Feuer für die Landeskirche

Evangelisieren lebt von der Freude an Gott; ihr entspringt das Mitteilen. Die Gemeinschaft der Christen wirkt mit Liebe und Gerechtigkeit missionarisch. „"Es kommt darauf an, mit Jesus in Bewegung zu sein, on the move"“, sagte der Chicagoer Pastor Otis Moss III an einer Tagung der Zürcher Landeskirche über Evangelisation am 1. Mai. Die Veranstaltung trug Bausteine zusammen –- und machte zugleich bewusst, wie viel Schutt auf dem reformierten Weg liegt.

Der Zürcher Kirchenrat hat der Landeskirche Evangelisation als eines der Legislaturziele 2008-2012 aufgegeben. Die Tagung mit 70 Teilnehmenden am Tag der Arbeit sollte nicht bloss der Vorgabe Genüge tun, sondern –- so wurde betont –- der Beginn eines Prozesses sein. Unter dem Titel "„Evangelisch evangelisieren zwischen Ost und West"“ war auf der Einladung ein Wort von Jesus mit einer selbstkritischen Frage verknüpft: " '„‘Ich bin gekommen, Feuer auf die Erden zu werfen‘' -– und wir blasen sanft ins Feuer"?“

Gemeindeaufbau braucht Evangelisation
Ohne Evangelisation wäre Gemeindeaufbau „"seelenlose Organisationsberatung"“, meinte der Beauftragte der Landeskirche, Karl Flückiger, in der Einführung. Flückiger verwies auf die Bemühungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland seit 1999. Angesichts der „"teils unrühmlichen"“ Missionsgeschichte gehe es den Reformierten um Mission bei mündigen Menschen, Mission, die sich Versuchungen zu manipulieren entziehe. Denise Schlatter-Hosig betonte: "„Wir machen nichts Neues, aber wir machen’s neu".“ Mit dem New Yorker Pfarrer Timothy Keller definierte sie missionale Kirche als Gemeinschaft, der „"Probleme anderer Menschen“" den Weg weisen. Rolf Mauch, Pfarrer der gastgebenden Gemeinde Zürich-Hard, erzählte vom Neuanfang in ihr und gestaltete eine Besinnung in Form der lectio divina.

Nach dem Zeitalter Konstantins
Die Organisatoren der Tagung gaben Impulse aus den USA und China. Die Christen hätten das Vorrecht, das Evangelium, die heilbringende Nachricht, miteinander zu verleiblichen. Kirche sei heute als Bewegung auf dem Weg zu verstehen, sagte der Afroamerikaner Otis Moss III aus Chicago. "„Denn Jesus war in Bewegung"“. Der Pfarrer der reformierten Trinity United Church of Christ, der von der Zürcher Kirche eingeladen worden war, appellierte an die Teilnehmenden, sich als "„Teil einer Bewegung, nicht einer Institution"“ zu sehen. Statt den Machtlosen zu dienen, sei Kirche zu einer Machtinstitution geworden; nun hätten Christen dem Ende des Staatskirchenzeitalters, das Konstantin im 4. Jahrhundert einläutete, Rechnung zu tragen. Der Dienst an den Menschen dürfe nicht ans Gebäude gebunden sein: "„go where the need is"“: Es gilt, Menschen in ihren Bedürfnissen aufzusuchen.

