Gedämpfte Pfingsten
Ab dem 28. Mai sind religiöse Versammlungen wieder erlaubt. Dies beschloss der Bundesrat am 20. Mai nach einem Treffen von Innenminister Berset mit Religionsvertretern. Um Ansteckungen zu verhindern und das Nachverfolgen von Infektionsketten zu ermöglichen, auferlegt der Staat den Glaubensgemeinschaften einschneidende Beschränkungen des gottesdienstlichen Feierns.
Die Aufhebung des Versammlungsverbots – zuvor war der 8. Juni in Aussicht gestellt – wurde von der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS als «würdigendes Signal» des Bundesrates gewertet. Die neue Situation bringe allerdings «vielfältige organisatorische und kommunikative Herausforderungen» für die Gemeinden mit sich.
Die EKS legt ihnen nahe, Online-Gottesdienste wie auch (kleinere) Feiern zu gestalten und kreativ zu reagieren. Ein Beispiel bietet der Thurgauer Kirchenratspräsident Wilfried Bührer, der ein Video aufgenommen hat: Begleitet von Samuel Kunz am Alphorn, der das «Unser Vater» neu vertont hat, singt Bührer das Gebet, um sich mit jenen zu verbinden, die das gemeinsame Singen schmerzlich vermissen.
Kein Abendmahl
Die Erlaubnis, Gottesdienste wieder durchzuführen, fordert die Kirchen unterschiedlich heraus: Alle sind vom Verbot des Gemeindegesangs betroffen, die Katholiken und Orthodoxen besonders vom gebotenen vorläufigen Verzicht auf die Eucharistie, die Freikirchen vom Gebot des Mindestabstands von zwei Metern, welches das BAG in seinem Rahmenschutz-
konzept mit einer Mindestfläche («ca. 4 m2 pro Person») verwirrend kombiniert hat.
Die Vorschrift, die Kontaktdaten aller Teilnehmenden aufzunehmen und während 14 Tagen aufzubewahren, gilt, wie die Sprecherin der Bischofskonferenz betonte, nur für Versammlungen, in denen der gebotene Abstand nicht eingehalten werden kann.
Freude und Enttäuschung
Zur Dankbarkeit, dass die Seuche die Schweiz nicht so verheerend wie erst befürchtet getroffen hat (Bernhard Rothen), kam durch den Bundesratsbeschluss Freude über die Möglichkeit, sich wieder zu versammeln. Dies betonte Peter Schneeberger, Präsident des Freikirchenverbands VFG, in einer Mitteilung.
Die Rückkehr zu realer Gemeinschaft wird auch erleichtert durch die Beschlüsse des Bundesrates vom 27. Mai: Ab dem 30. Mai sind Versammlungen von bis zu 30 Personen im öffentlichen Raum zugelassen, eine Woche später von bis zu 300 Personen.
Doch mit den Vorgaben für Gottesdienste, im Rahmenschutzkonzept des BAG als «Aufhebung resp. Anpassung des Versammlungsverbots» bezeichnet, tun sich die Verantwortlichen schwer. Namentlich in den Freikirchen, deren Gebäude stärker genutzt werden. Gemäss Thomas Gerber vom VFG-Vorstand haben zahlreiche Gemeinden entschieden, mit dem gemeinsamen Feiern von Gottesdiensten zuzuwarten. Zu hoch seien die Hürden, zu gross die Enttäuschung über die Beibehaltung der 2-Meter-Abstand-Regel.
Auch reformierte Kirchgemeinden ziehen es vor, an Pfingsten und am folgenden Sonntag Trinitatis noch nicht in die Kirche einzuladen. Der Zürcher Kirchenrat legt den Gemeinden eine schrittweise Rückkehr zu physischen Gottesdiensten nahe.
