Gleichgültige und Distanzierte in der Polarisierung
In der Schweiz wird weniger gemeinsam geglaubt, aber wieder häufiger über 'Religion' gestritten. Wie gehen der freiheitliche, säkulare Staat und die Gesellschaft mit der religiösen Vielfalt von zahlreichen Kirchen und anderen, meist jungen Religionsgemeinschaften um? Je mehr Schweizer sich von den Kirchen distanzieren, desto mehr wächst der Einfluss der Medien, die Negatives betonen und Sachverhalte überspitzen. Als Summe des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58 "Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft" ist ein Band erschienen, der die Forschungsergebnisse sichtet.
Auf 240 Seiten fassen Verantwortliche des NFP 58 den Ertrag der 28 Studien zusammen, die der Bund mit 10 Millionen Franken finanzierte. Das NFP 58 sollte den Wandel der Religiosität Einzelner und der Religionsgemeinschaften nachzeichnen, daraus Konsequenzen ableiten und Empfehlungen "für ein gelingendes Zusammenleben der verschiedenen religiösen Gruppen" und für die Konfliktprävention formulieren. Die Verfasser des Schlussberichts, drei Juristen, eine Soziologin und ein Soziologe und zwei Religionswissenschaftler, sehen die Schweiz "zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt".
Im Jahrzehnt nach dem 11. September 2001 widmeten sich zahlreiche Forscherteams muslimischen und verwandten Gemeinschaften, andere richteten den Fokus auf Buddhisten und Hindus. Die Studien wurden 2007-2010 erstellt. Sekten, die Esoterik-Szene und die Freidenker wurden nicht eigens erforscht. Die Freikirchen kamen fast nur zusammen mit den Grosskirchen in den Blick. Immerhin wird ein altes Klischee aufgelöst: "Anders als bisher bekannt, bieten christliche Freikirchen nicht nur exklusives Seelenheil für ihre Mitglieder an, sondern sie sind sozial engagiert".
Gliederung
Christoph Bochinger: Einleitung
Martin Baumann: Religionsgemeinschaften im Wandel - Strukturen, Identitäten, interreligiöse Beziehungen
Jörg Stolz: Religion und Individuum unter dem Vorzeichen religiöser Pluralisierung
Luzius Mader, Marc Schinzel: Religion in der Öffentlichkei
René Pahud de Mortanges: Die Auswirkung der religiösen Pluralisierung auf die staatliche Rechtsordnung
Irene Becci: Religion und Sozialisation - bildungspolitische Herausforderungen
Christoph Bochinger: Religion, Staat und Gesellschaft: weiterführende Überlegungen
Das Buch enthält zahlreiche aufschlussreiche Beobachtungen und stellt in der zersplitterten Religionslandschaft erhellende Bezüge her. Es fasst vieles zusammen, was bekannt ist - etwa dass kleine Religionsgemeinschaften "nicht nur Orte gemeinsamer religiöser Rituale und Feiern, sondern auch Treffpunkte für Sprach- und Kulturpflege sowie Anlaufstellen bei sozialen und psychischen Problemen" ihrer Angehörigen sind. Die Religionsgemeinschaften der Migranten unterscheiden sich aufgrund ihrer Herkunft sehr. Die eingewanderten Gemeinschaften passen sich in einem komplexen Prozess helvetischen Gegebenheiten an, leiden am Mangel von Räumlichkeiten und ausgebildeten Leitern und verändern sich in der Generationenfolge stark. Ihre Mitglieder sind im Schnitt religiöser als eingesessene Schweizer. Bekannt ist auch, dass Vertreter immigrierter Religionen "verstärkt den Wunsch nach gleichberechtigter gesellschaftlicher Akzeptanz und öffentlich-rechtlicher Anerkennung äussern".
Traditionsabbruch
Die Studien bestätigen, dass sich "der Wandel von Religiosität sich vor allem zwischen den Generationen vollzieht". Dem Blick des Soziologen zeigt sich fortschreitende Säkularisierung: "Immer weniger Menschen sind in einem institutionellen Sinne religiös". Seit 1960 ist jede christliche Generation, soweit es sich am Verhältnis zur Institution ablesen lässt, weniger religiös als die vorangehende. Die Reformierten haben noch 3 Prozent ihrer Mitglieder im Gottesdienst, die römischen Katholiken 4 Prozent. Mehr Schweizerinnen und Schweizer haben "ein differenziertes Verhältnis zu Kirchlichkeit und Religiosität" und sehen die Bedeutung der Kirchen nicht für ihren eigenen Lebensvollzug, sondern vor allem darin, dass sie sozial Benachteiligten helfen.