Fragen, die allein die Kirche beantworten kann
Mission ist ansteckende Liebe, rief Otis Moss, der Sonntags 6'000 Personen in seinen Gottesdiensten hat. Er erinnerte daran, wie Jesus Männer und Frauen in die Nachfolge rief. Die heutige Generation stelle Kirche grundsätzlich in Frage -– und stelle zugleich Fragen, die allein die Kirche beantworten könne. Wie kommt sie mit säkularer Konkurrenz zurecht? Für Moss liegt es nahe, von ihr zu lernen -– etwa von Starbucks. Die Kette habe Erfolg, weil sie der Kirche viel abgeschaut habe und eine Mission verfolge: den Kunden nicht bloss Kaffee zu verkaufen, sondern ein Erlebnis und Gemeinschaft zu bieten. „"Die alte Kirche war ein Ort, an dem sich Leute verbanden. Die Kirche heute braucht dringend Evangelisation, bei dem dies geschieht"“ (true human connection). Liebe und Gerechtigkeit müssten miteinander zum Tragen kommen, sagte der Referent aus Chicago mit Blick auf die boomende Kirche im globalen Süden. Liebe ohne Gerechtigkeit sei sentimental, Gerechtigkeit ohne Liebe könne brutal werden. Jesus habe die beiden modellhaft verbunden.

Die Botschaft nicht keimfrei präsentieren
Otis Moss plädierte für einen Gemeindebau, der die Menschen in ihrer "„ganzen unvollkommenen Menschlichkeit"“, mit Narben und Schwächen, ernst nimmt. „"Wir haben die Neigung, das Evangelium keimfrei zu machen".“ Dabei wimmle es in der Bibel von zerbrochenen und versehrten Charakteren mit schweren Fehltritten. Wird ihre Widersprüchlichkeit ausgeblendet, verpassen Christen laut Moss das Geheimnis, dass Gott Menschen in Dienst nimmt, die zerbrochenem Geschirr gleichen. Im globalen Süden wachse die Kirche durch einen "„tiefen, bleibenden Glauben in die Kraft Gottes im Leben der Menschen, durch Gebet und Gemeinschaft“". Im Glauben verbunden, könnten Christen die Grossstadt fürs Evangelium beanspruchen, rief Moss in den Saal –- "„wir sind das einzige Evangelium, mit dem die Menschen in Kontakt kommen“". (Im Interview erzählte Moss, dass Kirchen miteinander dem Supermarktkonzern Walmart, der bei ihnen bauen wollte, Bedingungen stellten.)

Anbetung mit Gaben aller Art
Nichts sei so subversiv wie die Liebe, sagte der schwarze Pastor, dessen Eltern von Martin Luther King getraut wurden. Die Trinity-Gemeinde gestaltet, was Moss „"360-Grad-Anbetung"“ nennt: Kreativität in allen möglichen Formen kommt zum Zug, Menschen können ihre künstlerischen Talente in den Gottesdienst einbringen. Die Gemeinde gebe Musikern Raum. "„Wir haben so viele unglaubliche Ressourcen".“ Die Kirche sei darin einzigartig, dass sie dies tue und zugleich auf die existentiellen Bedürfnisse von Menschen eingehe. Laut Moss besteht grosses Verlangen nach Räumen von Frieden, Liebe und Gerechtigkeit -– damit sei Kirche auch für Junge attraktiv. „"Wir haben die erdige, dreckige Geschichte von Menschen und dem liebenden Gott zu erzählen, nicht die keimfreie Version".“

Licht nach der Finsternis in China
Die Zürcher Kirchenrätin Irene Gysel berichtete von grossen, wachsenden evangelischen Gemeinden im Reich der Mitte. Die registrierten Gemeinden der Drei-Selbst-Bewegung hören Predigten, die eine Stunde oder länger dauern. Warum werden so viele Chinesen Christen? Für die SF-Redaktorin, die den Pfingstgottesdienst 2011 einer Gemeinde in Nanjing aufnehmen konnte, hat es damit zu tun, dass die Menschen mehrfach Totalzusammenbrüche erlebten, zuletzt die Kulturrevolution nach 1966, und alles verloren. In einer Gesellschaft, die seit Mao den Paaren ein Kind verordnet, erweise sich die Kirche (Brüder und Schwestern!) auch als Familienersatz. In ihr könnten sich Menschen mit ihren Talenten entfalten. Offensichtlich verleihe die Kirche den Menschen etwas, das sonst niemand zu geben vermöge.