Detaillierte Vorschriften
Das Rahmenschutzkonzept des BAG (Stand 18. Mai) ist von den Kirchen umzusetzen; es kann örtlichen Gegebenheiten angepasst werden. Das BAG schreibt – zusätzlich zu den erwähnten Punkten – unter anderem vor, dass der «Einlass und Auslass» kontrolliert und gestaffelt zu erfolgen haben, unter Einhaltung der Abstandsregeln. «Die Mitwirkenden/Vorstehenden der Feier sollen zahlenmässig auf ein Minimum beschränkt werden.» Mikrofone könnten «als Unterstützung der normalen Sprachführung sinnvoll sein».
Das BAG versäumt es nicht, extra zu erwähnen, dass mit dem Verbot von Körperkontakt auch der Friedensgruss und das Weiterreichen von Kollektenkörbchen untersagt sind. Gebetbücher dürfen nicht abgegeben werden. «Platzmarkierungen, angepasste Bestuhlung, Sperrungen von Sitzreihen usw. sind zwingend vorzusehen.» Und: «Auf Chöre ist im Moment zu verzichten.» Zur Bewertung der Ansteckungsgefahr beim Gemeindegesang seien «die weiteren epidemiologischen sowie wissenschaftlichen Entwicklungen abzuwarten».
Weiter schreibt das BAG, dass «für Veranstaltungen, an denen sich die Personen durch den Raum bewegen, … von einem Richtmass von 10m2 pro Person auszugehen» ist. Und last but not least: Taufen und Trauungen und ähnliche religiöse Feiern sind «nach Rücksprache mit den betroffenen Personen nach Möglichkeit zu verschieben».
«Entmündigung»
Mit der Lockerung des Versammlungsverbots, welche der Bundesrat am 27. Mai beschloss, ist ab dem 7. Juni immerhin das Gespräch von Dutzenden Gottesdienstbesuchern vor und nach der Feier erlaubt. Vor dem 20. Mai hatten sich Kirchenleute zunehmend kontrovers und teils mit scharfen Worten mit diesem Verbot auseinandergesetzt.
Der Hundwiler Pfarrer Bernhard Rothen, Präsident des Evangelisch-theologischen Pfarrvereins, protestierte in einem Brief an den Bundesrat «gegen die fortdauernde Entmündigung unserer Gemeinden». Es sei ein fatales Signal, dass Restaurants wieder Gäste bedienen, Kirchgemeinden aber nicht zum Gottesdienst einladen dürften. Als beschämend wertete Rothen, dass der Bundesrat es den Pfarrern und Kirchgemeinden nicht zutraue, «dass wir klare Vorgaben der Behörden mit Umsicht, Zurückhaltung und Phantasie umsetzen können».
Der Theologe fragte: «Wo, wenn nicht auch in den Gottesdiensten der Kirchen, soll die differenzierende Anteilnahme, die Bereitschaft zum Verzicht und die Geduld zum Durchhalten gepflegt werden, die nötig sein werden, um die Folgen der Seuche zu bewältigen?» Das Schreiben, am 14. Mai von über dreissig Pfarrerinnen und Pfarrer mitunterzeichnet, fordert den Bundesrat auf, «den Kirchgemeinden ihre von der Verfassung garantierten Rechte der Kultus- und Versammlungsfreiheit sofort wieder zurückzugeben».
Erst feiern, wenn alle dabei sind
Mit dem gegenteiligen Anliegen hatten sich am 6. Mai acht Pfarrpersonen in einem Brief an ihre Kirchenleitungen gewandt. Als Gemeindeverantwortliche wollten sie «vor allem gegenüber den Schwachen und Verletzlichen solidarisch handeln». Sonntagsgottesdienste, vor allem von Senioren besucht, seien nun aber gerade für sie «potenziell gefährlich». Wenn bei Lockerungsmassnahmen den Risikogruppen empfohlen werde, zu Hause zu bleiben, führe dies zu ihrer Diskriminierung.
Diese «Tendenzen zur Zweiklassen-Gesellschaft» sollten die Kirchen nicht ihrerseits befördern. „Wir fragen uns deshalb, ob der Zeitpunkt zur Öffnung der Kirchen für Gottesdienste schon am 14. Juni richtig ist.» Jesaja 43,19 zitierend, bringen die Pfarrpersonen ihr Sehnen nach Gottesdiensten zum Ausdruck, «die auch als Feier erlebt werden können, bei denen alle dabei sind, bei denen wir uns die Hand geben, uns umarmen können, miteinander singen können, ohne mit dem Gotteslob eine gefährliche Aerosolwolke auszustossen».