Glauben à discretion
Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie in Lausanne, fasst den religiösen Wandel umgreifend als Deinstitutionalisierung: "Individuen emanzipieren sich von religiösen Institutionen und wollen 'allein entscheiden'". Die Deinstitutionalisierung führt "unter je unterschiedlichen Bedingungen zur Entstehung von distanzierter Religiosität, zu verschwimmenden religiösen Grenzen, neuen religiösen Märkten und konservativen Gegenbewegungen". Anders ausgedrückt: Man glaubt, ohne dabei zu sein; man weiss nicht mehr, warum man eigentlich einer bestimmten Gemeinschaft angehört; man deckt sich im reichen religiös-spirituellen Angebot ein - oder schliesst sich einer Gruppe verbindlich an, die ein klares Ziel verfolgt.
Kirche soll diskret sein und Gutes tun
Immer mehr Schweizern gehen die Unterschiede zwischen den Grosskirchen nicht mehr in den Kopf. Eine neue Bewertung von Religion generell ist bei distanzierten Kirchenmitgliedern - vorwiegend über die Medien informiert - normal: Sie finden ihre eigene und andere Religionen dann gut, wenn diese allen Freiheit und Selbstbestimmung garantieren, keinerlei Zwang oder Druck ausüben, sich gegen Nichtmitglieder diskret verhalten und auf einen Absolutheitsanspruch verzichten. Mithin wird "intensive, exklusive und missionierende Religiosität tendentiell abgelehnt". Die religiösen Traditionen, so verschieden sie sind, werden laut Stolz von der Entwicklung der Gesellschaft "in meist sehr ähnlicher Weise beeinflusst".
Mehr Kontroversen
In einem nicht einfach zu bestimmenden Verhältnis zu dieser Zunahme von Unglauben und dem Schwinden des Einfluss der Kirchen in Staat und Gesellschaft steht ein anderer (nicht überraschender) Befund der Forscher: Über Religion wird öffentlich mehr und kontroverser gesprochen als vor 2001. "Religion ist als Thema des öffentlichen Diskurses stark verbreitet, auch wenn das Religiositätsniveau in der Schweizer Gesellschaft kontinuierlich sinkt".
"Religion an sich interessiert wenig"
Luzius Mader und Marc Schinzel vom Bundesamt für Justiz gehörten der Leitungsgruppe des NFP 58 an. Als Juristen beleuchten sie die Thematik von der öffentlichen Seite der Religion her. Sie schliessen an den Soziologen José Casanova an, der schon 1994 eine Entprivatisierung der Religion diagnostizierte. Trotz Säkularisierung ist "Religion in der Schweizer Öffentlichkeit sehr gegenwärtig" - und mit der schwindenden religiösen Beheimatung der Schweizer wächst den Medien eine primäre Bedeutung für die Wahrnehmung von Religion zu.
Für Schlagzeilen Konflikte
Nicht überraschend wird Religion für die Medien "offenbar erst dann interessant, wenn sie als Erklärung für Konflikte dient, die 'an sich' nichts mit Religion zu tun haben, oder wenn sie selbst mit moralischen Überzeugungen der Schweizer Bevölkerung in Konflikt gerät". Mader und Schinzel stellen fest, dass der Islam überwiegend negativ, der Buddhismus dagegen positiv dargestellt wird. Säkulare Schweizer nehmen an, was ihnen die Medien vorsetzen. "Insgesamt werden Religionen von der Bevölkerung eher als konflikt- denn als friedensfördernd gesehen".
