehen - das macht den Gottesdienst zum Geheimnis.»
Gerüst genügt nicht
In der Schweiz wie in Deutschland ist es heute den einzelnen Amtsträgern überlassen, den Gottesdienst zu gestalten. Die Kirche macht zwar Vorschläge, doch sie sind nicht mehr als ein Gerüst; dies trägt zum diffusen Profil der Reformierten bei. Die «Zürcher Liturgie» bezeichnet einen Weg in fünf Schritten: Sammlung - Anbetung - Verkündigung - Fürbitte - Segen. Laut Baschera ist das zu wenig: Die Gemeinde, die Hauptakteurin des Gottesdienstes, werde dadurch zu einem Orchester, das keine Noten, bloss Tempoangaben habe. Die Qualität des Gottesdiensts hänge dann davon ab, was die amtierende Pfarrperson leistet und gestaltet.
Luca Baschera rief dazu auf, dieses Verständnis von Gottesdienst, durch Schleiermacher im Zeitalter des Idealismus formuliert und nach 1945 individualistisch umgeprägt, zu überwinden. Gottesdienst sei «nicht der Ort, an dem der religiöse Menschen seinen Gefühlen Ausdruck verleiht. Es geht darum, dass er sich von Gott umkehren lässt.» Das Wissen darum sei über die letzten Jahrzehnte weithin verloren gegangen, konstatierte der Referent.
Gottes Raum
Er schlug vor, Gottesdienst nicht so sehr als Weg, viel mehr als Raum zu verstehen, in den man durch die Anrufung des dreieinigen Gottes eintritt, in dem man sich seinem Reden und Wirken aussetzt, den man unter seinem Segen verlässt. «Hier öffnet sich ein Raum, der nicht uns gehört, hier beginnt etwas, das nicht von uns stammt.» So gewinne Kirche Form. Luca Baschera machte den Anwesenden Mut, in der eigenen Gemeinde liturgische Form neu zu wagen. Etwa durch ein häufigeres Feiern des Abendmahls mit einer der Gemeinde vertrauten Liturgie und indem das Wirken des Heiligen Geistes explizit erbeten wird.
Der seit 1867 bestehende Evangelisch-Theologische Pfarrverein führt in Bern eine Veranstaltungsreihe zum Gottesdienst «Gott allein dienen» durch. Einen weiteren Vortrag -über freikirchliche Gottesdienste -hielt im März Dr. Stefan Schweyer. Die Anlässe sind öffentlich.