Senioren vor den Bildschirm
Das BAG hält im Rahmenschutzkonzept fest, besonders gefährdete Personengruppen sollten nicht ausgeschlossen werden; «sie sollen aber ermutigt werden, sich so gut wie möglich vor einer Ansteckung zu schützen und religiöse Angebote über anderen (sic!) Kanäle in Anspruch zu nehmen». Wollten sie an Feiern teilnehmen, sei das ihr individueller Entscheid. Empfohlen werde ihnen, «sich nicht an Orten mit Menschenansammlungen und zu Zeiten mit einem erhöhten Personenverkehr zu begeben».
Ob die Kirchenverantwortlichen angesichts dieser Spannungsfelder die Hauptsachen im Auge behalten und die Fragen der Menschen auf der Strasse genug bedenken? Als Hinweis könnten sie eine Bemerkung von Roger Federer nehmen, der in einem Videogespräch mit seinem brasilianischen Kollegen Gustavo Kuerten laut «20 Minuten» äusserte, die ganze Welt liege vor dem Virus auf den Knien. «Das war ein Neustart, den die Leute und die Welt vielleicht brauchten.»
Gottesdienst verbindet überörtlich und überirdisch
Grundsätzliches für Gottesdienste hat Stefan Schweyer, Professor für Praktische Theologie an der STH Basel, in einem Papier in Erinnerung gerufen. Er weist mit Offenbarung 7,9–12 darauf hin, dass jede gottesdienstliche Versammlung eine Teilhabe am universalen Gottesdienst ist. Die Gemeinde am Ort singt mit den Engeln und betet mit der «universalen Gemeinde, die Raum und Zeit umspannt». Da ein Gottesdienst vor Ort nie alle physisch einschliesse, bringe Covid-19 nichts prinzipiell Neues. Der Gottesdienst bleibe immer vorläufig: «Er weist hin auf die Einheit der neuen Schöpfung, kann diese aber selbst nie genügend zur Darstellung bringen.»
Schweyer argumentiert, die Begrenztheit des Gottesdienstes sei kein Grund, ihn abzusagen. «Die potentielle Chance, in Gottesdiensten etwas von der eschatologischen Vollendung zu kosten, wurde immer als höher gewichtet als die potentielle Gefahr möglicher Diskriminierungen.» Bei der Wiedereröffnung der Gottesdienste sei die Würdigung und Beachtung gefährdeter Personen zu gewährleisten.
Grenzen weiter stecken
Der Theologe plädiert für einen «entgrenzenden Gottesdienst», der nicht bei seiner Begrenztheit stehen bleibt, «sondern die Grenzen nach Möglichkeit weiter steckt». Für eine gästefreundliche Gestaltung sollten Teilnahmebarrieren überhaupt abgebaut werden, auch durch bauliche Massnahmen (Rollstuhlgängigkeit, Eltern-Kind-Raum). Die räumlichen Vorgaben des BAG betrachtet Stefan Schweyer nicht als hinderlich, sondern als ermöglichend.
Die Kirchen und Gemeinden sollten die Hürden nicht höher setzen, als es die staatlichen Vorgaben erfordern. «Alle – auch gefährdete Personen – sollen nach freier Entscheidung auch gegen mögliche Empfehlungen mit gutem Gewissen teilnehmen können, ohne schrägen Blicken oder einem Generalverdacht ausgesetzt zu werden.»
Der STH-Professor empfiehlt, «im grösstmöglichen Rahmen Gottesdienst zu feiern und das erlaubte Maximum der Gruppengrösse nicht ohne Not zu verringern». Der Kreis der versammelten Gemeinde solle aufgebrochen und offengehalten werden, durch Fürbitte, auch durch Grüsse an Nicht-Anwesende. Die Weiterführung digitaler Angebote zum Mitfeiern, vom BAG erwähnt, mache Sinn.