Religion als Instrument zur Abgrenzung
Weiter argumentieren die Juristen, dass Schweizer Religion zunehmend nutzen, um kollektive Identität abzugrenzen. Die Migranten sind nicht mehr Bosnier, Türken, Albaner und Araber, sondern Muslime. Die islamistischen Anschläge seit 2001, der Karikaturenstreit und die Minarett-Auseinandersetzung führen laut Mader und Schinzel auch dazu, "dass die Mehrheitsbevölkerung - trotz rückgängiger Religiosität und wachsender Kirchendistanz - sich zunehmend als 'christlich' identifiziert, um sich von den betreffenden Gruppen abzugrenzen". Gewisse Kreise sähen den Islam als grundsätzlich unvereinbar mit dem "schweizerischen Selbstverständnis und Rechtsstaat" an.
Die Grenzziehung
"Ihr Muslime - wir Christen" sei offensichtlich von der eingesessenen Bevölkerung etabliert worden, schreiben die Juristen. Sie werde erhebliche Folgen für das Zusammenleben haben. Um sie zu mildern, sollten "religiös gefärbte Charakterisierungen von Menschen und Ereignissen in der Kommunikation nach Möglichkeit" vermieden werden. Die Bedeutung und das Gewicht von Religionszugehörigkeit dürfe "nicht von vorneherein öffentlich festgeschrieben werden". Mader und Schinzel schliessen mit dem Wunsch, dass Schüler lernen, die Religionsbilder in den Medien kritisch zu hinterfragen.
Pragmatischer Staat
Der Freiburger Staatskirchenrechtler René Pahud de Mortanges hält fest, dass der Staat heute gegenüber Religionsgemeinschaften auf seinen Nutzen bedacht ist und pragmatisch vorgeht. Dort wo er ihre Beiträge nicht mehr brauche, versuche er ihre Privilegien abzubauen. Die Stabilität des Staats und die Grundrechte würden von Einwanderern geschätzt; "die Integrität des Staates fördert ihre Integrationsbereitschaft". Die Muslime hätten im politischen Prozess die schlechtesten Karten.
Was ist gesellschaftskonform?
Wenn in der Gesellschaft Religion der Säkularität entgegengesetzt wird, ist dann Säkularität die moderne Konformität? Die Lausanner Soziologiedozentin Irene Becci, die dies fragt, wertet die NFP-Studien im Blick auf religiöses Lernen aus. "Religiöse Identität entsteht durch die Aneignung religiösen Wissens und dessen praktische Umsetzung im Lebensvollzug". Dies geschehe auch im 21. Jahrhundert vor allem in Kindheit und Jugend.
Becci betont, dass Eltern - vor allem wenn sie religiös gleichgesinnt sind - ihren Kindern Wesentliches mitgeben: "langwährende Gefühle der religiös-kulturellen Zugehörigkeit". Wenn Schweizer gefragt werden, welche Werte sie ihren Kindern vermitteln, kommt religiöser Glaube allerdings erst an siebter Stelle, lange nach Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Phantasie. Wird Religion weitergegeben, dann vor allem in der Familie, fern der Öffentlichkeit und mit starken Emotionen. Sie werde dadurch, so Becci, "zu einem sehr persönlichen Bezugspunkt".
Der Alltag anders als die Medienberichte
Neben Familie, Freunden und Schule vermitteln die Medien Religion. Eine der NFP-Studien hat ergeben, dass über ein Drittel der Printjournalisten konfessionslos ist. Becci geht davon aus, "dass die grosse Mehrheit der Journalisten nur über ein sehr rudimentäres Wissen über Religion und Religionen verfügt...
Besonders durch die Medien wird die Wahrnehmung der Religionen verzerrt und häufig auf ihr Konfliktpotenzial reduziert. Die meisten Menschen in der Schweiz erleben solche Konflikte in ihrem unmittelbaren Umfeld nur sehr begrenzt, während sie gewöhnlich - ganz im Gegenteil - ihren Alltag durch spontane Kompromissbildung aushandeln. Dieser Alltag ist aber auch von Massenmedien geprägt, durch die der Bezug zu Religion wiederum auch starrer und distanzierter wird". Mehrfach findet sich im Band die Forderung nach besserer Berichterstattung durch Journalisten.
Muslime wie einst Katholiken integrieren?