"Wo ist unsere Freude geblieben"?“
Irene Gysel verschwieg nicht, dass der registrierten Kirche Grenzen gezogen sind und ihre Aussenkontakte streng überwacht werden. Dass die Behörden in einem Neubauquartier den Bau einer Kirche fördern, zeigt, dass sich die Partei von ihr einen Nutzen für den sozialen Zusammenhalt ausrechnet. Der hiesigen Kirche stellte Irene Gysel aufgrund ihrer China-Erlebnisse die Fragen: "„Wo ist unsere Freude geblieben? Wo freuen wir uns hinzugehen? Haben wir noch irgendwo Glut"?“ Auch kleine Gemeinschaften sollten sich freuen, Gottesdienst zu feiern –- ungeniert. "„Wir müssen sehen, dass die kleine Freude durchgetragen wird –- damit irgendwann wieder einmal Feuer entstehen kann".“

Fürs Echte offen werden
Ralph Kunz plädierte für sorgfältig-engagierte landeskirchliche Evangelisation angesichts zahlreicher Abwehrreflexe und Klischees. Als Teenager erlebte er in Zürich-Seebach charismatische Gottesdienste -– und ein Kirchenvolk, „"das nicht wollte, dass etwas lebt. Was echt war, löste derartige Widerstände aus".“ Der Professor für praktische Theologie an der Uni Zürich wandte sich gegen Rezepte: „"Wir kommen nicht zum Glauben durch Tipps und Tricks".“ Evangelisation hat im Blick, dass Menschen "„zur Fülle des Lebens kommen, begeistert werden und den Glauben teilen wollen -– und da haben wir ganz unterschiedliche Geschichten".“

Angst vor dem Verlust der Eigenständigkeit –- Menschen fürchten, zu einem Kinderglauben zurückgeführt und eingepfercht zu werden -– sei verbreitet, sagte Kunz. Doch die Begegnung mit Nikodemus zeige, dass der Superevangelist Jesus eben diese Widerstände erlebte! Er habe Ängste auch provoziert, "“indem er denen, die am längeren Hebel sassen, klar machte, dass sie den Kürzeren ziehen"“. Christen sollten darauf achten, beim Evangelisieren Lernende zu bleiben. "„Wir haben die Chance, auch in unserer Kirche neu zu beginnen".“ Dies schreibt Kunz auch seiner Theologischen Fakultät ins Stammbuch.

Evangelisation als Herrschaftswechsel
Im Römerreich war die Geburt des neuen Kaisers eu-angelion, gute Botschaft. Evangelium heisse Herrschaftswechsel, hielt Kunz fest: „"Ich kann nicht evangelisieren, wenn ich nicht den Mut habe, meine Cäsaren vom Thron zu stürzen und mich von ihnen zu befreien".“ Christen müssten den Mut aufbringen, „"einige goldene Kälber zu stürzen, heilige Kühe zu schlachten"“. Mit Jesaja 55,6-13 und Rembrandts Bild vom Vater mit dem heimgekehrten Sohn unterstrich Ralph Kunz, dass es Gott selbst ist, der evangelisiert, und dass dabei Freude im Himmel aufkommt. Freude, die sich irdisch spiegelt: „"Menschen sind Botschafter geworden, haben mir etwas von sich –- und Freude –- weitergegeben".“ Der Theologieprofessor schloss mit dem Aufruf an die Anwesenden, in der Gemeinde ein „"Zelt der Begegnung“" zu errichten, wo Gottsucher ihn finden und sich anzünden zu lassen.

Die Tagung rundete ein Gottesdienst mit Otis Moss ab. Der Pastor stellte die Liebe vor Augen, die Jesus gelebt hatte: nicht die in tausend Songs geträllerte sentimentale Liebe, sondern eine Liebe, die Menschen erlöst, befreit und verwandelt. Liebe mit einer vertikalen und einer horizontalen Dimension. „"Jesus will Gerechtigkeit und Heil für Menschen und Welt, Brot für die Hungernden, Freiheit für die Gefangenen".