Die Schweiz habe im Umgang mit kultureller Vielfalt bisher Grosses geleistet, urteilt Martin Baumann, Professor in Luzern. "Angesichts der Pluralisierung der Schweizer Religionslandschaft scheint diese Integrations- und Vermittlungsleistung jedoch an Grenzen zu stossen". So wie man im 19. Und 20. Jahrhundert die Ausgrenzung 'Andersgläubiger', der Katholiken und der Juden, überwunden habe, solle man jetzt auch mit Muslimen umgehen und sie nicht mehr über ihre Religion ausgrenzen. Baumann fordert in dem Zusammenhang ein neues Selbstverständnis der Schweizer. Sein Vorschlag, nicht-christliche Geistliche wie christliche einreisen zu lassen, dürfte nicht überall auf Gegenliebe stossen
...
Ausnahmen wahrnehmen
Der Bayreuther Religionswissenschaftler Christoph Bochinger, der der NFP-58-Leitungsgruppe vorstand, rundet den Schlussbericht mit weiterführenden Überlegungen ab. Wenn in der Schweiz wie in Nachbarländern "Religiosität im Sinne der Aneignung religiös-institutioneller Vorgaben immer stärker nachlässt", weist er doch auf Ausnahmen hin: in einigen Freikirchen und Migrantengruppen (Kirchen, tamilische Hindus), bei ultraorthodoxen Juden und bei gewissen jüdischen Reformbewegungen. Kurz: "Während die eine Seite immer säkularer wird, wächst auf der anderen Seite das religiöse Commitment". Der Gegensatz provoziert Konflikte nicht zuletzt in Lehrerbildungsstätten.
Akzeptanz der Pluralität
Bochinger spricht die Polarität an zwischen denen, die religiöse Vielfalt als Bereicherung empfinden und fördern möchten, und jenen, die sich davon bedroht fühlen und "tendenziell die Assimilation alles religiös fremd Erscheinenden an die dominante Kultur" verlangen. Er meint jedoch zwischen diesen Polen eine dritte Position zu erkennen: "eine neutrale Haltung gegenüber religiöser Vielfalt, die diese weder begrüsst noch ablehnt, sondern (Pluralität) als gegeben akzeptiert". Auch nach dem Ja zum Minarettverbot und zur Ausschaffungsinitiative, so Bochinger, könnten mit dieser pragmatischen Mitteposition politische Mehrheiten gewonnen werden.
Pluralisierte Religion überfordert Kinder
Andererseits versteht sich vor diesem Hintergrund die Skepsis gegenüber Hans Küngs 'Weltethos', das die friedensfördernden Potenziale der Religionen nutzen will. Der NFP-58-Leiter kritisiert an diesem Punkt den Zürcher Lehrplan für "Religion und Kultur". Er gehe an der Realität der Kinder vorbei: Pluralisierte Religion bedeute für die meisten Kinder ein fernes Etwas oder aber eine "potenzielle Bedrohung der eigenen Religion". Auch für die Oberstufe winkt Bochinger ab: "Eine religionspluralistische Option, die neben der eigenen auch die Inhalte anderer Religionen zur Wahl stellt, liegt den meisten Jugendlichen eher fern". Stattdessen sollte die Schule auf die Akzeptanz religiöser Pluralität hinarbeiten.
Hohle Maske
Bochinger führt Maders und Schinzels Gedankengang weiter, dass sich Einheimische gegenüber den Muslimen zunehmend mit dem Gegensatz Islam-Christentum abgrenzen. Je mehr die Fremden als religiös klassifiziert würden, umso stärker nähmen sich die Einheimischen selbst offenbar als 'christlich' wahr - und dies unabhängig davon, ob sie den Glauben selbst praktizierten. "Religion kann daher offenbar als Merkmal der Identität von Individuen oder Gruppen aktiviert werden, die sich sonst nicht religiös betätigen und keine spezifisch religiösen Glaubensüberzeugungen vertreten". Was dies bedeutet, kann Bochinger anhand der Forschungsergebnisse nicht sagen. "Kommt es tatsächlich zu einer Trendumkehr in Bezug auf die Religiosität der Schweizer Bevölkerung? Alle Anzeichen sprechen dagegen".
Christoph Bochinger (Hg.)
Religionen, Staat und Gesellschaft
Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt
NZZ Libro, Zürich, 2012, ISBN 978-3-03823-755-6
CHF 38.00